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Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Ischinger
"Energieaußenpolitik darf kein Alleingang sein"

Nord Stream 2 widerspreche der deutschen Grundüberzeugung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, sagte der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger im Dlf-Interview der Woche. Doch das Projekt jetzt noch scheitern zu lassen, widerspräche anderen wichtigen deutschen Grundsätzen.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Klaus Remme |
    Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Ischinger
    Kritisiert die Haltung der Bundesregierung beim Projekt Nord Stream 2: Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (dpa/Sven Hoppe)
    Aus der Diskussion um das umstrittene Pipeline-Projekt kann es für den Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger nur eine Schlussfolgerung geben: "Wenn wir eine europäische Außenpolitik haben wollen, dann brauchen wir auch eine gemeinsame Energieaußenpolitik." Zukünftig dürfe es bei solchen Projekten keinen Alleingang mehr geben.
    Wenn man eine gemeinsame europäische Außenpolitik anstrebe, könne man nicht die Energiepolitik ausnehmen und allein nationalen Entscheidungen unterstellen.
    "Dass ist der kleine Geburtsfehler dieser deutschen Einstellung zu Nord Stream 2 gewesen, dass wir geglaubt haben, wir können das bis zum Ende durchhalten, als ein Projekt, das nicht der europäischen Konsensfindung und Entscheidungsfindung unterliegt", sagte Ischinger.
    Warnung vor einem Scheitern von Nord Stream 2
    Zugleich warnte der ehemalige deutsche Diplomat davor, das Projekt jetzt noch scheitern zu lassen, "sozusagen auf den letzten hundert Metern eines Marathonlaufs". Wenn dies durch die Änderung bestehender Regeln geschehe, stelle dies eine Verletzung von Grundsätzen dar, die für deutsches politisches Verhalten immer ganz wichtig gewesen seien:
    "Nämlich, dass wir berechenbar und verlässlich sind. Und das man mit uns Verabredungen treffen kann, die dann auch gehalten werden."
    Die Lehre aus der Auseinandersetzung um Nord Stream 2 müsse sein, dass sich so etwas nicht wiederholen sollte. "In Zukunft müssten solche Projekte europäisch basiert sein", plädierte Ischinger.

    Das Interview in voller Länge:
    Klaus Remme: Wolfgang Ischinger, willkommen zum Interview der Woche.
    Wolfgang Ischinger: Vielen Dank für die Einladung.
    Remme: Am Freitag beginnt die 55. Sicherheitskonferenz. Ich vermute, auch wenn die Planungen seit Monaten laufen, sind Sie jetzt gerade in so einer Phase, wo letzte Zusagen kommen, wo aber auch Absagen kommen. Die von Emmanuel Macron gehört dazu. Staats- und Regierungschefs sind in dieser Hinsicht eine schwierige Klientel, oder?
    Ischinger: Das kann man so sagen. Das ist von Ihnen, Herr Remme, sehr nett und diplomatisch ausgedrückt. In der Tat sind Staats- oder Regierungschefs, ich sage es jetzt etwas undiplomatischer, gelegentlich wie ein Hühnerhaufen, schwer unter Kontrolle zu halten. Und wer genau jetzt rein will und raus will oder nicht kommen will oder doch kommen will, klärt sich manchmal tatsächlich erst in den allerletzten Tagen und Stunden vor der Veranstaltung.
    Remme: Merkel, Macron und die Sicherheitskonferenz, das klingt in diesem Umfeld eigentlich wie gebacken. Wissen Sie, warum Macron nicht kommt?
    Ischinger: Ja, lassen Sie mich mal, wenn ich darf, kurz ausholen. Ich habe fast zwei Jahre lang daran gearbeitet und ernsthaft sozusagen in guter Absicht daran gearbeitet, den damaligen neuen französischen Präsidenten nach München zu lotsen, natürlich immer in der Erwartung, dass das dann zu einem gemeinsamen Auftritt mit der Bundeskanzlerin führen würde. Das ließ sich dann im vergangenen Jahr 2018 deshalb nicht verwirklichen, weil sich herausstellte, dass die Bundeskanzlerin noch ohne Regierung war und unter diesen Umständen sich dieser gemeinsame politische Kraftauftritt eben nicht realisieren ließ.
