"Haut ab! … Kanaken! Hase, du bleibst hier…!" Der Video-O-Ton, der hier zu hören ist, zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit, wie rechtsradikale Demonstranten zwei Menschen mit Migrationshintergrund anbrüllen und jagen. Es entstand offenbar an jenem Sonntag Ende August, als sich in Chemnitz mehrere hundert Demonstranten aus meistenteils rechten Kreisen trafen. Anlass war die Tötung eines 35-jährigen Chemnitzers durch zwei Migranten.
Auf die Ereignisse des Sonntags sollten noch mehrere Demonstrationen folgen, die zu Kundgebungen rechten Hasses ausarteten. Wie inzwischen bekannt wurde, griffen mutmaßliche Neonazis dabei auch ein jüdisches Restaurant und dessen Wirt an.
Nicht nur die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt sich nun damit, ob das Video zum Beleg dienen kann, dass es in Chemnitz zu "Hetzjagden" kam, ob dieser Begriff zu stark ist für die Ereignisse in der sächsischen Stadt, und was die gefilmten und anders dokumentierten Szenen über das rechtsextremistische Gewaltpotenzial auf deutsche Straßen aussagen.
Ausgerechnet das berühmt gewordene "Hase, du bleibst hier"-Video hat der Chef des Bundesverfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen offenbar gemeint, als er vor wenigen Tagen gegenüber der "Bild"-Zeitung erklärte: "Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist."
Bislang unbelegte Zweifel am Video aus Chemnitz
Er habe auch keine belastbaren Informationen, dass es zu Hetzjagden gekommen sei. Noch ist offen, welche Folgen diese Behauptungen für Maaßen haben werden. Denn nahezu ausnahmslos halten deutsche Medien und, wie es scheint, selbst die Bundeskanzlerin das Video für echt - auch, weil die beiden Migranten mittlerweile Strafanzeige gestellt haben.
Was die Empörung über Maaßen - und damit auch über Bundesinnenminister Horst Seehofer, mit dem er sich abgesprochen haben soll - vergrößert: Der Verfassungsschutzchef hat durch seine bislang unbelegten Zweifel an dem Video jenen in die Karten gespielt, die die deutschen Medien nur noch als "Lügenpresse" bezeichnen.
Die Ablehnung etablierter Medien äußert sich bei rechtsgerichteten Demonstrationen immer häufiger als Gewalt gegen Journalisten. Wie im Februar 2017 am Rande einer "Pegida"-Demonstration in Dresden.
"Ey! Was soll das denn? / Schnapp dein Mikro und verschwinde! / Scheiß-Lügenmedien! / Es gibt Demonstrationsfreiheit, es gibt Meinungsfreiheit, und es gibt Pressefreiheit! / Halts Maul! / Ey, lass das los, hör auf! / Pack dein Zeug und verschwinde!" Der Mann, der hier einen Ellenbogen in die Seite gerammt bekommt und dem man versucht, sein Mikrofon zu entreißen, ist der Journalist Thilo Schmidt, der unter anderem für Deutschlandradio seit vielen Jahren über Demonstrationen aller Art berichtet.
"Dass man aber wirklich selber gezielt angegriffen wird und selber zum Ziel von Angriffen wird, das ist eine Situation, die ich, ich würde mal sagen, selbst auf Neonazi-Demonstrationen so nicht erlebt habe. Und vor allem nicht von Leuten, die von sich in Anspruch nehmen, dass sie das Volk sind. Also bei Neonazis weiß man ganz genau: Das sind gewalttätige Faschisten, die auch entsprechend von der Polizei beaufsichtigt werden. Von einer Masse, die von sich in Anspruch nimmt, das Volk zu sein, erwartet man sowas erstmal nicht."
Er habe deutlich gespürt, wie sich Stimmung und Verhalten gegenüber Medienvertretern in den vergangenen Jahren verschlechtert hätten, berichtet Thilo Schmidt.
