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Chen Guangcheng
Das Leben des blinden chinesischen Anwalts

Chen Guangcheng, ein blinder Bauernsohn aus China, war ein verfolgter Aktivist und floh 2012 in die USA. Seine spannende Lebensgeschichte erzählt der 40-Jährige in dem Buch "Der barfüßige Anwalt. Ein Bericht aus dem Gefängnis China".

Von Katharina Borchardt |
    Im Mai 2012 traf der blinde chinesische Anwalt Chen Guangcheng in New York ein. Kurz trat er vor die versammelte Presse, die gebannt auf sein Gipsbein starrte. Auf seiner waghalsigen Flucht aus seinem von gut 70 Wachen umstellten Haus hatte er sich den Fuß gebrochen. Warum er fliehen musste und wie ihm diese Flucht gelang, schildert Chen nun sehr detailliert in seiner politischen Autobiografie "Der barfüßige Anwalt". Eine in den Buchdeckel gedruckte Karte der Umgebung seines Hauses in einem Dorf in der Provinz Shandong macht sein Entkommen über Mauern, durch Ziegenpferche und über Felder auch grafisch nachvollziehbar. Dass es Chen schließlich bis in die amerikanische Botschaft in Peking schaffte, ist sicherlich seinem festen Willen zuzuschreiben. Denn den Fuß hatte er sich schon 30 Meter hinter seinem Haus gebrochen - doch:
    "Ich war entschlossen, weder dem Schmerz noch meiner Furcht nachzugeben. Komme was wolle, ich würde nicht aufgeben. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Weg, der vor mir lag, und dachte nur daran, wie ich all die Hindernisse überwinden konnte, die noch vor mir lagen. Ich würde einen Weg finden."
    Nur ein so entschiedener Mann kann schaffen, was Chen Guangcheng gelang und wovon er auf gut 400 Seiten erzählt: geboren in eine bitterarme Bauernfamilie, als Kleinkind erkrankt und erblindet, mit 17 Jahren erstmals regulär zur Schule gegangen, traditionelle chinesische Medizin studiert, sich parallel dazu juristisch weitergebildet, um sich einzusetzen für die Rechte chinesischer Behinderter. Später prangerte er die Korrumpierbarkeit der kommunistischen Beamtenschaft an und kämpfte gegen brutale Spätabtreibungen und Zwangssterilisationen. Damit brachte er die chinesischen Behörden dermaßen gegen sich auf, dass sie ihn von Schlägertrupps überfallen, entführen, foltern und schließlich in seinem eigenen Haus jahrelang unter Hausarrest stellen ließen.
    Simple Darstellung des Gegners
    Chen Guangchengs Willensstärke ist also ganz bemerkenswert. Sie klingt aber auch - da er sie in jedem Kapitel betont - etwas formelhaft und legt ihn charakterlich auf ein Hauptmerkmal fest. Außerdem macht sie aus seiner Biografie eine straffe und umweglose Entwicklungsgeschichte. Auch sein politisches Urteil ist von Anfang an kompromisslos. Etwa wenn er davon erzählt, wie er als Kleinkind erblindete, weil sich seine Eltern die ärztliche Untersuchung nicht leisten konnten:
    "Man könnte sagen, dass ich vom Kommunismus geblendet wurde, genauer gesagt von einer Welle realitätsferner, leerer kommunistischer Propaganda, die jahrzehntelang im Land verbreitet wurde. Die Kommunistische Partei, die dem Land die 'wissenschaftliche Entwicklung' brachte, brüstete sich mit Krankenhäusern und kostenloser medizinischer Versorgung und damit, wie gut die Menschen behandelt wurden. Immer wieder hörten wir, wie viel besser als in der Vergangenheit das Volk jetzt lebe. In Wahrheit erhielten wir nicht einmal eine grundlegende medizinische Versorgung, wir waren Krankheiten schutzlos ausgeliefert."