    Es war schade. Nachdem Macron damals fest zugesagt hatte, habe ich es natürlich dann jetzt für dieses Jahr erneut versucht, schon seit dem späten Sommer, und ich war absolut guter Dinge bis vor ganz wenigen Tagen, nachdem wir auch einen Zeitpunkt gefunden hatten, der beiden Regierungschefs im Ablauf der Konferenz passte. Ich war guter Dinge, dass das nun diesmal endgültig klappen würde und dann regnete die Absage aus Paris herein.
    Mir gegenüber wurde von französischer Seite diese kurzfristige Absage mit der Notwendigkeit begründet, der Präsident müsse sich angesichts der uns allen bekannten innenpolitischen Schwierigkeiten um seine nationale Debatte kümmern, und er wolle unter diesen Umständen nicht schon wieder Auslandsreisen antreten. Das komme dann möglicherweise beim Publikum in die falsche Kehle.
    Kein deutsch-französischer Auftritt - "wirklich sehr schade"
    Remme: Und gibt es da für Sie einen Subtext, den Sie daraus hören?
    Ischinger: Ich habe keine anderen Anzeichen als diese bekommen. Ich nehme allerdings natürlich auch zur Kenntnis, dass es in Frankreich nach dem neuen deutsch-französischen Vertragsschluss im Aachener Vertrag vor ganz wenigen Tagen zu einer Diskussion gekommen ist, die nach meinem Eindruck wesentlich weniger freundlich, weniger positiv verlief als die deutsche Debatte.
    Trotzdem ist es natürlich jammerschade, denn ich hatte mir fest vorgenommen, dass eine der Hauptbotschaften aus München in diesem Jahr eigentlich sein müsste, die Selbstbehauptung Europas, und wie, wenn nicht auch aufgrund eines deutsch-französischen gemeinsamen Auftritts, ließe sich die denn den Nicht-Europäern, der aus der ganzen Welt angereisten, kraftvoll darstellen. Das ist wirklich sehr schade, dass das jetzt auf diese Weise nicht zustande kommt.
    Remme: Die Konferenz hat ihrem Ursprung nach transatlantischen Wurzeln. Wie fällt Ihre vorläufige Schadensbilanz aus zur Halbzeit der ersten Amtszeit von Donald Trump?
    Ischinger: Mehr als gemischt natürlich, wir mussten leider in diesen ersten zwei Jahren der Amtszeit von Donald Trump Dinge erleben, die sozusagen die alten Transatlantiker, zu denen ich mich selber zähle, für kaum möglich gehalten hätten, dass ausgerechnet ein amerikanischer Präsident die Sinnhaftigkeit, die Notwendigkeit einer transatlantischen Allianz der NATO öffentlich in Zweifel zieht. Dass man die Europäische Union aus dem Weißen Haus als Feind, als "Foe" definiert, das sind Töne, auf die wir vollkommen unvorbereitet gewesen sind. Das ist sozusagen "the Bad News".
    Ich sehe jetzt in den Tagen unmittelbar vor der Münchener Sicherheitskonferenz aber auch Good News. Es ist erfreulich, dass in Washington auch eine Gegenbewegung stattfindet. Wir werden am kommenden Wochenende in München die mit Abstand, wenn sich die gemachten Zusagen so erhärten, größte Kongressdelegation in München haben, die wir jemals erlebt haben. Es haben sich über 40 Mitglieder des Kongresses angekündigt, darunter weit über ein Dutzend Senatoren. Mit anderen Worten, man hat in Washington verstanden, dass es hier ein Kommunikations- und ein Vertrauensproblem allererster Ordnung gibt.
    Remme: Ich höre, Nancy Pelosi will kommen, das ist endlich mal im Reigen dieser Namen der vergangenen zwei Jahre eine Größe, die berechenbar ist, denn wir kennen sie seit vielen, vielen Jahren. Welche Botschaft erwarten Sie von ihr?
    Ischinger: Ich denke, Nancy Pelosi wird mit einer ganzen Reihe von anderen Vertretern aus dem demokratischen Lager den Versuch machen, in München darzustellen, dass Amerika aus mehr besteht als aus dem Weißen Haus von Donald Trump. Wir werden also, denke ich, zum ersten Mal in langer Zeit eine amerikanische Delegation erleben, die anders, als das so die amerikanische Übung ist, sich im Ausland nicht geschlossen als Amerikaner präsentieren, sondern die uns tatsächlich sagen werden, hier sind einige Republikaner, die vielleicht tatsächlich die Trump'sche Position verteidigen und darstellen wollen, und hier sind andere, die das glatte Gegenteil für richtig halten.
