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Chargesheimer-Stipendiatin
"Zwischen Sehnsucht und Melancholie"

Den Niedergang des Tourismus in der Türkei hat die Künstlerin Şirin Şimşek in ihrem Video "Hüzün" in tristen Bildern eingefangen. Heute erhält sie das Chargesheimer Stipendium der Stadt Köln. In der türkischen Kultur sei "Hüzün" etwas Positives, "etwas zwischen Sehnsucht und Melancholie", sagte Şirin Şimşek im Dlf.

Şirin Şimşek im Corsogespräch mit Thekla Jahn |
    Die Filmkünstlerin Şirin Şimşek, eine junge Frau mit Brille und Pudelmütze, sitzt im Studio des Deutschlandfunks in Köln und schaut freundlich in die Kamera
    Şirin Şimşek ist frischgebackene Stipendiatin des Chargesheimer Stipendiums der Stadt Köln (Deutschlandradio / Kerstin Janse)
    Viele Jahre war die türkische Riviera heiß begehrt - gerade auch von deutschen Urlaubern gern angesteuert -, doch durch die politischen Entwicklungen nach dem Putschversuch im Sommer 2016 ist der Tourismus in der Türkei fast zum Erliegen gekommen. Soweit die groben Fakten. Was bedeutet das aber für die Menschen, die Region? Diesen Fragen kann man nur dann nachgehen, wenn man sich einlässt, wenn man erlebt, mitfühlt, wirken lässt. Die Künstlerin Şirin Şimşek hat das getan. Mit ihrem Film "Hüzün", der ab morgen in Köln zu sehen ist bei der Ausstellung der diesjährigen Chargesheimer-Stipendiaten. Und zu denen gehört Şirin Şimşek, die bei mir im Studio ist.
    "Hüzün hat auch seine Berechtigung"
    Thekla Jahn: Hallo, schön, dass Sie da sind.
    Şirin Şimşek: Hallo. Vielen Dank für die Einladung.
    Jahn: Herzlichen Glückwunsch erst einmal zu dem Stipendium für Medienkunst der Stadt Köln.
    Şimşek: Danke.
    Jahn: Sie sind in Köln geboren und aufgewachsen, haben familiär aber türkische Wurzeln. Und ihr Film "Hüzün" spielt in der Türkei. Vielleicht zunächst zum Verständnis von "Hüzün". Ich habe das im Wörterbuch nachgeschlagen, auf deutsch heißt das "Trübsinn", "Schwermut", "Melancholie". Aber "Hüzün" – habe ich dabei festgestellt -, scheint ein häufig verwendetes Wort in der türkischen Sprache zu sein, das oft von Künstlern und Schriftstellern verwendet wird. Ist "Hüzün", diese Melancholie, ein Teil der türkischen Seele?
    Şimşek: Ich denke, schon. Melancholie ist ja in Deutschland schon ein bisschen, ich würde sagen, nicht negativ behaftet, aber doch eher kurz vor der Depression. Und in der türkischen Kultur ist "Hüzün" auch was Positives, also dass man … Wie so eine Art Sehnsucht, eigentlich. So eine Sehnsucht mit so einem bisschen Melancholie, aber das ist ja auch eigentlich schön, wenn man so was empfinden kann. Das hat auch eine Berechtigung, da zu sein. Und "Hüzün" ist eigentlich auch ein, ja, also ich würde sagen, es ist etwas zwischen Sehnsucht und Melancholie.
    Spaziergänge mit allen Sinnen
    Jahn: So ist auch Ihr Film – der ist knapp 12 Minuten lang und er hat wunderschöne Bilder. Er beginnt mit einer Totalen von einer idyllischen kleinen Hafenbar mit ihren Gästen, die in der Dämmerung draußen an Tischen am Kai stehen, schemenhaft sind Fischkutter zu erkennen. Das Ganze sieht aus wie eine Theaterszene, wohl inszeniert, wie viele Einstellungen bei Ihnen auch im Film. Da sind zum Beispiel drei Hunde auf einer Mauer der Strandpromenade über den leeren Sonnenliegen – das sieht wunderbar aus. Oder ein Dutzend zusammengeklappter Sonnenschirme - die sind wirklich wie choreografiert. Haben Sie einfach nur ein gutes Auge – Sie sind ausgebildete Fotografin – für ein Bild, das bereits da ist, das existiert? Oder inszenieren Sie wirklich?
    Şimşek: Ich will jetzt nicht von mir selber sagen: Ach, ich habe so ein supergutes Auge, aber ich würde schon sagen, ich habe ein Auge für Komposition. Und ich sehe Dinge, und dann reagiere ich darauf und möchte das natürlich direkt mit der Kamera festhalten. Und bei mir ist es so in der Arbeitsweise, dass ich generell oft so schlendere oder rumlaufe, spazieren gehe – und halt mit allen Sinnen. Und wenn ich etwas sehe, dann – meistens habe ich meine Kamera dabei und halte dann drauf. Und am Anfang weiß ich noch nicht, ob ich etwas benutze. Aber hinterher macht es dann doch Sinn, und ich kann es verwenden.
