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Charisma und Gott

Das Starsystem ist eines der grundlegenden Kennzeichen unserer Mediengesellschaft. Die Affekte der Massen fließen in quasireligiöser Emphase Popstars und Politikern gleichermaßen zu. Und am Ende ist Robbie Williams so unsterblich wie Jesus, Barack Obama ist ein Erlöser, Michael Jackson ein Heiliger.

Von Svenja Flasspöhler |
    Die Zuschreibung von Charisma ist längst zum inflationären Dekor von Personality jedweder Art geworden. Doch lässt sich charismatische Ausstrahlung tatsächlich medial herstellen?

    In seinem griechischen Ursprung heißt Charisma "Gnadengabe". Der Soziologe Max Weber hat den Typus der "charismatischen Herrschaft" im Sinne von Außeralltäglichkeit eingeführt.

    Wie aber unterscheidet sich die "Gnadengabe" von einer ausgefeilten Selbstinszenierung? Warum werden auch Tyrannen als charismatisch bezeichnet, Frauen dagegen eher selten? Und wie behauptet sich Charisma in der künstlichen Glamour-Welt des Pop?

    In unserer dreiteiligen Reihe "Gnadengabe oder Inszenierung? - Versuche über Charisma" geht es im ersten Essay um "Charisma und Gott". Autorin ist die freie Berliner Publizistin Svenja Flasspöhler.

    Charisma und Gott
    Von Svenja Flaßpöhler

    Gnadengabe. Das ist die Bedeutung des griechischen Wortes Charisma. Metaphysisch umweht ist dieser Begriff - nicht zuletzt da er, wir werden darauf zurückkommen, in der jüdisch-christlichen Tradition jene Gabe bezeichnet, die dem Menschen durch den Heiligen Geist zuteil wird. Wer Charisma besitzt, ist von Gott beschenkt, er ist, wie man so sagt, begnadet oder auch: begabt. Talentiert also? Ist es das, was wir meinen, wenn wir sagen, dass jemand charismatisch sei? Dann allerdings müsste streng genommen jeder begabte Fußballspieler, sagen wir zum Beispiel: Kevin Kuranyi, Charisma besitzen. Doch so kunstvoll der Mittelstürmer auch mit dem Ball umgeht - Charisma wird man ihm kaum zusprechen. Charismatiker haben eine faszinierende Ausstrahlung, sie wirken anziehend und gleichzeitig ausgesprochen Ehrfurcht gebietend, ja, geradezu erhaben; und wie profan nimmt sich gegen eine solche - man möchte sagen: Auserwähltheit - jede noch so herausragende Dribbelkunst aus! Talent ist demnach als Charakteristikum für Charisma zu unspezifisch. Die Frage wäre: Welches Talent zeichnet den Charismatiker aus? Was genau hat Gott ihm geschenkt? Werfen wir, um uns dieser Frage anzunähern, zunächst einen Blick in das Wörterbuch der Soziologie, in dem Edward Shils das Charisma wie folgt definiert:

    Charisma wird als geistige Qualität gehandelt, obwohl sich seine Existenz aus der Aktion bestätigt. Und wirklich, das Ausführen gewisser Handlungen - vor allem das wirksame Ausüben von Autorität - wird oft als entscheidender Beweis dafür betrachtet, daß der Handelnde über charismatische Qualitäten verfügt. Die charismatische Eigenschaft wird von denen, die darauf ansprechen, als eine intime Verbindung mit "ernsthaften" Dingen betrachtet, als intime Verbindung mit Göttlichkeit, mit dem Seinsgrund, mit Lebens- und Schöpferkraft und mit den höchsten Kräften und der rechten Ordnung in Universum und Gesellschaft. [...] Charisma wird großen Persönlichkeiten zugeschrieben, die durch ihre zwingende Kraft oder durch ihre ungetrübte, gelassene Ausstrahlung Überlegenheit zeigen.


    Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum wir nicht so sehr Sportler, sondern viel eher Politiker, Künstler oder Intellektuelle als charismatisch wahrnehmen - zeichnet sich der Charismatiker doch, so Shils, durch eine dezidiert geistige Qualität aus. Körperliche Fertigkeiten beziehungsweise rein äußerliche Vorzüge sind der charismatischen Wirkung zwar sicherlich in dem einen oder anderen Fall zuträglich - man denke nur an Barack Obama, dessen gewinnende Ausstrahlung von seiner Attraktivität kaum zu trennen ist. Dennoch lässt sich das Charisma keinesfalls an Äußerlichkeiten festmachen. Der französische Intellektuelle Jean-Paul Sartre zum Beispiel galt trotz seiner wulstigen Lippen, den dicken Brillengläsern und seiner gedrungenen Statur als charismatisch. Angesichts solcher Beispiele meint auch die Politikwissenschaftlerin Christina Georgieva

    ... daß es unmöglich ist, ein einheitliches Bild körperlicher Kennzeichen zu entwerfen, da charismatische Führer allzu unterschiedliche körperliche Eigenschaften aufweisen. Ist es bei einem Teil der für charismatisch gehaltenen Personen die "attraktive äußere Erscheinung", die charismatisch wirkt, sind es bei einem anderen Teil gerade die "pathologischen Züge", die eine charismatische Anziehungskraft entfalten.


    Festzuhalten bleibt also, dass Charismatiker sich nicht primär durch ihre Körperlichkeit, sondern ihren Geist auszeichnen - und darüber hinaus, so besagt die Definition von Edward Shils, durch Autorität. Dass ein Mensch, der Autorität, also Macht besitzt, überaus gute Chancen hat, als charismatisch bezeichnet zu werden, leuchtet unmittelbar ein - lässt sich doch der Eindruck des Erhabenen hinter einem schweren, ehrerbietenden Mahagonischreibtisch oder gar auf einem Thron sitzend ganz offensichtlich wesentlich leichter herstellen als bei Aldi hinter der Kasse. Dennoch scheint die Macht kein hinreichendes Kriterium für eine charismatische Ausstrahlung zu sein, denn der Mächtige kann seine Macht auch ohne jede Tiefe ausüben, wie ein kleines Kind geradezu. Der Charismatiker hingegen ist nicht kindlich, nicht oberflächlich, nicht auf Effekt bedacht, sondern er unterhält, so behauptet Edward Shils, eine tiefe Verbindung zur Göttlichkeit und zum Wesen der Dinge. Heißt das also, dass der Charismatiker sich durch Weisheit, ja womöglich sogar Moralität auszeichnet? Konzentrieren wir uns zunächst auf die Weisheit und werfen einen Blick ins Neue Testament, genauer: in den 1. Korintherbrief, in dem die Gaben Gottes an die Menschen näher definiert werden. Dort heißt es:

    Dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen.

    Dem christlichen Verständnis zufolge gehört die Weisheit also ganz explizit zu den Gnadengaben Gottes. Beziehungsweise genauer: Die Gnadengabe besteht darin, von der Weisheit zu reden. Das ist natürlich ein Unterschied - denn über Weisheit zu sprechen heißt noch nicht, sie tatsächlich auch zu besitzen. Überhaupt ist an dieser Bibelstelle auffällig, wie sehr die Rede - die Rede über Weisheit, die Rede über Erkenntnis, die prophetische Rede und die Zungenrede - im Vordergrund steht. Besteht das Talent des Charismatikers also womöglich in seiner Sprachbegabtheit? Das liegt nun in der Tat zunächst einmal sehr nahe. Wenn es nämlich stimmt, dass Charisma eine geistige Qualität bezeichnet und sich, zweitens, der Geist, was nur schwerlich bestreitbar ist, primär durch Sprache, das heißt den Logos offenbart - dann scheint Charisma ohne eine wie auch immer geartete rhetorische Fähigkeit tatsächlich undenkbar zu sein. So schreibt der Tübinger Rhetorikprofessor Gert Ueding:

    Einen Hinweis darauf liefert sogar heute noch die ganz gewöhnliche Erfahrung, die jeder von uns schon gemacht hat, dass die Wirkung einer Person, ob wir sie nun als begeisternd oder (unscharf und vorläufig) als charismatisch bezeichnen wollen, sogleich verfliegt, wenn sie, wie man landläufig sagt, den Mund auftut und damit kundgibt, dass ihre rednerische Fertigkeit nur rudimentär ausgebildet ist.