    "Es geht um die Selbstbehauptung Europas"
    Remme: Dann blicken wir mal auf Berlin und nicht so sehr auf Washington. Es ist fünf Jahre her, dass Joachim Gauck, Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen in München ihre Plädoyers für die Übernahme größerer internationaler Verantwortung gehalten haben. Herr Ischinger, sind wir seitdem so weit gekommen, wie Sie damals gehofft haben?
    Ischinger: Lassen Sie mich zwei Punkte dazu machen. Zum einen, ich bin dem damaligen Präsidenten Gauck unendlich dankbar dafür, dass er diesen Stein ins Wasser geworfen hat, dass er diese Diskussion angestoßen hat im Jahr 2014. Ich bin aber zweitens der Meinung, dass die Art und Weise, wie wir mit diesem Begriff, "mehr Verantwortung", umgehen, das, was nötig ist, mehr verkleistert, als dass es das erklärt und begründet. Worum geht es denn eigentlich? Es geht doch gar nicht darum, dass wir mehr Verantwortung übernehmen. Wem gegenüber denn, dem lieben Gott oder der Europäischen Union oder wem?
    Nein, es geht darum, dass wir unsere europäischen und deutschen Überlebensinteressen mannhaft und kraftvoll verteidigen, begründen und, so möglich, weltpolitisch durchsetzen. Es geht um die Selbstbehauptung Europas. Es geht um Interessenwahrung. Und es kann nicht sein, dass wir akzeptieren, dass wir auf Dauer und auf breiter Front akzeptieren, dass man uns auf die Reservebank setzt, dass wir sozusagen zuschauen, wie, ich wiederhole es noch mal, wie mit der Abrissbirne das internationale System zerstört wird, von dessen Existenz niemand so sehr abhängig ist wie ausgerechnet die Deutschen mit ihren globalen Vernetzungen.
    Remme: Der Brexit und die Wahl Trumps, das waren Zäsuren, die inzwischen aber ja auch schon über zwei Jahre zurückliegen. Hören wir mal kurz Norbert Röttgen, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. In der Deutschlandfunk-Diskussion jetzt am vergangenen Mittwochabend, wir haben gesprochen über das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen, und ich fragte am Ende der Runde nach den Erwartungen an die Konferenz in München. Hier ist seine Antwort:
    Röttgen: Für mich wäre es eine sehr schöne, sehr große Überraschung, wenn es von relevanter Seite einen konstruktiven Vorschlag geben würde. Ich kann mir das nicht vorstellen, bin aber für jede positive Überraschung offen. Von europäischer Seite wäre ich schon mit Realismus zufrieden, nämlich mit der Einsicht, dass die Europäer von strategischer Autonomie und Souveränität weiter weg sind denn je.
    Remme: "Strategische Autonomie", Herr Ischinger, also die Festlegung, wie Sie gerade sagten, und Durchsetzung eigener politischen Prioritäten, das Wort macht gerade die Runde in Berlin, weiter denn je davon entfernt. Stimmen Sie zu?
    Ischinger: Wir sind dem Gedanken strategischer Autonomie jedenfalls, insoweit stimme ich Norbert Röttgen zu, überhaupt nicht näher gekommen. Lassen Sie uns mal ein Gedankenspiel machen. Was wäre wohl los, wenn Donald Trump seine Drohung wahrmachen würde oder wahrgemacht hätte, Amerika aus der NATO zurückzuziehen? Glaubt man im Deutschen Bundestag, dass man für diesen Fall mit 1,5 oder mit 1,7 oder gar mit zwei Prozent des Bruttosozialprodukts über die Runden kommen würde, um deutsche sicherheitspolitische Interessen aufrechtzuerhalten? Die Wahrheit lautet, wir müssten dann wahrscheinlich das Doppelte oder Dreifache ausgeben. Wir hängen so sehr quasi als Wurmfortsatz am amerikanischen Potenzial dran. Das müssen wir versuchen zu ändern.
    Das geht aber nicht nur durch fromme Reden und durch das Herbeiwünschen von strategischer Autonomie. Dann müssen wir das auch wollen und dann müssen wir aufhören, in Europa, im Bereich der Sicherheitspolitik, der Verteidigungspolitik, Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts zu betreiben, wo jeder sein eigenes kleines Jagdflugzeug bestellt bei unterschiedlichen Anbietern, sondern dann müssen wir tatsächlich auf breiter Front und strategisch angelegt gemeinsam einkaufen, gemeinsam ausbilden, gemeinsam trainieren und gemeinsame Synergieeffekte erzeugen, um in die Richtung der Vision einer Armee der Europäer, wie Frau von der Leyen gesagt hat, oder der Vision einer Europäischen Verteidigungsunion voranzukommen, die tatsächlich auf eigenen Füßen stehen könnte. Das ist doch der Begriff der Autonomie, und davon sind wir in der Tat weit, weit, weit entfernt.
