Musik: Chaya Czernowin: "At the fringe of our gaze" for orchestra and concertino group (2012/13)"
Diese tonale, fleischige Orchestermusik ist man von Chaya Czernowin gar nicht gewohnt. Eigentlich kennt man von ihr eher geräuschhafte, fragile, flächige Klanggewebe, die all das zum Klingen bringen, was sich unserer Aufmerksamkeit entzieht. Tatsächlich ist das Stück "At the fringe of our gaze" von 2013 eine Ausnahme, denn es stellt eine Art Initiation dar. Czernowin hat es im Auftrag von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra geschrieben, ein Klangkörper aus jungen Musikern aus Israel und den arabischen Nachbarländern, das meist Beethoven, Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow oder andere klassische Meister spielt.
Da die jungen Instrumentalistinnen und Instrumentalisten mit zeitgenössischer Musik oft noch gar keine Erfahrung haben, hat Chaya Czernowin ein Stück geschrieben, in dem sie die Musiker – und somit auch die Hörer - an der Hand nimmt und von einer gewohnten, klassischen Klangwelt an die äußerste Peripherie führt und wieder zurück. Dort, in dieser Peripherie, beginnt Czernowins Welt. Nach einer anfänglich noch vertrauten Wegstrecke fällt schon bald das kleidsame Fleisch von den Knochen und man beginnt, hinter die Fassade des Anfangs zu hören.
Chaya Czernowin löst sich von allem, was der Musik Klang und Form gibt. Übrig bleibt das, was immer auch da ist, nie aber Beachtung bekommt: Geräusch aller Art, das sich bei längerem, bewussterem Zuhören als eigener, unheimlich reicher Mikrokosmos offenbart. Es ist das, was eben, wie der Titel sagt, "at the fringe of our gaze" liegt – am äußersten Rande unseres Blickfelds.
Anfangs mag diese Geräuschwelt noch abstrakt klingen. Immer mehr aber schälen sich Klänge daraus hervor, die wir zu kennen meinen. Glissandi klingen in diesem Kontext nicht mehr wie Glissandi, sondern eher wie Sirenen. Als sich irgendwann wieder Momente tonaler, motivischer Musik abzeichnen, erkennt man sie zwar sofort, hört sie aber nun mit anderen Ohren, als wäre diese Musik nur eine kleine Insel in einem riesigen, lebendigen Ozean.
"At the fringe of our gaze" bildet zwar auf dieser CD den Abschluss, ist aber ein wunderbarer sanfter Einstieg in Chaya Czernowins Denk- und Klangwelt. Die fünf Orchesterwerke dieser CD stammen aus den Jahren zwischen 2010 und 2014 und markieren eine Zeit des Übergangs, oder wie sie selber es nennt: "Eine Art Korridor, durch den ich auf einen neuen Weg gekommen bin".
Einer der größten Meilensteine auf Czernowins Weg war ihre Oper "Pnima....ins Innere". Da ging es um die Holocaustverarbeitung als Generationenkonflikt zwischen Überlebenden und ihren Nachkommen. Im Zentrum steht das Unaussprechliche, nicht Kommunizierbare; daher wollte Chaya Czernowin hier Gebiete jenseits der Verbalkommunikation aufsuchen. Anstelle von Worten verwendete sie lediglich phonetische Laute, um tiefer ins Innere des Menschen einzudringen, an den Ort der vollkommenen Dunkelheit und Einsamkeit des Einzelnen.
Damit hatte die 1957 in Haifa geborene Komponistin, die selber dieser Nachkommengeneration angehört, auch ein Stück eigener Geschichte bewältigt, um einen neuen Weg gehen zu können, der über die Erforschung der eigenen Identität, des eigenen Subjekts hinausging. Die Werke dieser CD sind Stationen auf diesem neuen Weg.
Und die erste davon ist das Stück "The Quiet" aus dem Jahr 2010. Ein Schneesturm, den sie eines Nachts vom Fenster aus beobachtete, gab dazu den Anstoß. Inspiriert von den virtuosen Bewegungen der Schneeflocken – ein Zusammenspiel physikalischer Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten – versuchte sie, diese in Klänge zu übersetzen. Das Orchester teilt sie in drei Klanggruppen auf, was die dichten, überlagerten Vorgänge durchsichtig macht und eine wunderbare Räumlichkeit erzeugt. Dem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks unter der Leitung von Brad Lubman gelingt in dieser Aufnahme bis in die tiefsten Geräuschflächen hinab eine so große Klarheit und Plastizität, dass man sich tatsächlich mitten in dem Schneegestöber wähnt. Zugleich aber nimmt man diese Flut von Einzelereignissen als Ganzes wahr, als Zustand, der zwar innerlich bewegt ist, nach außen aber – wie auch der Titel "The Quiet" andeutet – eine in sich geschlossene Ruhe ausstrahlt. Es ist die Art von bewegter Ruhe, die man in der Vollkommenheit der Natur vorfindet, wo sich auch der Widerspruch auflöst.