"Wenn man ein Jahr später nochmal wiederkommt zum ersten Mal, und das ging mir jedes Mal so, es war immer eine gewisse Zeit dazwischen: Da war ich erschrocken, weil das sind völlig andere Qualitäten. Am Anfang wurde Lügenpresse gerufen, danach wurde man dann irgendwann beschimpft als Springer-, System-Presse oder ‚die Mafia von Bertelsmann ist wieder da‘ und solche Sachen. Und danach das Mal wurde ich geschlagen. Diese Sprünge sind schon dann sehr stark spürbar. Daraus leite ich her, dass sich diese Demonstration stetig radikalisiert – auch im Umgang mit Journalisten."
Was sich erneut in Chemnitz und zuletzt dieses Wochenende am Sonntag in Köthen wieder zeigte. Ein junger Mann war im sachsen-anhaltischen Köthen nach einer Auseinandersetzung mit Männern aus Afghanistan gestorben – mutmaßlich an Herzversagen. Wie zwei Wochen zuvor in Chemnitz wurde binnen kürzester Zeit aus rechtsradikalen Kreisen zu einer Trauerkundgebung aufgerufen. Wegen der Geschwindigkeit der Ereignisse waren nur wenige Journalisten vor Ort - doch diese wurden aus den Reihen der angeblich Trauernden angegriffen.
Beispielsweise Martin Kaul von der taz. Während er die Reden filmt, kommen Zuschauer und auch einer der vorherigen Redner auf ihn zu und bedrohen ihn. Kaul kann sich in Sicherheit bringen und berichtet:
"Die haben mich da also so ein bisschen rausgeschubst und sich dann mir in den Weg gestellt. Ich hab dann gesagt, ja alles klar, jetzt gehe ich lieber. Ich gehe. Lassen Sie mich bitte durch, ich gehe. Haben sich immer welche in Weg gestellt und mich so angeschubst und so. Und einer wollte mir mein Handy wegnehmen. Dann kam zum Glück die Polizei und hat mich rausgefischt. Die haben gesagt, ich soll lieber nach Hause gehen, weil sie können nicht garantieren, dass sie für meine Sicherheit sorgen können, wenn die Leute gleich alle hier diese verschiedenen Gruppen abziehen."
Wie in Chemnitz hat sich die einschlägige Szene auch in Köthen erstaunlich schnell mobilisiert: In hohem Tempo waren rechtsgerichtete Agitatoren und auch Anhänger vor Ort.
Beobachter schließen daraus, dass die Vernetzung rechter Gruppen zugenommen haben muss. Mittlerweile eine eher untergeordnete Rolle spiele dabei das soziale Netzwerk Facebook, das so lange in der Kritik stand, erklärt Miro Dittrich, der für die Amadeu Antonio Stiftung arbeitet. "Gerade mit dem Anfang von Pegida haben wir die Rolle von Facebook gesehen, die Sie gespielt haben. Die Leute haben sich auf Facebook organisiert. Danach waren Facebook-Gruppen, Facebook-öffentliche Seiten wohl das größte Mittel zur Mobilisierung. Wir haben jetzt aber gerade im Bezug zu Chemnitz und in letzter Zeit gesehen, dass die Kommunikation aus dem öffentlichen Raum zurückgeht."
Was vor allem daran liegt, dass Facebook, teilweise auch Twitter, offen rechtsextreme und rechtsgerichtete Inhalte schneller entfernen. Jetzt würden sich entsprechende Gruppen vor allem über Messenger wie Telegram und WhatsApp vernetzen. Die öffentlichen Gruppen seien von Rechercheuren gut aufzufinden, meint Dittrich - die geschlossenen Kanäle dagegen nicht.
"Diese privat organisierten Informations-, Interessensgruppen, Freundeskreisgruppen: Dort ist es quasi unmöglich, Zugang zu bekommen. Und das wird auch einen starken Teil gemacht haben von der Mobilisierung, die wir gesehen haben. Dort gab es sehr wenige öffentliche Mobilisierung auch auf so Telegram-Kanälen, sondern das lief mehr im privaten Kreisen."
Forscherin: YouTube als "Instrument der Radikalisierung"
Eine öffentliche Plattform hat sich in den letzten Monaten und Jahren als der neue Tummelplatz für Hass, Propaganda und Falschinformation hervorgetan: das Video-Portal YouTube.
