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"Charlie Hebdo"
Das Leben nach dem Anschlag

Sieben Wochen nach dem islamistischen Terroranschlag auf "Charlie Hebdo" erscheint am Mittwoch das neue Heft des Satiremagazins. Ein Zeichen, dass es weitergeht. Auch in dem Viertel, in dem die Redaktion bis zum Attentat arbeitete, ist der Alltag zurückgekehrt - auf den ersten Blick.

Von Anne Raith |
    In der Nähe des Ortes, wo bis zum Anschlag die Redaktion von "Charlie Hebdo" arbeitete, zeigen Menschen immer noch ihre Anteilnahme.
    In der Nähe des Ortes, wo bis zum Anschlag die Redaktion von "Charlie Hebdo" arbeitete, zeigen Menschen immer noch ihre Anteilnahme. (Deutschlandfunk / Anne Raith)
    Marie Ploux deutet auf den Balkon in der ersten Etage eines mehrstöckigen Hauses am Boulevard Richard Lenoir. Die Hand der 70-Jährigen steckt in einem fingerlosen weinroten Handschuh. Der Rest der kleinen Frau verschwindet in einem schwarzen Wintermantel und unter einer bunten Wollmütze.
    "Da hab ich gestanden und telefoniert, als ich plötzlich Schüsse gehört habe. Ich dachte zuerst, es seien Knallfrösche."
    Sie sei gleich hinunter gegangen, um zu sehen was los ist, erzählt sie und zeigt ein Stück weiter die Straße hinunter. Krankenwagen seien angerauscht, Polizeisirenen heulten, dann hieß es: Es gibt einen Toten. Der Polizist Ahmed Merabet, sollte sich später herausstellen.
    "Da lag er im Sterben. Das hat mich erschüttert, für mein Leben."
    Die ältere Dame schüttelt ungläubig den Kopf, ihre goldenen Ohrringe baumeln hin und her. Seit 25 Jahren wohnt Marie Ploux im 11. Arrondissement. War viele Jahre politisch aktiv, ganz links, erzählt sie. Umso schockierter sei sie gewesen, als sie wenig später von einem Freund erfahren habe: Marie, es gibt mehr als einen Toten, es hat "Charlie Hebdo" getroffen.
    "Ich habe 24 Stunden gebraucht, um mich irgendwie wieder zu beruhigen. Als ich Studentin war, war ich ein sehr, sehr großer Fan von ‚Hara'kiri', dem Vorläufer von 'Charlie Hebdo'. Sie haben uns so zum Lachen gebracht, und sie waren kämpferisch, haben für die Frauen gekämpft! Wir waren damals Komplizen. Irgendwie wurde mit ihnen auch meine Jugend getötet."
    Noch immer kommen Menschen
    Noch am gleichen Tag sei sie, wie jetzt, die paar Schritte in die Rue Nicolas Appert hinübergegangen, zur Redaktion von "Charlie Hebdo", um Blumen niederzulegen und eine Kerze anzuzünden.
    "Ein paar Tage lang bin ich immer wieder gekommen - das brauchte ich irgendwie. Die Leute waren sehr still. Viele haben geweint. Sehen Sie? Es kommen immer noch Leute."
    Ein Meer an Blumen, Briefen, Karikaturen und Kerzen ergießt sich auf dem Bürgersteig vor ihr. Inzwischen ist die Straße wieder passierbar, nur der Zugang zu den ehemaligen Redaktionsräumen ist noch immer mit Eisengittern versperrt - bewacht von schwer bewaffneten Polizisten.
    "Das hat sich auch geändert: Überall Polizeiwagen, Gendarmerie. Alles ist sehr bewacht und gesichert."
    Polizisten stehen Wache vor dem Sitz der französischen Zeitung "Libération" in Paris.
    Polizisten vor dem Sitz der französischen Zeitung "Libération" während eines Treffens der Redaktion mit Mitarbeitern der Satire-Zeitung "Charlie Hebdo" - die Sicherheitsvorkehrungen sind gestiegen. (AFP / BERTRAND GUAY)
    Doch nicht allen vermittelt das ein Gefühl der Sicherheit.
    "Nach allem was passiert ist, ist das natürlich verständlich, aber diese Präsenz von Waffen und Militär wirkt auch aggressiv", findet eine Mutter, deren Kind gerade zu den Karikaturen rollert, die an die Hauswand geklebt wurden. Und auch Marie Ploux beobachtet Szenen wie diese:
    "In der Post hat sich gestern jemand aufgeregt, weil der Sicherheitsmann seine Tasche durchsuchen wollte - was erlaubt ist - aber der Mann hat geschrien und den Sicherheitsmann rassistisch beschimpft."