    Wir haben noch länger mit Şirin Şimşek gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Jahn: Neben diesen schönen Bildern, die man sieht, sind natürlich auch viele, die sehr traurig, sehr trist wirken: von verwaisten Swimmingpools, von einsamen Matschstraßen, Regenschauern auf Plastikstühlen, vereinzelten Touristen, die man so sieht, in Ruinen, im Hammam. Dazu hört man dann die türkische Saz und manchmal auch die Darbuka-Trommel - immer nur ganz kurz, als Akzent, mehr nicht. Das unterstreicht ebenso wie die Windgeräusche, die man hört, oder Wasser wirklich diese Einsamkeit, das Grundgefühl dieses Films, diese Verlorenheit. Und dann hört man ganz plötzlich aus dem Off Ihre Stimme, auf die Bilder einer Atatürkstatue. Und da geht es um Nationalstolz, um den Stolz, Türke zu sein.
    Şimşek: Ich spreche dort den Leitsatz von Atatürk, der eine ganze Zeit in der Türkei, in den Grundschulen, vor Schulbeginn neben der Nationalhymne gesprochen wurde. Einer hat es vorgesagt, und die Klasse hat es dann nachgesprochen, den Eid Atatürks. Der wurde aber seit 2013 dann doch aus dem Programm genommen, weil es vielleicht Minderheiten nicht respektiert und deswegen? Und ich versuche halt, mit diesem Eid so ein bisschen diese – das haben Sie ja schon eben erwähnt, dass ich ja türkische Wurzeln habe, aber hier geboren bin. Das ist halt immer generell ein … nicht ein Identitätsproblem, würde ich sagen, aber man beschäftigt sich mit der Frage: Okay, inwieweit kann ich mich eigentlich mit einem Land identifizieren, in dem ich nicht geboren und aufgewachsen bin? Und natürlich habe ich ja die deutsche Kultur auch mit aufgesogen. Ich spreche türkisch – mein Türkisch ist jetzt nicht so gut, ich habe auf jeden Fall einen deutschen Akzent, das kann ich zugeben. Ich spiele damit, versuche praktisch, in diese Rolle mal reinzuschlüpfen und das mal nachzuempfinden.
    Mit "Tinder" Grenzen überwinden
    Jahn: Das ist ein bisschen die Zerrissenheit – zwei Seelen in einer Brust. Jetzt finde ich ganz interessant, dass Sie bei Ihren Arbeiten – und das sind Arbeiten aus den vergangenen Jahren -, zum Beispiel "Der Retter bist Du", das war ein Fotobuch, wo es um Ihre Großfamilie, eine zehnköpfige Familie geht, mit kleinen Texten. Sie haben einen Kurzfilm vor zwei Jahren gemacht, der ist sehr spannend: "Matchpoint". Da geht es um dieses Datingportal "Tinder", da sieht man Porträtfotografien, die man dann einfach wegwischen kann – und das ist einfach nur eine One-Shot-Aufnahme. Das sind alles Filme, wo man das Gefühl hat, es geht Ihnen weniger um den Dialog, weniger um das gesprochene Wort. Aber Sie wollen etwas vermitteln, ein Gefühl, einen Grundeindruck, eine ganz eigene Formensprache. Wie kommen Ihnen diese Ideen dazu?
    Şimşek: Mit "Tinder" war das so, dass ich … also, ich finde das halt irgendwie so faszinierend und absurd einfach, dass diese Form des Kennenlernens, dass man so auf Knopfdruck wie auf Bestellung, also wie wenn ich im Internet auf meinem Handy etwas bestelle dann irgendwie mir den Traummann bestelle. Also, die Art finde ich so ein bisschen absurd. Und dann hatten wir mit einem Seminar mit Phil Collins eine Reise unternommen ins palästinensische Autonomiegebiet Ramallah. Und dann habe ich halt gedacht: Okay, hier macht es eigentlich Sinn, das mal zu benutzen, weil wir ja an einem Ort waren, der durch eine Mauer begrenzt ist und die Personen, die dort leben, nicht so einfach auf die andere Seite, auf die jüdische Seite gehen können oder wechseln können manchmal. Und da dachte ich, ist es ganz interessant, zu schauen: Wenn ich die Entfernung jetzt bei "Tinder" so einstelle, dass ich ich praktisch über der Mauer bin und mit Menschen über der Mauer halt kommuniziere. Und da war das eigentlich super, perfekt.
    Jahn: Wie schwierig ist es für Sie, als Künstlerin in diesem Bereich? Ihr bisheriges Werk ist zwischen Fotografie, Film, Video angesiedelt. Wie schwierig ist es, da als Künstlerin Fuß zu fassen? Das ist ja kein einfacher Bereich.
    Şimşek: Ich gehe einfach meinen Interessen natürlich nach. Und man muss auch immer von Projekt zu Projekt sich durchhangeln. Man kann ja nie wissen, wie das Leben sich entwickelt. Also, dann habe ich erst kürzere Videos gemacht und "Hüzün" ist praktisch mein erster längerer Film. Ich meine, es ist immer noch ein Kurzfilm, aber so ein längerer Film.
    Jahn: Herzlichen Dank. Die Künstlerin, Fotografin, Filmemacherin Şirin Şimşek. Danke Ihnen, dass Sie bei uns waren. Ihr neuer Film "Hüzün" ist in einem eigenen Ausstellungsraum in Köln zu sehen – ab morgen bis zum 23. Dezember in der Artothek in Köln.
    Şimşek: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.