    Der "Alleingang" der Deutschen bei Nord Stream 2
    Remme: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit Wolfgang Ischinger, dem Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, wenige Tage vor Beginn der 55. Konferenz. Ich will noch mal beim politischen Umfeld dieser Autonomie bleiben. Wie nehmen Sie denn in diesem unbestritten schwierigen Umfeld den Bundesaußenminister wahr? Heiko Maas ist jetzt seit fast einem Jahr im Amt.
    Ischinger: Ich denke, der neue Außenminister hat einige interessante Akzente, einige neue Gedanken in die deutsche außenpolitische Diskussion gebracht. Denken Sie an seine Korrektur, für die SPD ja doch bemerkenswert, eines Begriffs der Ostpolitik, der sich nur auf Russland konzentriert. Er hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Ostpolitik schon zu Zeiten von Willy Brandt Ostpolitik auch gegenüber unseren unmittelbaren östlichen Nachbarn gewesen ist.
    Remme: Er hat aber auch sehr schnell Gegenwind in seiner Partei dafür bekommen.
    Ischinger: Ja, das war ja auch nicht unerwartet. Also, ich fand das eine interessante und wichtige Korrektur und ich finde genauso interessant den Gedanken einer Allianz der Multilateralisten, den Heiko Maas mit anderen gemeinsam ins Spiel gebracht hat. Das Problem ist nur, wenn wir in einer Zeit, in der es um harte machtpolitische Interessendurchsetzung geht, dann reicht es natürlich nicht, sozusagen in Sonntagsreden eine Allianz der Multilateralisten zu beschwören. Die muss sich dann auf dem Boden der realen Tatsachen auch bewähren.
    Remme: Ich stelle fest, wir beide sehen diese Allianz im Moment noch nicht.
    Ischinger: Sicherlich noch nicht.
    Remme: Kernelement einer solchen Autonomie, über die wir reden, und das haben Sie ganz am Anfang schon mal erwähnt, ist wohl unverzichtbar ein deutsch-französischer Gleichschritt. Wann kommen Paris und Berlin endlich in Gang?
    Ischinger: Na ja, nun hat die Bundesregierung ja dieses neue deutsch-französische Vertragswerk erst vor ganz wenigen Tagen mit Frankreich in Aachen aus der Taufe gehoben. Das ist ein ganz wichtiges Datum für ein gemeinsames militärisches Großprojekt, nämlich ein künftiges Kampfflugzeug, eine gemeinsame Grundlage zu legen. Also es ist ja nicht so, dass nichts passieren würde.
    Remme: Aktuelles Beispiel für einen neuen Dissens, Nord Stream 2. Der politische Streit über das Projekt dauert an. Deutschland steht da an der Seite Russlands gegen die Osteuropäer, aber bei Weitem nicht nur die gegen die Osteuropäer. Jetzt gibt es Widerstand in Frankreich. Herr Ischinger, wer fährt hier auf dem falschen Gleis?
    Ischinger: Die Bundesregierung hatte über lange Jahre rechtlich einen guten Punkt. Sie konnte mit Recht sagen, es gibt keine Zuständigkeit der Europäischen Union. Ich persönlich bin der Meinung, langfristig ist das eine zwar für den Einzelfall richtige Feststellung, es passt aber nicht zu der deutschen Grundüberzeugung, dass wir eine gemeinsame europäische Außenpolitik anstreben. Sie können nicht in der Außenpolitik, wenn man die als eine große Torte bezeichnet, dann können Sie nicht ein Tortenstück, in diesem Fall die Energieaußenpolitik, rausschneiden und sagen, das behalten wir uns als nationales Prärogativ vor und alle anderen Sachen entscheiden wir gemeinsam europäisch.
    Das ist der kleine Geburtsfehler dieser deutschen Einstellung zu Nord Stream gewesen, dass wir geglaubt haben, wir können das bis zum Ende durchhalten als ein Projekt, das nicht der europäischen Konsensfindung und Entscheidungsfindung unterliegt. Jetzt regt sich hier erheblicher Widerstand und man wird sehen, wie man durchkommt. Ich will Ihnen sagen, was meine persönliche Meinung ist. Ich hoffe, dass wir alle, die deutschen Parteien, diese und künftige Bundesregierung den Schluss ziehen, wenn wir eine europäische Außenpolitik haben wollen, dann brauchen wir auch eine gemeinsame europäische Energieaußenpolitik. Da darf das kein Alleingang mehr sein, Punkt 1.
