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Cherilyn MacNeil und ihre Band Dear Reader
Musik gegen den Selbstoptimierungswahn

2006 hat Cherilyn MacNeil die Band Dear Reader gegründet. Mit ihrer Mischung aus Indie-Pop und Kammermusik und einer Stimme zwischen Kate Bush und Björk hat sie sich eine treue Fangemeinde erspielt. Das fünfte Dear Reader-Album, "Day Fever", ist eine Antithese zur schöngefärbten Welt der sozialen Medien.

Von Anke Behlert |
    Cherilyn MacNeil beim Dear Reader-Konzert im Lido in Berlin.
    Cherilyn MacNeil beim Dear Reader-Konzert im Lido in Berlin. (imago/Future Image )
    "Die Songs auf "Day Fever" sind eine Sammlung meiner Neurosen. Sie sind wie meine verkorksten Kinder, meine Ängste und Marotten alle auf einem Album vereint. Das war schwierig für mich, denn heutzutage präsentiert man ja immer nur seine beste Seite, vor allem in den sozialen Medien. Und generell soll man sich pausenlos optimieren und gesünder und produktiver werden. Ein Album rauszubringen, das all meine Schwächen zeigt, hat mir schon Angst gemacht. Aber jeder hat doch manchmal einen schlechten Tag, oder?", fragt Cherilyn MacNeil lachend.
    Schon, aber längst nicht jeder kann über seine Sorgen und Unpässlichkeiten so unterhaltsam singen, wie MacNeil alias Dear Reader. Sie erfindet Geschichten und Charaktere, in dem Song "I know you can hear it" geht es zum Beispiel um einen rachsüchtigen König, der eine Prophetin umbringen lassen will.
    Irgendwo zwischen Indie- und Kammerpop
    "Ich wurde sehr religiös erzogen und habe als Kind viel in der Bibel gelesen. Das kommt auf diesem Album stark zum Tragen. Der Song "I know you can hear it" ist von der Geschichte Salomes inspiriert, die den Kopf von Johannes dem Täufer auf einem Teller gefordert hat."
    Aber nicht nur mordlustige, biblische Gestalten haben ihren Weg in die neuen Dear Reader-Songs gefunden. In "So petty so pathetic" besingt Cherilyn MacNeil ein paar Berliner Ticket-Kontrolleure, an denen sie kein gutes Haar lässt, übt aber auch Selbstkritik.
    "Ich bin mit der Bahn gefahren und mir gegenüber saß ein obdachloser Mann. Als die Ticket-Kontrolleure kamen, war seine Fahrkarte seit zehn Minuten abgelaufen und sie haben ihn rausgeschmissen. Ich war so wütend! Ich bin nach Hause gegangen und der Song ist aus mir herausgesprudelt. Ich habe mich über die Situation so geärgert, weil die Typen so kleinlich waren, aber auch über mich selbst. Warum habe ich nichts gesagt? Ich war einfach zu langsam."
    Wenig Schlagzeug, dafür Orgel, Akkordeon, Synthesizer oder ein paar weich geschlagene Akkorde auf der Akustikgitarre bieten genug Platz für MacNeils mal zarten, mal selbstbewussten Gesang. Den Singer/Songwriter-Folk der ersten Dear Reader-Alben hatte sie ja schon mit ihrer letzten Platte "Rivonia" hinter sich gelassen. Jetzt bewegt sich MacNeil mühelos zwischen Indie- und Kammerpop.
    "Day Fever": Eine euphemistische Bezeichnung für Hysterie
    Für die Aufnahmen hat die 32-Jährige ihre Wahlheimat Berlin verlassen und ist nach San Francisco gereist. Dort hat sie die Songs zusammen mit dem Produzenten John Vanderslice in den Tiny Telephone Studios eingespielt. Vanderslice hat die Perfektionistin MacNeil vor eine neue Herausforderung gestellt: sie durfte alles nur einmal aufnehmen.
    "Wenn ich zu Hause arbeite, habe ich endlos viele Versuche. Aber in San Francisco war es so, dass John sagte: 'Heute machen wir die Gitarre.' Und dann hab ich den Part gespielt und wollte ihn mir danach anhören. Aber John meinte: 'Nein, das ist in Ordnung, weiter zum Nächsten.' Ich hatte also nur eine Chance, aber man wächst da über sich hinaus und spielt einfach besser. Wenn man so unter Strom steht, sind Energie und Intensität ganz anders, als wenn man etwas zum fünften Mal spielt."
    Der Albumtitel "Day Fever" ist eine euphemistische Bezeichnung für Hysterie - einer Diagnose, mit der man bis vor nicht allzu langer Zeit noch hinter Schloss und Riegel gelandet wäre. Aber - und damit kehren wir zur Eingangsfrage zurück - sind wir nicht alle manchmal ein bisschen dünnhäutig und unausgeglichen, oder haben einfach einen schlechten Tag? Eben. Und wenn es mal wieder soweit ist, setzt man sich Kopfhörer auf, hört "Day Fever" von Dear Reader und weiß: man ist nicht allein.