    So weit so gut. Andererseits: Was sagt es über einen Menschen aus, wenn er im Gespräch brilliert oder eine faszinierende Rede hält? Um noch einmal auf die Weisheit zurückzukommen: Was, wenn ein Redner die Weisheit lediglich anpreist, ohne selbst weise zu sein? Oder wenn er seine vermeintliche Weisheit nur rhetorisch inszeniert? In seinem Brief an die Korinther sieht tatsächlich auch der Apostel Paulus diese Gefahr - und erklärt, um ihr vorzubeugen, die Liebe zum notwendigen Bestandteil einer jeden Gottesgabe.

    Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre mir`s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu. Sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an Wahrheit [...].

    Paulus zufolge ist die Liebe also gewissermaßen die Garantin für Authentizität - und damit gleichzeitig auch für Moralität. Nur wer Liebe in sich trägt, spricht nicht in leeren Worthülsen und hat Gutes im Sinn. Und nur wer in seiner Rede in diesem zutiefst moralischen Sinne wahrhaftig, das heißt glaubwürdig ist, hat tatsächlich eine Gottesgabe erhalten. Wie ist dann aber zu erklären, dass durchaus auch Tyrannen als charismatisch wahrgenommen werden? Nehmen wir zum Beispiel Adolf Hitler: Die Massen lagen ihm doch ganz offensichtlich zu Füßen, ja, sie gerieten geradezu in Ekstase, wenn er sprach. Gert Ueding allerdings hält die Annahme, dass auch Tyrannen Charismatiker sein können, schlichtweg für ein Missverständnis. Charisma, so Ueding, berge nämlich schon begriffsgeschichtlich eine zutiefst ethische Dimension in sich:

    Nach offenbar unstrittiger Auskunft von Altphilologen, Religionskritikern und Kunstgeschichtlern bezeichnete das Wort chara für die Griechen schon zu Homers Zeit die Freude, die aus dem Wohl der Gemeinschaft erfolgt, der man angehört, und die Chariten waren die Stadtgöttinnen, die das Gedeihen der Gemeinde garantieren sollten [...] [S]ie schenken das Gelingen ebenso wie die Freude darüber, beides sind gemeinschaftliche Ereignisse, in Frohsinn und harmonischem Verhältnis des Volkes begründet.

    Wer von den Chariten beschenkt war, dem, meint Ueding, gelang es im dynamischen Wechselspiel mit der Gemeinschaft, diese durch seine Rede zu begeistern. Nicht auf Zwang oder Unterdrückung, sondern auf Freiwilligkeit und dem sozialen Miteinander innerhalb der Polis habe die entflammende Wirkung der Rede beruht - und insofern, so Gert Ueding, sei die charismatische Rede von einer demagogischen klar unterscheidbar:

    Stadtgottheiten waren die Chariten und damit schon immer untrennbar vom Gemeinwohl, so dass die Charis des Redners [...] aus dem spontan aktualisierten Rückbezug auf die sozialethische Autorität der Polis ihre Überzeugungskraft gewinn[t]. Dieser Rückbezug eröffnet zugleich die Möglichkeit, die Wirkung des wahren Redners von derjenigen des Demagogen zu unterscheiden, denn auch dieser ‚müsste, um wirkungsvoll überreden zu können, eine gemeinsame Handlungsperspektive anbieten und diese vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der Polis plausibel machen.' [...] Gelingt ihm das auf Dauer nicht auch in seiner ethischen Dimension, wird er sich selber als Täuscher und Blender entlarven.

    Doch hat nicht auch ein Demagoge wie Adolf Hitler vor dem Hintergrund des völkischen Selbstverständnisses eine, wie Ueding es nennt, "Handlungsperspektive" angeboten? Indem er diejenigen, die nicht zum nationalsozialistischen Selbstverständnis passten, ausschloss und ermordete, war er durchaus in der Lage, im Rückbezug auf sein Volk Überzeugungskraft zu gewinnen. Dass eine Rede auf das so genannte Wohl der Gemeinschaft abzielt, bedeutet daher noch nicht, dass sie auch in ethisch wertvoller Absicht gehalten wird - steht und fällt der ethische Wert doch damit, wie sich diese Gemeinschaft selbst begreift. Und auch die Liebe, welche dem Apostel Paulus zufolge die Voraussetzung für Charisma ist, verbürgt bei genauerem Hinsehen noch lange keine moralische Haltung. Liebe ist mitnichten moralische Kategorie, sondern, um es mit dem Pflichtethiker Immanuel Kant zu sagen, eine "Neigung" - und auf Neigungen, die höchst individuell ausfallen, lässt sich keine Moral gründen. Welche Verbrechen haben Menschen schon aus Liebe begangen! Liebe, so heißt es im Korintherbrief, freut sich an Wahrheit - was aber ist Wahrheit? Welche Wahrheit ist gemeint?

