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"Charisma" – Webserie der "Volksbühne"
Menschheit 4.0

Ästhetisch angelehnt an Sitcom-Klassiker der 1980er, -90er wagt die Berliner Volksbühne mit "Charisma" ein Experiment: Interaktiv erlebbar sollen Bedeutungen, Ebenen und Mediengenres surreal durcheinander gewirbelt und gestreamt werden. Aber wozu?

Von Peter Backof |
    "Es geht um die Suche nach inhärenten und internationalen - Du weißt schon -, leuchtenden, feuchten Kolonien von Menschen, die Dein Leben verändern können, noch bevor Du geboren bist. Weißte?"
    Ach, darum geht es? In "Charisma", einem Online-Film-Experiment von Sarah M. Harrison und Wojciech Kosma sieht man - Achtung, doppelter Boden, doppelt gemoppelte Ironie - ein Reißbrett in 3-D. Auf diesem wabern, ästhetisch rudimentär gehalten, Bildfensterchen herum, die sich öffnen, zu Videos und hinein in die Lebenswelt vier junger Menschen. Die behausen, den Requisiten nach zu schließen, gemeinsam eine WG. "Fehlkommunikation" heißt die erste Episode von "Charisma": Und das kommt hin!
    "Banana who?"
    "Das spekulative System selbst-berechtigt herumlaufender, verlegener, disparater Seelen, die nur durch Bedeutung und die unerfüllten Kindheitsträume vereinigt sind."
    Klingt wie der Sermon von Ersties, die nachmachen wollen, was die Großen in den Hauptseminaren so von sich geben. Dazu wird in der WG mit dem Essen gespielt, gekleckert, geworfen, Ausdruckstanz gemacht, auf Möbeln herumgeklopft, Zeit totgeschlagen. Auch die der Zuschauer. Man hangelt sich von Video-Fenster zu -Fenster und sucht immer verzweifelter nach Plot und Identifikationsmöglichkeiten mit den zwei Mädels und zwei Jungs. Sitcom und Daily Soap, wo seid ihr? Kommen nicht. Es bleibt dabei, was die Biografie-Videos der Charakter Fin, Asher, Howy und Echo erwarten lassen: Gemeinplätze mit der Aussagekraft von Horoskopen in der Boulevardpresse.
    "Knock Knock" / "Who's there?" / "Banana" / "Banana who?" / "Orange!"
    Als Online-Film-Reihe angedacht, läuft das Experiment unter dem Namen der Berliner Volksbühne und ist - das fragt man sich - konzipiert, um ein junges Publikum den echten Brettern, die die Welt bedeuten, zuzuführen? Die Ersties, also die echten, sollen nicht mehr wie die Homies in der Charisma-WG gelangweilt auf die Sessel klopfen, sondern sich Theaterkarten besorgen? Müssten die nicht besser und generell Freikarten bekommen?
    Katharsis statt "Charisma"
    Je länger das geht, desto mehr fragt man sich, was dieser, mit Verlaub, Schmarrn soll. Da nervt die versnobt gelangweilte Art der Vier, die nichts Gescheites mit sich anzufangen wissen. Und da nervt auch die formale Umsetzung, bemüht retro und aufgepeppt mit absichtlich hineinmontierten Bildfehlern. Diese Glitch-Ästhetik soll wohl stylisch wirken, aber warum findet sie Anwendung? Offenbar, weil man es kann. Oder sollen die Bildfehler "suggerieren", als Wink mit dem Zaunpfahl, der die Welt bedeutet, dass das ganze Spiel gar nicht echt ist? Immerhin verspricht die Berliner Volksbühne hier ein surreales und interaktives Spiel mit Bedeutungen und Ebenen. Dann wäre das so etwas wie eine selbstreferenzielle Generalklatsche für die ganze Menschheit, die sich, immer smarter und smarter werdend, selbst überflüssig macht. Arbeit 4.0 produziert - umgekehrt proportional - Menschheit 4.0.
    Um dem folgen zu können, muss man aber um ganz viele Ecken denken können, wahrscheinlich auch zu viele. Sprich: Das Online-Film-Theater-Experiment funzt noch nicht so richtig. Besser ins echte Theater gehen, Katharsis abholen, weißte - da weiß man, was man hat.