"Eine große Rolle würde ich tatsächlich mittlerweile YouTube beimessen, die ich als eine der Radikalisierungsplattformen Nummer eins bezeichnen würde. Dort sehen wir im politischen Bereich sehr viele Rechtsextreme und rechtspopulistische Videos, die dort quasi unwidersprochen stehen. Das hat man auch stark gesehen in den Suchergebnissen. Wenn man die Tage danach Chemnitz angegeben hat, gab es in den Top 10 Ergebnissen so ein bis zwei Beiträge von klassischen Medien und sonst waren das entweder Russia Today oder rechtsextreme oder rechtspopulistische Kanäle."
Wissenschaftler sehen die Entwicklung sehr kritisch: YouTube verzerre die Realität, indem es immer neue Videos ähnlich zu dem, das man gerade sieht, als nächstes anbiete. Die Forscherin für Soziale Medien Zeynep Tufekci von der University of North Carolina sagte zur "New York Times": "YouTube kann zu einem der mächtigsten Instrumente der Radikalisierung des 21. Jahrhunderts werden."
Ein nicht so schnell zu klärender Todesfall, eine dafür verblüffend schnelle Mobilisierung von rechts, empörte Bürger, Streit um Begriffe und heftige Kritik an den Medien: Diese Zutaten zum Skandal von Chemnitz haben in Sachsen auch deshalb solche Wellen geschlagen, weil dort in einem Jahr Landtagswahlen sind. Ministerpräsident Michael Kretschmer steht unter hohem Druck, die inzwischen seit Jahrzehnten bestehende CDU-Mehrheit im Freistaat gegen die AfD zu verteidigen. In Umfragen steht seine CDU bei etwa 30 Prozent, rund 10 Prozent weniger wären das als bei den Wahlen 2014. Die AfD liegt auf Platz zwei, etwa fünf Prozentpunkte dahinter.
Kretschmer wählte dafür bei seiner Regierungserklärung vergangene Woche eine für ihn neue Methode: Frontalangriff.
"Sie sind für die Spaltung in unserem Land zum großen Teil verantwortlich. Sie sind an den Dingen, die in Chemnitz sind, mitverantwortlich. Und ich muss Ihnen sagen, nach dem Besuch der Bundeskanzlerin und ihrem Auftritt vor dem Landtag habe ich gelernt, dass ich ein Volksverräter bin. Und ich habe es in Chemnitz jemandem gesagt, der mich daraufhin angesprochen hat: Volksverräter, meine Damen und Herren, sind die Leute, die in Berlin-Plötzensee erhängt und erschossen wurden. Und wer solche Begriffe verwendet, stellt sich außerhalb jeder Rechtsordnung."
In Chemnitz hatten Fraktionsmitglieder der sächsischen AfD Seite an Seite mit Rechtsextremen demonstriert. In seiner Rede bezeichnete Kretschmer den Rechtsextremismus als größte Gefahr für unsere Demokratie. Er sagte aber auch - als eine Art Startschuss für die Debatte um Verfassungsschutz-Chef Maaßen: "Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd. Es gab kein Pogrom in Chemnitz. Das sind Worte, die das, was dort passiert ist, nicht richtig beschreiben, und das ist auch notwendig, dass man das in dieser Regierungserklärung genauso sagt."
Die Doppelstrategie des Ministerpräsidenten
Über Medienvertreter, die entsprechend berichtet oder geurteilt hatten, sagte Kretschmer: "Es verwundert nicht, dass diejenigen, die sehr nah dran sind an den Geschehnissen, die aus Chemnitz kommen, besonders objektiv und konkret darüber berichten. Aber was verwundert, und was aus meiner Sicht auch nicht in Ordnung ist, ist dass diejenigen, die besonders weit weg waren, ein besonders pauschales, hartes und oft falsches Urteil über diese Stadt treffen, meine Damen und Herren."
Während seiner Rede erhielt Kretschmer abwechselnd Applaus von allen Fraktionen - ein ungewöhnliches Bild im sächsischen Landtag. Es ist auch Folge von Kretschmers inzwischen erkennbarer Doppelstrategie Richtung Landtagswahl 2019. Einerseits findet der junge Ministerpräsident, der erst seit acht Monaten im Amt ist, deutliche Worte im Kampf gegen Rechtsextremismus. Gleichzeitig aber will er aber auch Wähler zurückgewinnen, die zuletzt bei der Bundestagswahl in Sachsen die AfD zur stärksten Kraft gemacht haben.