    Der geistige Führer des Iran, Ayatollah Ruhollah Chomeini, hat durchaus im Einklang mit seiner fundamentalislamischen Wahrheit gehandelt, als er die Fatwa über Salman Rushdie aussprach; und hätte Chomeini nicht auch von sich behauptet, dass er aus Liebe handelt? Aus Liebe nämlich zu Gottvater Allah und allen gläubigen Muslimen. Charisma, so scheint es demnach, existiert von jeglicher Ethik abgekoppelt: Der Charismatiker kann, muss aber nicht das wie auch immer geartete objektive ‚Gute' im Sinn haben, wenn er handelt - sondern er muss lediglich von seinen Anhängern als gut empfunden werden. Das meint auch der berühmte Soziologe Max Weber, der Anfang des 20. Jahrhunderts den Grundstein für die Charisma-Forschung legte. In seinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft unterstreicht er die ethische Neutralität des Charisma, wenn er diesen Begriff wie folgt definiert:

    Charisma soll eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesegnet oder als vorbildlich und deshalb als "Führer" gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus "objektiv" richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich begrifflich völlig gleichgültig; darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den Anhängern, bewertet wird, kommt es an.

    Nicht moralische Integrität, sondern Außeralltäglichkeit zeichnet Weber zufolge den Charismatiker aus. Was aber ist mit Außeralltäglichkeit genau gemeint? Und wie hängt diese Außeralltäglichkeit mit der gerade diagnostizierten Sprachbegabtheit des Charismatikers zusammen? Wenden wir uns, um dieser Frage nachzugehen, noch einmal dem Nationalsozialismus und Adolf Hitler zu. So heißt es in einem Augenzeugenbericht aus dem Jahre 1932:

    Von allen Rednern, die sich zur Zeit vor deutschen Massen produzieren, ist Hitler wohl der rasendste Kämpfer. Ein, zwei Stunden lang steht auf dem Podium ein gesalbter Prediger, gelegentlich einen Essigtropfen Witz in das Öl mischend. Ein Mann mit Gedanken, dem man gut zuhören kann, bei dem man aber auch - Verzeihung - schlafen kann. Aber dann fährt es in ihn. Dann schießt die mittelgroße Gestalt hinter dem Podium auf und nieder; dann gehen die Hände durch die Luft mit Gesten, die zwar bilderarm sind, das Gesprochene nicht untermalen, aber vorzüglich den Seelenzustand des Redners ausdrücken und in die Hörer hineintreiben. Wenn in einer Anklagerede der Zeigefinger raubvogelartig auf die Hörer niederstößt, fühlt jeder einzelne sich für die Sünden der deutschen Nation verantwortlich. Das macht: der Mann auf dem Podium erörtert nicht mehr, sondern liefert eine Schlacht.

    Ein guter Rhetoriker im Sinne antiker Redekunst war Hitler also offensichtlich nicht. Seine Gesten untermalten nicht das Gesagte, und er argumentierte auch nicht, womit er zwei der fünf antiken Rhetorikregeln, nämlich inventio und actio, außer acht ließ. Aber Hitler verstand es offensichtlich, seinen Seelenzustand auszudrücken und damit die Massen zu erreichen, sie durch seine Unmittelbarkeit im Hier und Jetzt zu affizieren - und damit erfüllte er letzten Endes genau das, was Gert Ueding zufolge den charismatischen Redner ausmacht.

    Charis-Wirkung ist situative Wirkung, sie ereignet sich im Hier und Jetzt, und wer den glücklichen Moment verfehlt, mag sich immerhin als tugendhafter Mensch darstellen und Achtung erwerben, hinreißen und bezaubern wird er niemanden.