    Punkt 2, jetzt aber sozusagen auf den letzten 100 Metern eines Marathonlaufs zu sagen, jetzt werden die Regeln gerade geändert, weil in Brüssel irgendeine Entscheidung getroffen wird, jetzt werden Industriefirmen, die sich hier über eine Dekade auf die geltende Rechtslage verlassen haben, das jetzt auf der Schlussrunde zu verändern oder gar zum Scheitern zu bringen, das hielte ich für eine Verletzung von Grundsätzen, die für deutsches politisches Verhalten eigentlich immer ganz wichtig gewesen sind, nämlich dass wir berechenbar und verlässlich sind und dass man mit uns Verabredungen treffen kann, die dann auch gehalten werden. Insoweit fände ich es unglücklich, wenn dieses Projekt jetzt kurz vor dem Schluss sabotiert oder abgebrochen werden müsste.
    Die Lehren müssen wir daraus ziehen, so etwas sollte sich nicht wiederholen. In der Zukunft müssen solche Projekte europäisch basiert sein.
    Aus einer Position relativer Schwäche kann man schlecht verhandeln
    Remme: Lassen Sie uns über ein aktuelles Thema sprechen, das auch in München eine Rolle spielen wird, nämlich den INF-Vertrag und was daraus folgt. Sie haben, wenn ich es richtig sehe, die Nachrüstungsdebatte der 80er-Jahre seinerzeit an der Seite des damaligen Außenministers, Hans-Dietrich Genscher, miterlebt. Hätten Sie gedacht, dass wir über 30 Jahre später noch einmal und neu über Mittelstreckenwaffen reden müssen?
    Ischinger: Das hätte ich mir in der Tat außer in einem schlechten Traum nicht vorstellen wollen. Es ist ein Unglück, dass der Vertrag auf diese Weise anscheinend zu einem unrühmlichen Ende geführt wird. Dieser Vertrag war das Kernstück, das Lehrstück, weil mit ihm eine gesamte Kategorie von Nuklearwaffen zwischen Russland, der damaligen Sowjetunion, und den USA eliminiert werden konnte. Das war das Kernstück einer regelbasierten Aufrüstungskontrolle und Abrüstung basierenden auf gegenseitiges Vertrauen gestützten Sicherheitspolitik, bei der man tatsächlich auch noch sagen konnte, dass aus unserer Sicht die russische Seite, zumindest in diesem Bereich ein Partner ist eines laufenden Vertrags mit enorm intrusiven Verifikationsvorkehrungen und so weiter.
    Wenn dieser Vertrag jetzt sozusagen im Mülleimer landet, dann ist aus meiner Sicht die Sorge nicht nur berechtigt, sondern muss sehr, sehr groß sein, dass auch die Fortsetzung des sogenannten START-Prozesses, also die Weiterführung von Verhandlungen über amerikanische und russische interkontinentale strategische Waffen möglicherweise entweder gar nicht losgeht oder ein ähnliches Schicksal erleidet wie der INF-Vertrag. Das wäre verhängnisvoll für alles, was wir nun seit Generationen, so kann man das schon sagen, an Kenntnissen und Erkenntnissen über die Notwendigkeit der Reduzierung militärischer Fähigkeiten zusammengetragen haben.
    Remme: Herr Ischinger, vielleicht ein paar kurze Antworten zu Vorschlägen, die im Gespräch sind. Multilateralisierung von Rüstungskontrolle, wie groß sind die Chancen dafür?
    Ischinger: Sehr wünschenswert, groß sind die Chancen nicht. Je mehr Partner sie in einem Rüstungskontrollvertrag haben, desto komplizierter wird es, also eher unrealistisch.
    Remme: Ein NATO-Doppelbeschluss 2.0, notwendig, realistisch?
    Ischinger: Im Prinzip ja, wir können nicht erwarten, mit der russischen Seite aus einer Position relativer Schwäche erfolgreich verhandeln zu können. Deswegen war es damals vor 40 Jahren richtig und ist auch heute richtig, jede Art von Verhandlungsvorschlag, einen möglichst umfassenden Verhandlungsvorschlag, mit einem zweiten Teil zu verbinden, nämlich für den Fall, dass es nicht zu erfolgreichen Verhandlungen kommt, dann eben tatsächlich die eigene Position der Stärke auszubauen.
