Die Spurensuche hat lange gedauert. Margret Greiner ist gereist, hat jahrelang recherchiert und gelesen – vor allem aber ist sie Charlotte Salomons Leben durch den Bilderfundus hindurch gefolgt, den die junge Malerin der Nachwelt hinterlassen hat. Gleich zu Beginn, im Prolog, lässt die Autorin Charlottes Eltern, den Vater Albert und die Stiefmutter Paula Salomon eine folgenschwere Reise antreten. Sie haben den Holocaust überlebt, Charlotte nicht.
"Sie hätten ein Flugzeug nehmen können, von Amsterdam nach Paris fliegen, dann umsteigen nach Nizza. Es war nicht der enorme Preis, der sie abhielt, obgleich sie aufs Geld schauen mussten. Aber es stand für sie außer Frage, dass sie mit dem Zug fahren würden, wenn sie sich auf die Suche nach Spuren der letzten Jahre von Charlottes Leben begeben wollten. Auch wenn die Fahrt von Amsterdam an die Côte d'Azur einer anderen Route folgte als von Berlin nach Villefranche und die Voraussetzungen zwei Jahre nach Kriegsende völlig andere waren als im Januar 1939, als sie Charlotte zu den Großeltern geschickt hatten, so waren sich Albert und Paula Salomon einig, dass die langsame und zögernde Annährung mit der Eisenbahn die einzige Option war, sich diese Reise zuzumuten."
Flucht vor dem tyrannischen Großvater
Im Jahr 1939 war Charlotte alleine in das Haus der Großeltern nach Südfrankreich geflohen. Um sich von ihrem tyrannischen Großvater zu befreien, machte sie sich bald selbständig und lebte zurückgezogen, fast wie eine Eremitin, in einer Pension in Saint Jean Cap Ferrat. Dort hielt sie innerhalb von 18 Monaten, auf fast besessene Weise ihr Leben in 1300 Bildern fest, von denen sie vor ihrer Deportation knapp 800 bündelte und einem befreundeten Arzt übergab. Diesen, in einem Keller gelagerten Bildern, begegnen ihre Eltern Jahre später. Und diesen Bildern begegnete auch Margret Greiner.
"Mit Charlotte Salomon hab ich mich schon lange beschäftigt, ich glaube, zehn Jahre lang. Ich hab irgendwann mal Bilder von ihr gesehen, ich glaube, im jüdischen Museum in Berlin. Und das fand ich so wirklich spektakulär, dass ich gedacht habe - neben allen vielen, ergreifenden und schrecklichen Geschichten, die wir wissen, was der Holocaust oder die Shoah angeht, ist das eine ganz andere Geschichte: Da ist jemand nicht nur ein Opfer, sondern ein Subjekt, das die eigene Geschichte in die Hand nimmt. Und ich persönlich denke, sie hat in diesem Kampf auch gewonnen. Sie hat ihr Leben gerettet, auch wenn es in Auschwitz zu Ende ging und sie ermordet wurde - als Künstlerin, als Mensch hat sie sich gerettet."
Mutter, Großmutter und Tante begehen Selbstmord
"C'est toute ma vie" – Das ist mein ganzes Leben. Mit diesen Worten soll Charlotte dem Arzt ihre Bilder anvertraut haben. Sie sind das Zeugnis ihrer Kindheit und Jugend in einer jüdischen Berliner Familie. Charlotte verliert ihre Mutter früh durch Suizid, auch die Großmutter und eine Tante nehmen sich das Leben. Dieses schwere Erbe trägt Charlotte ihr Leben lang in sich. Die Bedrohung durch die Judenverfolgung kommt später hinzu.
"Es war natürlich auch das Stigma ihres jungen Lebens, dass praktisch alle Frauen in ihrer Familie sich umgebracht hatten. Und der Großvater auch immer wieder gesagt hat: Nun bring dich endlich um! Du wirst es ja so und so tun, nun mach es jetzt! Die Charlotte hat irgendwann gesagt, sie muss entweder ihr Leben beenden, sich umbringen, oder "etwas verrückt Besonderes tun", um ihr Leben zu retten. Und dieses verrückt - Besondere, das war eben diese Malerei, und dieses Wort hat mich die ganze Zeit eigentlich beim Schreiben immer wieder beschäftigt oder war auch wie ein Leitwort - da ist etwas in jeder Hinsicht - vom Maltechnischen her, vom Inhaltlichen her - Verrückt Besonderes entstanden,..vor allem diese Idee: Ich muss mein Leben retten, indem ich es male."