    Der Charismatiker scheint sich also weniger durch eine ausgefeilte Rhetorik auszuzeichnen, als vielmehr durch die Fähigkeit, sein Publikum zu erreichen, es hinzureißen, zu bezaubern. Nicht wer eine rhetorisch versierte Rede über Moral, Gottesfürchtigkeit und Weisheit hält, ist der wahrhaft Begnadete, sondern derjenige ist von Gott beschenkt, der durch seine Sprache - beziehungsweise durch seinen Seelenzustand, der sich im gesprochenen Wort offenbart - zu affizieren vermag. Dieser Zusammenhang gemahnt abermals an die göttliche Gnadengabe des Christentums. Denn Paulus zufolge besteht die höchste Gnadengabe, die ein gläubiger Christ erlangen kann, in der prophetischen Rede, und diese wiederum überbringt bekanntermaßen eine göttliche Botschaft. Aus dem Propheten spricht also niemand anderes als Gott selbst - und so haben wir auch bei weltlichen Charismatikern den Eindruck, dass sie, wenn sie sprechen, eine geradezu göttliche Wahrheit verkünden.

    Warum aber haben wir bei manchen Rednern genau diesen Eindruck und bei anderen nicht? Warum verkündet der eine Redner göttliche Wahrheiten, während der andere, wenn er seinen Seelenzustand mitteilt, lediglich auf penetrante Weise sein Innerstes nach außen kehrt? Oder anders gefragt: Was ist das Geheimnis des Charismatikers, der sein Publikum kraft seines sich in der Sprache manifestierenden Geistes zu erreichen, oder, wie man sagt, zu begeistern versteht? Lässt sich Charisma erlernen? Oder ist die charismatische Eigenschaft tatsächlich gottgegeben beziehungsweise, um es weltlicher zu formulieren, angeboren? Werfen wir an dieser Stelle noch einmal einen Blick in die Heilige Schrift - denn dem christlichen Verständnis zufolge scheint jeder Gläubige Charisma erwerben zu können, wenn er sich denn redlich bemüht. So heißt es im Korintherbrief:

    Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede!

    Der zur prophetischen Rede Befähigte muss also Paulus zufolge durchaus nicht außeralltäglich, sondern lediglich strebsam sein. Er ist angehalten, sich um die Gaben des Geistes, und allen voran um die Gabe der prophetischen Rede, zu bemühen . Bei Max Weber dagegen heißt es, dass Charisma nur "geweckt" und "erprobt", nicht aber "erlernt" oder "eingeprägt" werden könne - und damit kommt der Soziologe unserer alltäglichen Auffassung von Charisma tatsächlich näher. Charisma, so glauben wir, hat man eben oder man hat es nicht: Es handelt sich eben um eine Gabe und nicht um etwas, das man sich selbst geben kann. Der Charismatiker, so scheint es uns, drückt, wenn er spricht, seine Seele aus, er ist durch und durch authentisch. Wer dagegen etwas erlernt, bildet lediglich Fertigkeiten aus, sein Wesenskern aber wird durch diese Fertigkeiten weiter hindurchschimmern, so dass jeder Versuch, sich kraft bestimmter Verhaltensmaßregeln charismatisch zu geben, eher kläglich wirken muss. Muss das Charisma also ein Mysterium bleiben? Der Soziologe Wolfgang Lipp ist anderer Ansicht. Seiner Meinung nach besitzen Menschen nicht einfach Charisma, sondern sie entwickeln es. Lipps überraschende These lautet: Der Charismatiker schafft es, eine gesellschaftliche Stigmatisierung, das heißt im wörtlichen Sinne: ein Wund- oder Brandmal, in Grandiosität umzudeuten. Lipp schreibt:

    Wie entsteht Charisma? Das Phänomen hat mit der besonderen soziopsychischen Situation offenbar von Außenseitern, Auffälligen, Randgruppen zu tun, die unter den Druck "Schuld" zurechnender sozialer Stigmatisierung geraten; es tritt gehäuft in Zeiten wirtschaftlicher Not, politischer Zwangsherrschaft, religiöser Desorientierung zutage. Stigmatisierte versuchen, die Grenz- und Krisenbereiche, in die die Gesellschaft sie abdrängt, "dramatisch" dadurch zu durchbrechen, daß sie Schuld "selbststigmatisierend" übernehmen und zum Identitätspunkt machen. Handeln dieser Art [...] kann im Wagnis der Ächtung, in das es sich begibt, umschlagende neue Werte zur Geltung bringen; getragen von aufbrechender kollektiver Zustimmung erhält es am Ende charismatische Züge.