    Remme: Andere Aspekte mischen sich ein. Neue Bundeswehr-Kampfflugzeuge als Träger für Atomwaffen müssen her, die Tornados sind zu alt. Kommt da eine Grundsatzdiskussion über die nukleare Teilhabe auf uns zu?
    Ischinger: Ja, sie ist vermutlich gar nicht zu vermeiden. Es geht auch ganz konkret um die uralte Frage, wie können wir für uns selber ein Mitrederecht erwirken, wenn es um die Einsatzplanung für amerikanische Nuklearwaffen in und um Europa geht.
    Bis auf Weiteres existenziell von der NATO abhängig
    Remme: Aber sind nicht dann auch da möglicherweise ganz neue Wege gefragt, wenn wir über strategische Autonomie, oder wie die Franzosen sagen, europäische Souveränität sprechen, gehört dann möglicherweise dazu, dass man sich Gedanken darüber macht, ob die nukleare Abschreckung, solange es diese Waffen noch gibt, auch für Deutschland durch Frankreich mal genommen wird?
    Ischinger: Das ist eine berechtigte und eine richtige Frage. Die Frage ist übrigens von Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten gelegentlich vorsichtig an die deutsche Seite herangetragen worden, wollen wir über das Thema reden. Die deutsche Seite hat sich regelmäßig aus vielen für mich nachvollziehbaren Gründen nicht getraut. Es sind komplizierte Fragen, sie müssen aber aufgeworfen werden. Nur eins ist klar, selbst wenn wir mit Frankreich über dieses Thema jetzt in ein vertrauensvolles Gespräch eintreten werden, wie könnte das denn im Einzelnen passieren? Dann kann es natürlich nicht so sein, dass es hier nur um die Frage geht, wäre es vorstellbar, dass sich der französische Nuklearschirm auf Deutschland erstreckt. Ich denke, jeder wird verstehen, dass die Frage nur so gestellt werden kann, ist es vorstellbar, dass der französische Nuklearschirm sich auf die Europäische Union erstreckt.
    Damit tauchen Fragen multilateraler Beteiligung auf. Wie gesagt, komplizierte Fragen. In jedem Fall, Herr Remme, egal wie wir mit diesen Fragen umgehen, werden sie nicht in den für uns relevanten Zeitabständen der nächsten ein, zwei, drei, vier Jahre zu einer Veränderung unserer strategischen Lage führen. Das heißt, es führt nichts daran vorbei, dass wir bis auf Weiteres existenziell von der Existenz des Bündnisses und damit auch von den Vereinigten Staaten abhängig bleiben werden.
    Remme: Zum Ende unseres Gespräches, unterschiedliche Sicherheitszonen in der NATO, das war der Alptraum von Helmut Schmidt. Wenn Ihre Konferenzteilnehmer in der nächsten Woche ehrlich sind, werden wir dann in München erleben, dass diese unterschiedlichen Zonen der Bedrohung innerhalb eines Bündnisses inzwischen Realität sind?
    Ischinger: Ich habe große Sorge, Herr Remme, dass anders als damals vor 30 Jahren beim NATO-Doppelbeschluss es außerordentlich schwierig werden wird, in dieser gegenwärtigen Lage innerhalb des Bündnisses zu einer einheitlichen geschlossenen Position zu finden. Wir wissen alle, dass manche unserer polnischen Gesprächspartner die Frage einer nuklearen Nachrüstung in Europa völlig anders einschätzen als beispielsweise der deutsche Außenminister, wenn man seine öffentlichen Festlegungen zugrunde legt.
    Das ist die allererste und wichtigste Aufgabe aus meiner Sicht, dass wir uns im Bündnis nicht durch vorschnelle Vorfestlegungen positiver oder negativer Art auseinanderdividieren lassen. In Moskau würde man sich ja über nichts mehr freuen, als wenn sich die NATO, ohne dass Russland irgendeinen einzigen Finger hebt, vor den Augen von Moskau selber zerlegt in ihre diversen Einzelteile. Das sollte nicht passieren.
    Geschlossenheit des Bündnisses ist in dieser Lage aus meiner Sicht die allererste und wichtigste Bedingung, nicht ganz einfach herzustellen, schwieriger als vor 30 Jahren.
    Remme: Herr Ischinger, vielen Dank für das Gespräch.
    Ischinger: Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.