Kretschmer reist daher wöchentlich in die Regionen des Bundeslandes, stellt sich den Bürgerinnen und Bürgern. In Situationen, in denen Grundlegendes zur Demokratie geklärt werden muss, gerät seine Doppelrhetorik an ihre Grenzen. Beim "Bürgerdialog" in Chemnitz - lange vor den Ausschreitungen angesetzt - zeigte er Verständnis für die Wut und Empörung der Menschen, die auf die Straße gegangen waren. Doch sei es schlecht, dabei zu sein, wo der Hitlergruß gezeigt werde. Darüber freilich musste der Ministerpräsident sich dann noch Fragen gefallen lassen.
"Das Schlimmste, was da passiert ist, ist der Mord. (Tatsächlich wird wegen Totschlags ermittelt, Anm. d. Red.). Für den gibt es keine Rechtfertigung. Und wir werden mit aller Härte des Gesetzes die Sache aufklären. Punkt. Und jetzt, wenn ich das gesagt habe, sind wir uns über die anderen Sachen, die danach passiert (sind), auch einig, ja? Dass das auch nicht in Ordnung ist. Und Sie sind auch der Meinung, dass Hitlergruß zeigen nicht okay ist. Ja, dann sind wir ja klar, dann haben wir ja keinen Dissens. Dann ist der Nächste dran."
Kretschmer erhält viel Lob für seinen Offenheit und seine Dialogbereitschaft. Doch manch einer sieht auch eine Gefahr darin. Frank Richter war lange Chef der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, er möchte diesen Monat noch Oberbürgermeister in Meißen werden.
"Es kann doch nicht der Eindruck entstehen, als ob der Bürger, der Eintritt gekriegt hat in die Stadthalle in Chemnitz, einen direkten Einfluss auf den Ministerpräsidenten hätte. Das bedeutete ja die Entparlamentarisierung unserer demokratischen Ordnung. Und das Umgekehrte stimmt auch nicht. Der Ministerpräsident kann doch nicht eins zu eins das mitnehmen, was der Bürger gesagt hat. Wo leben wir denn? Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, und das Verständnis dafür, wie unser Staat funktioniert, muss sich viel gründlicher herumsprechen."
Ob die Enttäuschten, Wütenden oder einfach rassistisch Motivierten nach ihren Gesprächen mit Kretschmer und seinen Ministern tatsächlich die CDU wählen, bezweifeln Beteiligte der Staatsregierung halböffentlich selbst.
Kretschmers Strategie könnte jedenfalls auch dazu führen, dass weder rechtskonservative noch liberale Wähler zur Sachsen-CDU zurückkehren.
Auch, wie in der 240.000-Einwohner-Stadt Chemnitz die Ereignisse dieses Spätsommers verarbeitet werden, muss sich noch herausstellen. Mit großem Elan bereitet sich Chemnitz seit Monaten auf den Wettstreit um den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2025" vor. Nach den Aufsehen erregenden Bildern von Hitlergrüßen und erkennbar rechtsextremen Schlägertrupps meinte mancher, diese Bewerbung habe sich nun wohl erledigt.
Also: Absagen? "Nein!", sagte Egmont Elschner vom Verein "Freundeskreis Chemnitz e.V." energisch in einem Interview mit dem MDR: "Jetzt erst recht, jetzt zeigen wir Kante dagegen. Wir sind mehr!"
Die meisten Chemnitzer wüssten genau, dass sie in der Mehrzahl seien gegenüber denjenigen, die fremdenfeindlich und rassistisch skandierend durch die Straßen der Stadt gezogen seien, sagt Elschner überzeugt. Man habe in den vergangenen Jahren enorm viel erreicht in der Stadt: Gegen jeden Trend wachse die Stadt. Dass das kulturelle und wissenschaftliche Leben blühe, sei öffentlich kaum wahrgenommen worden, beklagt Elschner, der auch Vorsitzender des Kulturbeirates der Stadt Chemnitz ist. Für ihn steht außer Frage, dass die Bewerbung um den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2025" fortgesetzt werden muss:
"Wir machen weiter, wir leben unser Leben weiter und zwar stolz, und auch mutig, und wir verfolgen auch den Weg zur Kulturhauptstadt so weiter, weil wir wissen, dass Kultur eben nicht nur was Schönes ist, nicht nur Wagner-Festspiele oder Mozart, sondern Kultur ist das Miteinander untereinander, und dieser Austausch und dieses aufeinander Hören und vielleicht auch Zulassen, was einem selbst nicht unbedingt gefällt, und das müssen wir lernen."