    Charismatiker, so Lipp, deuten ein gesellschaftliches Stigma in einen Wert, in ein Zeichen der Auserwähltheit um. Sie lassen, schreibt der Soziologe an anderer Stelle wörtlich, "‚Wundmale sozialer Züchtigung' nicht als Mängel oder Makel, sondern als Zeichen des ‚Heils' - als ‚Vollkommenheit' - erscheinen." Die religiöse Konnotation dieser Beschreibung ist natürlich unüberhörbar - hat doch Jesus Christus im wahrsten Sinne Stigmata, das heißt Wundmale davongetragen und sie in ein Zeichen des Heils verwandelt. Lipp schreibt:

    Indem er starb, hat er nicht sich, sondern die Justiz, die Mächte dieser Welt "kriminalisiert". Das Kreuz, das er auf sich nahm, sollte die Welt - Selbststigmatisierung erreicht hier den Gipfel - am Ende von Schuld überhaupt erlösen.

    Das Kreuz hat Jesus aber natürlich schon vor seinem Tode auf sich genommen - insbesondere, indem er sich gegen die römische Fremdherrschaft nicht wehrte, sondern, die zugeschriebene Opferrolle annehmend, Gewaltverzicht propagierte und genau damit zum Heilsversprecher wurde. Kraft seines Stigmas also konnte er die Menschen affizieren mit seinen Worten und Taten. Der Soziologe Michael Ebertz schreibt:

    Die von Jesus offerierte Sinngebung bestand offensichtlich darin, der Hinnahme und der Duldung jener mit der Fremdherrschaft gegebenen massiven kollektiven Erfahrung von Erniedrigung und Demütigung positive Züge zu verleihen - unter der Prämisse der Erwartung der Intervention Gottes in die Geschichte. Mit der Forderung zum Gewaltverzicht und mit ihrer prophetischen Sinngebung unternimmt sie es, die Ohnmacht zum politischen Handeln als Gehorsam gegenüber dem göttlichen Herrscher und Bündnispartner zu deuten. Damit prägt sie den von außen zugefügten kollektiven Makel in ein kollektives Heilszeichen um, in einen Schlüssel zu Heil und Erlösung, und wandelt somit die Not- und Leiderfahrung in Tröstung und Hoffnung um. Die Gelassenen, Gemäßigten und Sanftmütigen sind selig, ‚denn sie werden erben das Land'.

    Jesus Christus, der prophetische Führer und Verkünder des Gottesreiches - also eines, wenn man so will, zutiefst revolutionären Umbruchs. In diesem Sinne zitiert auch Max Weber, wenn er von charismatischer Herrschaft spricht, den berühmten Satz aus der Bergpredigt: "Es steht geschrieben ... ich aber sage euch". Zwar hat Jesus in seiner Predigt mit den Gesetzen der Tora strenggenommen nicht gebrochen - nichtsdestotrotz drückt sich für Weber in diesem Satz geradezu paradigmatisch die schöpferisch-revolutionäre Kraft des Charismatikers aus: Der Charismatiker hat eigene Gesetze, eigene Gebote, er bricht mit der Tradition, setzt Neues, Schöpferisches an die Stelle des Alten. Natürlich wissen wir, dass die meisten charismatischen Revolutionäre - man denke an Che Guevara oder auch den RAF-Terroristen Andreas Baader - weiß Gott nicht derart demütig und gewaltfrei wie Jesus Christus den Umbruch eingeläutet beziehungsweise vollzogen haben.