    Touristen am Redaktionsgebäude
    Der Gendarm an der Straßenecke zitiert einen jungen Mann zu sich, der gerade ein Foto vom ehemaligen Redaktionsgebäude gemacht hat - das sei verboten. Marie Ploux wendet sich ab. Inzwischen kämen immer mehr Touristen.
    "Ich halte das für ungesund, mit gefällt das nicht."
    Die Redaktion ist längst umgezogen, arbeitet, provisorisch untergebracht, in den Redaktionsräumen der Zeitung "Libération". Gerade entsteht dort - unter Polizeischutz - die nächste, die erste reguläre Ausgabe nach dem Sonderheft. Der Druck sei groß, heißt es, das Team müde und psychisch mitgenommen. Öffentlich in Erscheinung getreten ist in den vergangenen Tagen vor allem Patrick Pelloux. Der Arzt und Kolumnist war einer der ersten am Tatort damals - und macht sich und der Redaktion Mut:
    "Wir dürfen niemals aufgeben. Wir müssen mehr zeichnen, den Mut haben, die Menschenrechte zu verteidigen. Die Terroristen greifen das Volk an, töten Muslime, Juden, Laizisten und Journalisten. Sie töten die Kultur, dafür müssen wir kämpfen."
    Nicht nur die Anspannung ist groß, auch die Erwartungen sind hoch: Sieben Millionen Mal wurde die Sonderausgabe gedruckt. Freunde aus der ganzen Welt hätten sie angerufen und gebeten, ihnen eine Ausgabe zu besorgen, erzählt Marie Ploux. Unmöglich sei das gewesen. Ruben weiß, wovon die 70-Jährige spricht. Er arbeitet in einem kleinen Zeitungsladen in der Rue Boulle, ein paar Straßen weiter.
    "Kurz nach dem Attentat wollten sie erst mal die letzte Ausgabe haben, die mit Houellebecq drauf, die war schnell ausverkauft. Dann kam diese hier raus."
    Eine Frau zeigt die erste Ausgabe des Satiremagazins "Charlie Hebdo" nach den Anschlägen von Paris.
    Die erste Ausgabe des Satiremagazins "Charlie Hebdo" nach den Anschlägen von Paris. (picture alliance / dpa / Ian Langsdon)
    Der junge Mann reckt sich nach den verblieben grünen Heften mit dem Propheten auf dem Titel.
    "Davon habe ich seit den Attentaten 1.000 Exemplare verkauft. Vorher waren es gerade einmal zehn pro Woche."
    Hunderte Vorbestellungen für neues Heft
    Von der Sonderausgabe hat sich auch Marie Ploux ein Exemplar besorgt, auch wenn sie den Titel nicht wirklich verstanden habe. Vielen sei das so gegangen. Von der neuen Ausgabe, die morgen erscheint, erwarte sie nur eines: Dass sie sie zum Lachen bringe. 200 bis 300 Reservierungen hat Ruben für die kommende Ausgabe schon entgegengenommen.
    Anders sieht es bei den Supermärkten, Cafés und Restaurants im Viertel aus, die koschere Lebensmittel verkaufen. Es würden weniger Gäste kommen, klagen viele, aus Furcht. Jüdische Schulen und Einrichtungen werden seit den Anschlägen noch strenger bewacht, gleichen oft Festungen.
    Man müsse Angst haben als Jude in Frankreich, findet auch Davide, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, und erinnert an den tödlichen Angriff auf Ilan Halimi vor neun Jahren. Der sterben musste "weil er Jude war", wie es auf seinem Grabstein steht. Taten wie diese oder das Attentat in Toulouse hätten keine solche Welle der Solidarität ausgelöst wie der Anschlag auf "Charlie Hebdo".
    "Der Mord an Halimi ist neun Jahre her und es hat sich nichts getan, man hat keine Konsequenzen gezogen, nicht versucht, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzubringen. Und heute zahlen wir den Preis dafür, weil man sich nicht versteht, nicht miteinander redet."
    Marie Ploux hofft, dass die Solidarität, die Frankreich bei der Großdemonstration gezeigt hat, Bestand hat. Doch auch sie hat ähnliche Erfahrungen wie Davide gemacht, viele Jahre hat sie als Lehrerin in den Banlieues gearbeitet, in Saint-Denis.
    "Da war bei vielen Schülern ein unterbewusster Antisemitismus zu spüren. Die wussten nicht mal warum - der Nahost-Konflikt hat das dann befeuert. Da hat man nicht genug aufgepasst. Das ist ein großes Problem in Frankreich, das man lösen muss."