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Tod des Dichters Charles Simic
Ameise mit Quäkerhut

Tief in der amerikanischen Dichtungstradition verwurzelt, hat der in Belgrad geborene Dichter Charles Simic ein Werk voller Lakonie und philosophischer Weisheit geschaffen. Nun ist er im Alter von 84 Jahren gestorben.

Von Tobias Lehmkuhl |
Charles Simic: 1938 - 2023
Charles Simic (imago / gezett)
Man ist geneigt, in autobiographischen Erzählungen großer Dichter nach Spuren früher Begabung Ausschau zu halten. Und tatsächlich: In „Die Fliege in der Suppe“, einem Buch, das Charles Simic im Jahr 2000 über seine Kindheit und Jugend in Belgrad und die ersten Jahre in den USA veröffentlicht hat, erfahren wir, dass der junge Charles lesen konnte, bevor er überhaupt in die Schule kam! Noch keine zehn Jahre alt, und schon stapeln sich neben seinem Bett Homer und Dostojewski. Und auch die Gegenwart bot ihm reichlich Stoff – die schlimmen Kriegserfahrungen, der Hunger und die Prügel.
Aber dann ist doch wieder alles ganz anders: Die Schule hasst Charles Simic von Beginn an, eine kriminelle Karriere liegt ihm weitaus näher als eine schriftstellerische. Ob der Zehnjährige fremden Menschen das Geld klaut oder seiner armen Mutter, ist ihm egal. Zielsicher sucht er sich immer wieder die zwielichtigsten Gestalten aus, um seine Freizeit mit ihnen zu verbringen - über die der Schulschwänzer reichlich verfügt. Und als Simic mit 16 Jahren nach Amerika kommt, hat auch das Lesen erstmal ein Ende. Der Vater kauft einen großen Fernseher, und dieser wird fortan nicht mehr ausgeschaltet.
„Millionen Hotelzimmer in denen der Fernseher läuft.
Ich bin nicht dort, aber ich kann es sehen.
Auf dem Bildschirm geht die „Titanic“ unter wie ein Geburtstagskuchen.
Poseidon, der Nachtwächter, hat die Kerzen ausgeblasen.“

Die wippenden Schrippen

In Belgrad, dort wo der Dichter geboren wurde, gab es keine Fernseher, nur Kinos, die Filme aus der Vorkriegszeit zeigten. Daher auch Simics Vorliebe für die Stummfilme Buster Keatons.
Die Kindheit in Belgrad schien ihm trotz widriger Umstände immer eine glückliche. „Ich kannte es nicht anders“, schreibt er, als er sich an die Bombennächte erinnert, an die miese Treffsicherheit der Alliierten, die regelmäßig die ärmsten Viertel der serbischen Hauptstadt in Trümmer legten, statt ihre Bomben über militärischen Zielen abzuwerfen. „Die Geschichte leckt sich die blutigen Mundwinkel“, heißt es entsprechend in einem seiner Gedichte, und während des Zweiten Weltkriegs hielt die Geschichte schließlich einen besonderen Festschmaus.
Die Kulinarik und ihre Metaphern liegen Simic ohnehin nah:
„Gleich nach der Liebe stehen wir
schon wieder in der Küche.
Während ich die Paprika klein hacke,
wackelt sie mit dem Hintern
und röstet die Schrippen.
„Wie gut der Wein schmeckt,
der rot aus ihrem lachenden Mund
getropft ist,
über das Kinn
auf ihre nackten Titten.
Ich werde dick, sagt sie,
und windet sich hin und her vor dem Spiegel.
Ich bin verrückt nach ihrer Schrippe,
rufe ich den Göttern dort oben zu.“

Das vermeintlich Vertraute birgt den wahren Stoff der Poesie

Physik und Metaphysik liegen bei Charles Simic seit seinem ersten Gedichtband von 1967, „What the grass says“, „Was das Grass erzählt“, nah beieinander. Einen „Mystiker des Alltags“ hat man ihn einmal genannt. Und tatsächlich findet in seinen Gedichten das Hohe und das Niedere immer wieder zusammen. Das vermeintlich Vertraute, so Simics Überzeugung, birgt den wahren Stoff der Poesie.
Damit steht er in guter amerikanischer Tradition: Emily Dickinson, William Carlos Williams und Wallace Stevens zählen zu seinen Wahlverwandten. Die Kunst der Lakonie hat er vielleicht auch von Ernest Hemingway gelernt – in Oak Park bei Chicago besuchte er die gleiche Schule wie einstmals der Nobelpreisträger. Das war 1955.
Simic sollte bald darauf bei seinen geliebten, in Gelddingen allerdings unzuverlässigen Eltern ausziehen und sich das College selbst finanzieren. Schon während dieser Zeit schrieb er, obwohl er die Sprache gerade erst gelernt hatte, seine Gedichte auf Englisch, angeblich, weil die Mädchen, vor denen er mit seinen Versen renommieren wollte, eben nur Englisch sprachen.
Serbian born writer Charles Simic, 1990 Pulitzer winner, attends 'La Milanesiana' cultural event, in Milan, Italy, Thursday, June 29, 2017. (AP Photo/Luca Bruno)
Er erinnere sich besser an seine großen Essen als an seine großen Gedanken, schrieb Charles Simic einmal. (picture alliance / AP Images / Luca Bruno)
Dieser pragmatische Geist hat für sich genommen schon etwas Amerikanisches, und so sollte Simic in den USA auch bald Erfolg haben. Er wurde Professor für kreatives Schreiben, Poet laureate, gewann nach mehreren Nominierungen 1990 den hoch angesehen Pulitzer-Preis für den Gedichtband mit dem hoffnungsvollen Titel „The world doesn’t end“, „Die Erde geht nicht unter“.
Wenn auch nicht den Nobelpreis, so erhielt er doch zwei weitere bedeutende und vor allem hoch dotierte Preise, den Griffin Poetry Prize und den Wallace Stevens Award - letzterer geht immerhin mit einem Scheck über 100.000 Dollar einher.
In den 80er-Jahren entdeckte Simic den Serben in sich wieder, paradoxerweise durch den Widerstand gegen den aufstrebenden Nationalismus des Slobodan Milosevic. Simic wurde ein so nüchterner wie leidenschaftlicher Beobachter und Kommentator der Balkan-Politik: „Tatsächlich spricht man ja immer aus/ einem frischen Haufen Leichen heraus“ heißt es in einem seiner Gedichte.