    Kapitel um Kapitel liefert Chen Guangcheng Nachweise dafür, wie verdorben das politische System und wie korrupt die Parteikader selbst im ländlichen Raum sind. Seine Schilderungen wirken glaubhaft. Gleichzeitig schleicht sich bei fortschreitender Lektüre eine gewisse Langeweile ein, denn man bekommt den Eindruck, dass hier ein Gegner allzu simpel dargestellt wird.
    Begegnung mit dem Aktivisten Hu Jia
    Sobald es aber um das chinesische Rechtssystem geht, geht Chen ins Detail. Besonders gut kennt er sich mit den Rechten von Behinderten aus. Diese sind zum Beispiel von bestimmten Steuern befreit und dürfen Öffentliche Verkehrsmittel kostenlos nutzen. In der Praxis aber wird ihnen dies meist nicht zugestanden. Chen hat diese Rechte mit den Jahren immer mutiger eingefordert und auch Kontakte zu anderen Juristen sowie zu Diplomaten und Journalisten geknüpft. Das führte zu einer ersten Festnahme, schreibt er, deren Rechtsgrundlage er ebenfalls und auf bewundernswert sturköpfige Weise zu klären versuchte:
    "Sie verhörten mich mehrere Tage lang. [...] Wann immer ich sie aufforderte, mir das Gesetz über die nationale Sicherheit vorzulesen, damit ich die Rechtsgrundlage für ihr Vorgehen verstehen konnte, weigerten sie sich mit der Begründung, das Gesetz sei nur für den internen Gebrauch bestimmt."
    Eine absurde, fast komische Situation, die für Chen noch glimpflich ausging. Wenige Jahre später aber wurden die Daumenschrauben angezogen: Chen kämpfte inzwischen nicht nur für die Rechte von Behinderten, sondern auch gegen die heikle Ein-Kind-Politik. Er wurde erneut gefangen genommen, gefoltert und schließlich in seinem eigenen Haus eingesperrt. Auf seiner Flucht im Jahr 2012 begegnete er in Peking dem Aktivisten Hu Jia, was ihn zu einem der wenigen Dialoge in seinem Buch motiviert:
    "Hu Jia, mein Bruder", sagte ich, "endlich lernen wir einander kennen."
    "Ja, Guangcheng, mein Bruder", antwortete er. "Jetzt sind wir zusammen."
    Wie Behinderte in China leben
    So wie hier hat Chen Guangcheng seine Geschichte teils etwas simpel formuliert. Dennoch liest sich seine Lebensgeschichte spannend: Wir erleben einen blinden und kaum gebildeten Mann vom Dorf, der sich auf eigene Faust das nötige Wissen aneignet, um der Kommunistischen Partei und ihrer Rechtsauslegung die Stirn zu bieten. Darin unterscheidet er sich von anderen Dissidenten, die größtenteils akademisch gebildet sind und im städtischen Raum leben. Hier wären vor allem Gao Zhisheng und Xiao Rundcrantz zu nennen, die Anwalt und Staatsanwältin waren und in ihren Lebensgeschichten ebenfalls das chinesische Rechtssystem unter die Lupe nehmen.
    Aber auch an andere gebildete Dissidenten wie Liu Xiaobo und Hu Jia, Bei Ling, Ai Weiwei und im weiteren Sinne auch Liao Yiwu wäre zu denken. In Hu Jias unlängst erschienener Biografie "Für die Freiheit" wird übrigens ebenfalls von Chen Guangchengs Flucht berichtet, was das Netz gegenseitiger Bezugnahme in den inzwischen weltweit erhältlichen Dissidentenbiografien noch einmal verdichtet.
    Wichtig an Chens Buch ist auch, dass er davon erzählt, unter welchen Bedingungen Behinderte in China leben. Es ist beeindruckend nachzuvollziehen, wie er sich den Schulzugang erkämpfte und sich mit Hilfe von Vorlesern das juristische Wissen aneignete, das er später so korrekt anwendete, dass er die Kommunistische Partei bis aufs Blut reizte.
    Chen Guangcheng: Der barfüßige Anwalt. Ein Bericht aus dem Gefängnis China. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Rowohlt-Verlag, 416 Seiten, 19,95 Euro.

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