Musik: Chaya Czernowin: "The Quiet"
Unmittelbar im Anschluss an "The Quiet" hat Chaya Czernowin "Zohar Iver" komponiert, das zunächst wie eine nahtlose Fortsetzung von "The Quiet" klingt. Auch hier arbeitet sie mit einem in drei Gruppen aufgeteilten Orchester. Nur stellt sie hier dem Sinfonieorchester ein typisch unsinfonisches Außenseiterensemble aus E-Gitarre, Saxofon, Klavier und Schlagzeug an die Seite. Dieses Ensemble streut vereinzelte Ereignisse in den immer leicht beweglichen Klangzustand des Orchesters. Chaya Czernowin nennt sie Überbleibsel menschlicher Stimmen. Sie sind wie Momente, in denen der Mensch die Natur berührt und auf sie einwirkt.
Musik: Chaya Czernowin: "Zohar Iver"
Das israelische Ensemble Nikel, das hier unter Mario Venzagos Leitung auf das Berner Symphonieorchester trifft, lotet feinfühlig die Balance aus zwischen orchestralem Klanggewebe und kleinen solistischen Momenten, die aber nie als Soloeinlagen wahrgenommen werden, eher als das Beleuchten einer weiteren klanglichen Dimension.
"The Quiet", "Zohar Iver" und das nächste Stück "Esh" – hebräisch für Feuer – bilden zusammen eine Trilogie. In allen drei Werken ist das Orchester dreigeteilt. Vor allem aber steht in ihrer Mitte jeweils ein großes Crescendo, weshalb es die Komponistin die "Crescendo-Trilogie" genannt hat. In jedem der drei Stücke spielt das Crescendo eine andere Rolle. Im Falle von "Esh" für Orchester mit Countertenor geschieht es ganz unmittelbar. Es setzt einer sehr eigenartigen Klanglandschaft, die der Countertenor zusammen mit Orgel, Harmonium, Cembalo, Klavier und Harfe geschaffen hat ein plötzliches Ende, als wäre eine Tür zu einer anderen Welt aufgesprungen. Der Countertenor Kai Wessel, der vollkommen vibratolos singt, entzieht der Stimme ihr menschliches Timbre, was ihr eine sonderbar undefinierbare, aber faszinierende Kraft verleiht.
Musik: Chaya Czernowin: "Esh"
In "Esh" – wie man im Booklet der CD erfährt – schwebte Chaya Czernowin eine vollkommen korrodierte Landschaft vor, die sie dann in der Zeit rückwärtsgehend zurückverfolgt zu ihrem ursprünglichen Zustand, als sie noch lebendig war.
In sämtlichen Orchesterwerken dieser CD ist Chaya Czernowin von ausgehebelten physikalischen Gesetzen ausgegangen. In "The Quiet" ließ sie musikalisch eine Lawine aufwärts rollen, in "Esh" die Zeit rückwärts laufen. Es sind gewissermaßen Erkundungsschritte jener Landschaft, die sich eben hinter den sichtbaren Dingen und jenseits der Subjektivität und der Identität befindet.
Anstelle von Dramatik und Ereignissen findet sie hier changierende, flächige Klangzustände vor, die manchmal fast den Eindruck eines Zeitstillstands erwecken. In "White Wind Waiting", dem jüngsten dieser Orchesterwerke, geht sie ganz direkt der Frage nach, "ob man einen Zustand erreichen kann, bei dem die Zeit stillzustehen scheint, aber sich dennoch bewegt".
Was sich in den früheren Stücken schon angedeutet hat, wird jetzt konkreter. Das wieder in Gruppen aufgeteilte Orchester ist mittlerweile elektroakustisch verfremdet und wirkt tatsächlich weniger vertraut. Die Sologitarre, gespielt von Stephan Schmidt, verkörpert das Warten, das sich im Laufe des Stücks auflöst, denn: Wo kein Subjekt mehr ist, kann auch niemand warten. Und so verabschiedet sich die Gitarre zum Schluss aus dem Orchesterkontext und mäandert verloren durch ihren Abgesang.
Musik: Chaya Czernowin: "White Wind Waiting"
Letzte, immer noch fragende Takte von "White Wind Waiting", gespielt vom SWR Sinfonieorchester Baden Baden und Freiburg unter der Leitung von Francois Xavier Roth.
CD-Infos:
Chaya Czernowin: "The Quiet – works for orchestra", Label: Wergo, Bestellnummer: WER73192, Labelcode: LC00846
Chaya Czernowin: "The Quiet – works for orchestra", Label: Wergo, Bestellnummer: WER73192, Labelcode: LC00846