    Oder, um es mit Wolfgang Lipp zu sagen: Sie haben ihr Stigma auf andere Weise umgedeutet. Fest steht aber, dass Lipps Perspektive einen neuen, entmystifizierenden und zutiefst entidealisierenden Blick auf das Phänomen Charisma erlaubt: Ein Mensch ist nicht einfach charismatisch, sondern er entwickelt charismatische Eigenschaften, weil er ein Außenseiter, ein Stigmatisierter, ein Verwundeter ist. Ein gutes Beispiel für diesen Zusammenhang ist US-Präsident Barack Obama. So wurde vor der Präsidentschaftswahl immer wieder befürchtet, dass Obama aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe, die auch nach dem offiziellen Ende der Apartheid noch ein gesellschaftliches Stigma ist, nicht gewählt werden würde. Obama aber hat es geschafft, gerade kraft des Stigmas eine überaus positiv konnotierte Andersheit zu verkörpern. "Messias Obama: Erlöser Amerikas" titelte der Stern anlässlich seiner Wahl. Nicht Hass oder gar Abscheu erregte das Stigma, sondern es leuchtete als Zeichen der Auserwähltheit.

    Das Beispiel Obama zeigt allerdings auch, wie schwerlich die Deutung der Wunde, die Faszination und Angst gleichermaßen zu erregen vermag, vorauszusehen ist. Und insofern hat Lipp durchaus recht, wenn er bemerkt, dass der Charismatiker immer auch die Gefahr der Ächtung eingeht. Sehr eindrücklich sichtbar wird diese geradezu zitternde Ambivalenz der Wunde, und mit diesem Ausflug in die Kunstgeschichte schließt dieser Essay, in dem Gemälde Der ungläubige Thomas des italienischen Malers Michelangelo Caravaggio. Das Gemälde zeigt den auferstandenen Jesus mit klaffender Wunde in der Brust, zu der er einen Finger des neben ihm stehenden Apostel Thomas führt. Thomas nämlich zweifelt an der Auferstehung Jesu, und um ihn zu überzeugen, weist Jesus ihn auf sein Wundmal und damit auf seine Leibhaftigkeit hin. Doch das Gemälde ist hier bei genauerem Hinsehen nicht ganz eindeutig. Die Philologin Sophie Wennerscheid schreibt:

    Führt Jesus mit seiner linken Hand die schmutzige Hand des Thomas wirklich in seinen glatten und weißen, bis auf die Wunde makellos unversehrten und männlich schönen Körper ein oder hält er sie zurück ? Zieht seine rechte Hand das Gewand über die Wunde, um das Geschehen zu verbergen oder zieht sie das Gewand weg und lenkt den Blick so auf die Wunde hin? Und schaut Thomas wirklich auf die von ihm begehrte Wunde oder starrt er nicht vielmehr in angestrengter Abwehr an ihr vorbei? Die hier wahrnehmbare Gleichzeitigkeit von Begehren, Angst und Abwehr ereignet sich nicht zufällig am Ort der Wunde. Denn die Wunde ist in ihrer obszön klaffenden Form, in ihrer fleischlichen Beschaffenheit und in ihrer dunkelrot glänzenden Farbe dasjenige am und im menschlichen Körper, das unser Begehren als etwas weckt, von dem wir meinen, es uns verbieten zu müssen. An ihr wird, stärker als an anderen tabuisierten Orten sichtbar, dass sich jegliches Begehren am Nichtberührbaren und Unbegreifbaren entzündet.

    Die Wunde als tabuisierter Ort, die Wunde als das Unberührbare, Unbegreifbare: Die - im wahrsten Sinne des Wortes - Ehr-Furcht, mit der Thomas dem göttlichen Stigma begegnet, gemahnt tatsächlich an jene Mischung aus Angst und Faszination, die auch angesichts einer charismatischen Persönlichkeit empfunden wird. Und tatsächlich sind Charismatiker häufig im ganz buchstäblichen Sinne verwundet: Ist die tiefe, hässliche Narbe, die der Held über dem Auge trägt, nicht das untrügliche Zeichen seiner Heldenhaftigkeit? Das heißt seiner Außeralltäglichkeit und, da er den Kampf ja offensichtlich überlebt hat, seiner Übernatürlichkeit? Wunden schmerzen, sind womöglich sogar schambesetzt - und doch sind gerade sie es, die, indem Neues aus ihnen erwächst, Aussicht auf Heil überhaupt erst ermöglichen. Der Charismatiker jedenfalls weiß seine Wunde zu schätzen und verleiht ihr, sie ins Göttliche überhöhend, metaphysischen Glanz.