Raum des Numinosen

Die Kindheit im von der Wehrmacht besetzten Belgrad, die vielen Leichen, die er viel zu früh gesehen hat – dies alles hat Simics  lebenslange Skepsis den Willigen und den Mächtigen gegenüber befördert. Und in der Tat hinterließen diese frühen Erfahrungen vielfache Spuren in seinem Werk, so auch im Gedicht „Mein Überdruss an den epischen Verhältnissen“:
„Mir gefällt es wenn
Achilles
Umgebracht wird
Und auch sein Kumpel Patroklos -
Und der Heißsporn Hektor -
Und die ganze griechische und trojanische
Jeunesse dorée
Mehr oder weniger
Fachmännisch hingemetzelt wird
So herrscht am Ende
Frieden und Ruhe
(Die Götter halten gerade
Den Mund)
Man kann hören
Wie ein Vogel singt
Und eine Tochter ihre Mutter fragt
Ob sie zum Brunnen gehen darf
Und natürlich darf sie gehen
Auf dem lieblichen schmalen Weg
Der sich durch
Den Olivenhain windet“
Doch nicht die fernen und imaginären Olivenhaine Griechenlands waren Simics zu Hause, sondern die Straßen Manhattans. Hier trieb sich der an Schlaflosigkeit leidende Dichter herum und betrachtete die vermeintlichen Nebensächlichkeiten des Alltags. Hier überfielen ihn die „Grübeleien im Rinnstein“, wie eines seiner Gedichte heißt. „Das Gewöhnliche, der Übersehene, das vermeintlich Vertraute und der Gemeinplatz geben dem Wunder Raum“, hat Simic über die Dichtung des großen William Carlos Williams geschrieben. Dieser Satz gilt ebenso sehr für seine eigenen Werke.

Die Größe des Kleinsten

Kein Brotkrümel ist ihm zu klein, kein Regentropfen zu unerheblich, um nicht Gegenstand seines poetischen Nachdenkens zu werden. Lakonie und Witz verbinden sich dabei nie zur billigen Pointe. Münden seine Gedichte zwar häufig in ein pointenartiges Schlussbild, so ist der Aha-Effekt doch stets melancholisch grundiert und setzt die philosophische Reflexion beim Leser überhaupt erst in Gang. So ähneln seine Gedichte zuweilen Fabeln, insbesondere wenn Tiere in ihnen auftreten.
„Einsamkeit
Jaja, du denkst, niemand hört,
wie der erste Brosame
vom Tisch fällt
und am Boden aufprallt.
Aber irgendwo
setzen die Ameisen schon
ihren Quäkerhut auf
und machen sich auf den Weg.“
Er erinnere sich besser an seine großen Essen als an seine großen Gedanken, schrieb Simic. Und in einem Text, der mit dem Titel „Brief“ überschrieben ist, heißt es: „Liebe Philosophen, wenn ich denke, werde ich traurig. Geht euch das auch so?“
Man könnte das als Understatement oder Koketterie begreifen, denn zweifellos war Simic jemand, der die Welt sehr aufmerksam betrachtet hat. Nur sind seine Beobachtungen eben nie in ein philosophisches oder weltanschauliches System eingemündet. Seine Gedichte sind vielmehr ganz im Sinnlichen wurzelnde Denkbilder. Sie sind äußerst handlich, man kann sie spielerisch hin und herwenden. Und äußerst haltbar sind sie überdies.

Charles Simic: „Ein Buch von Teufeln und Göttern“
Aus dem Englischen von Hans Magnus Enzensberger
Hanser Verlag, München 1993.
144 Seiten, 13,90 Euro.
Charles Simic: „Die Fliege in der Suppe“
Aus dem Englischen von Rudolf von Bitter
Hanser Verlag, München 1997.
168 Seiten, 17,90.
Charles Simic: „Medici Groschengrab. Die Kunst des Joseph Cornell“
Aus dem Englischen von Klaus Martens.
Hanser Verlag, München 1999.
88 Seiten, 12,90 Euro.
Charles Simic: „Grübelei im Rinnstein“
Aus dem Englischen von Hans Magnus Enzensberger, Michael Krüger, Rainer G. Schmidt und Jan Wagner.
Hanser Verlag, München 2000.
136 Seiten, 13,90 Euro.
Charles Simic: „Mein lautloses Gefolge“
Aus dem Englischen von Wiebke Meier.
Hanser Verlag, München 2006.
128 Seiten, 14,90 Euro.
Charles Simic: „Die Wahrnehmung des Dichters“
Aus dem Englischen von Thomas Poiss.
Hanser Verlag, München 2007.
256 Seiten, vergriffen.
Charles Simic: „Picknick in der Nacht“
Aus dem Englischen von Wiebke Meier.
Hanser Verlag, München 2016.
278 Seiten, 22,90 Euro.