Zerrissene Gesellschaft wieder zum Dialog bewegen
Das sieht auch Lars Fassmann so. Der Chemnitzer IT-Unternehmer und Stadtrat engagiert sich seit Jahren in seiner Stadt für die Akteure der freien Szene und Subkultur. "Ja, also die Kulturhauptstadt richtet sich ja an Städte, die sich gern weiterentwickeln wollen, insofern macht es mehr Sinn als vorher."
Auf dem Chemnitzer Sonnenberg, einem traditionellen Arbeiter- und Altbauviertel, in dem sich über viele Jahre vor allem rechtsgerichtete Aktivitäten abspielten, hat Firmenchef Fassmann ein gutes Dutzend heruntergekommener Mietshäuser aufgekauft, hergerichtet und Künstlern der alternativen Szene zur Verfügung gestellt. Aus seiner Sicht sind gerade die kleineren Strukturen, wie Vereine und Initiativen, jetzt gefragt, um die zerrissene Gesellschaft wieder zum Dialog zu bewegen und zugleich die Bewerbung zur Kulturhauptstadt zu befördern:
"Also, man kann sich jetzt nicht auf die Städtischen Kunstsammlungen konzentrieren oder auf das Theater. Es gibt ganz, ganz viel andere Formate, die Menschen abholen. Das ist eine wichtige Funktion, und die andere wichtige Funktion ist es, dass Kunst und Kultur, insbesondere auch die Subkultur, eigentlich auch ein gesellschaftliches Experimentierfeld sind, also dass ich Künstlerinnen und Künstler habe, die ganz neue Formate entwickeln, um auch gesellschaftlichen Wandel voranzubringen."
So wie etwa die Akteure im Chemnitzer Lesecafè "Odradek". Seit siebeneinhalb Jahren gibt es dieses selbstverwaltete Kulturcafé im Herzen der Stadt. Es zieht ein ganz gemischtes Publikum an und nicht jedem gefällt das Kulturkonzept. Im vergangenen Jahr gab es zwei bisher unaufgeklärte Anschläge auf das Lokal.
Für den 32-Jährigen Chris Münster, der das Lesecafé gegründet hat, bildet die Kultur den Schlüssel zur Aufarbeitung der jüngsten Ereignisse in seiner Stadt. In Chemnitz gebe es genügend Menschen, die jetzt ein Gegenbild setzen wollten zu den Bildern, die um die Welt gingen. Lange habe man darauf hingewiesen, dass es hier ein Problemfeld gebe, sagt Chris Münster mit Blick auf die NSU-Unterstützer-Szene. Die Chancen für eine erfolgreiche Kulturhauptstadt-Bewerbung sieht er als Kulturbotschafter und Mitglied des Programmrates gar nicht mal als so schlecht.
Dieses öffentliche Bewusstsein will auch der Chemnitzer Kulturbeiratsvorsitzende Egmont Elschner positiv nutzen: "Natürlich ist es scheußlich mit diesem Image im Moment, aber es beweist, welche Aufbrüche notwendig sind. Und "Aufbruch" ist das Thema unserer Kulturhauptstadtbewerbung, und wir meinen, dass wir erst recht jetzt, mit dieser Situation, mit den Menschen und vor allem auch in der Gesamtheit aller Chemnitzerinnen und Chemnitzer es schaffen können und schaffen wollen!"
Schon der Weg zu dieser Bewerbung, so sehen es die Betreiber der "Kulturhauptstadt"-Idee, sei doch eine Chance für die Stadt, mit Hilfe der demokratischen Kräfte einen innerstädtischen, gesellschaftlichen Aufbruch zu beginnen.