Am Anfang ist da natürlich "Das unbekannte Meisterwerk": Mit Honoré de Balzacs berühmter Erzählung beginnt die Ausstellung im Picasso-Museum. Zu der fantastischen und schauerlichen Geschichte über den Maler Frenhofer hatte Picasso Illustrationen geliefert: Der Maler und sein Modell auf der Suche nach der idealen Schönheit, dem absoluten Meisterwerk. Was aber, wenn sich das angestrebte "Meisterwerk" letztlich – wie in Balzacs Geschichte - als chaotisches Gekritzel entpuppt? Als "gribouillage"? So bezeichneten, ja, beschimpften schockierte Kritiker auch einst das Spätwerk Picassos, das eine Ausstellung in Avignon, kurz nach dem Tod des Künstlers 1973 präsentierte.
Magie der Kunstgeschichte
"Das ist die 'Magie der Kunstgeschichte'", sagt Kuratorin Coline Zellal. "Der Diskurs über die Kunst oder bestimmte Stilrichtungen kann sich von Zeit zu Zeit ändern. Und Picassos Ausstellung in Avignon war ein echter Schock. Niemand hatte solche Bilder erwartet. Ein paar Jahre später dann, als zum Beispiel Francis Bacon mit expressiver, gestischer Malerei Furore machte, änderte sich auch der Blick auf die Arbeit von Picasso."
Als "Meisterwerke" mag zwar auch heute wohl kaum jemand die schnell hingeworfenen Bilder der letzten Lebensjahre bezeichnen. Aber die spätere Rehabilitierung des erst verpönten Spätwerks ist typisch für die Karriere des genialen Grosskünstlers Picasso. Auch sein berühmtes Bild "Les Demoiselles d’Avignon" von 1907 erlangte erst sehr viel später Meisterwerk-Status.
Heute gilt es als die Ikone der Modernen Kunst, sozusagen die Geburtsurkunde des Kubismus. Und wird wohl das MOMA in New York nie wieder verlassen. Genauso wie das Reina Sofia Museum in Madrid niemals Picassos "Guernica" auf die Reise schicken würde. Reiseverbot ist Meisterwerk-Schicksal. Und so sind in Paris jetzt von den "Demoiselles d’Avignon" nur Vorstudien und ein 1958 nach dem Gemälde gefertigter Wandteppich zu sehen. Eine Tapisserie, über die Picasso oft sagte, sie sei "besser als das Original". Ein Super-Duper-Meisterwerk also?
"Das Interessante an Meisterwerken ist, dass sie nicht als solche auf die Welt kommen", sagt Coline Zellal und paraphrasiert Simone de Beauvoir: "Man wird nicht als Meisterwerk geboren, man wird dazu gemacht."
Zu Meisterwerken ernannt
Und Picasso und sein überbordendes, sich immer wieder erneuerndes Werk gab und gibt natürlich vieles her, was zum "Meisterwerk" taugt. Der französische Schriftsteller und Kulturminister André Malraux etwa sah in der Bronzeskulptur eines Mähers – "Le Faucheur" - ein "echtes Meisterwerk", die – Zitat - "Inkarnation selbst der Geste des Todes". In einem anderen Raum der Ausstellung wird die Ziege zu einem Meisterwerk-Motiv Picassos erhoben, ob als Skulptur, Skizze oder Gemälde. Oder die "Frauen bei der Toilette" aus dem Winter 1937-38: Die monumentale Collage, auf der die Portraits von Picassos Geliebten Olga, Marie-Thérèse und Dora Maar vereint sind, ist jetzt zum ersten Mal seit einer umfassenden Restaurierung wieder zu sehen.
Ebenso wie ein ganz frühes Bild, das dem altertümlichen Meisterwerk-Begriff wohl am besten gerecht wird: "Science et charité", ein technisch unglaublich perfektes akademisches Gemälde des erst 16-jährigen Pablo Picasso. Es zeigt eine Ordensschwester und einen Arzt an einem Krankenbett. Mit dem Bild verarbeitete der junge Picasso den Tod seiner kleinen Schwester. Vielleicht, so fragt man sich nach den vielen Meisterwerken der Ausstellung, vielleicht ist das "Meisterwerk" Picassos auch ganz einfach sein Gesamtwerk, die gebündelte Energie, Kunst und Leben immer wieder neu miteinander zu verbinden.