Charlotte gab ihrem gemalten Lebenszyklus den Titel "Leben? oder Theater? – Ein Singespiel". Wie auf einer Bühne lässt sie die Protagonisten ihrer Kindheit und Jugend, ihres jungen Erwachsenenalters auftreten und agieren, wobei sie den Beteiligten neue Namen verleiht.
Ereignisse in der Bildsprache des Expressionismus
"Ihre Stiefmutter, die eine große Rolle in ihrem Leben gespielt hat, die Sängerin Paula Lindberg, nennt sie 'Paulinka Bimbam'. Und der tyrannische Großvater heißt dann 'Herr Dr. Knarre' - also so hat sie mit ihrem sehr speziellen Humor diese Figuren nicht nur immer eins zu eins dargestellt, sondern als Bühnenfiguren.
"Lange vor der Erfindung der Graphic Novel malt Charlotte – mit der Bildsprache des Expressionismus - politische und familiäre Ereignisse, innere Freuden und Qualen. Sie erzählt mit Bildern und wenigen Kommentaren und ignoriert dabei fröhlich die Gesetze von Zeit und Raum. In Margret Greiners Buch gibt es eine Auswahl von 26 Bildern, und es wird auch auf das Gesamtwerk verwiesen, das im Internet zu finden ist. Aber - der Autorin gelingt es, auch denen, die nicht nachschlagen möchten, mühelos Bilder vor das innere Auge zu holen, ohne den Erzählfluss zu unterbrechen. So zum Beispiel Charlottes gemalte Erinnerung an die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten:
"Auf der einen Seite wird eine Masse dargestellt, eine Masse von Menschen, die nur noch charakterisiert sind durch eine orangefarbene Uniform und Käppis, wo aber die Gesichter überhaupt nicht mehr ausgeführt sind. Es ist ein Idealbild in Anführungsstrichen einer anonymen Masse. Die alle Gesichter verloren hat, die nur noch aus Uniform besteht."
Auch als Jugendbuch geeignet
"Charlotte will das Blatt vom Block reißen, sie fühlt sich erschöpft wie selten. Von draußen weht laue Luft in ihr Zimmer, bewegt den weißen Vorhang und füllt den Raum mit dem Duft von Jasmin. Einem spontanen Einfall folgend, übermalt sie das Hakenkreuz in der roten Fahne mit Weiß, sodass ein Kreis entsteht, lässt ihn trocknen, taucht den Pinsel erneut in schwarzblaue Farbe und malt das Hakenkreuz noch einmal- jetzt seitenverkehrt. Damit hat sie das Allmachtssymbol der Arier außer Kraft gesetzt. Sie hat gelesen, dass das Zeichen, wie es jetzt auf ihrem Bild erscheint, im buddhistischen Glauben Tod, Vergehen, Niedergang bedeutet."
Dass zwischen dem historischen Ereignis und der Entstehung Bildes viele Jahre liegen, fällt beim Lesen nicht ins Gewicht. Die Erzählung fließt ungehindert zwischen der Gegenwart der malenden Charlotte und dem Rückblick auf das Leben, das hinter ihr liegt.
Obwohl das Buch nicht als Jugendbuch geschrieben wurde und auch nicht als solches vermarktet wird, ist es doch eines dieser Bücher, das man jungen Lesern ab 14 Jahren unbedingt empfehlen kann. Charlottes lebendiger Gebrauch der Farben und Formen spiegelt sich in Margret Greiners Sprache wieder, und so erzählt die Autorin, Hand in Hand mit der Malerin selbst, das Leben des Kindes, der jungen Frau und Künstlerin, die ihr Leben und die Geschichte nicht einfach an sich vorüberziehen lässt, sondern einfängt, deutet und der Nachwelt übergibt.
Margret Greiner: "Charlotte Salomon, Es ist mein ganzes Leben"
Knaus Verlag, März 2017, 19,99 Euro.
Knaus Verlag, März 2017, 19,99 Euro.