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Chico Buarque de Holanda
Abgesang auf die alte brasilianische Elite

Für viele Fans ist Chico Buarque de Holanda eine Ikone der brasilianischen Volksmusik, doch er ist auch Schriftsteller. Für seinen Roman "Vergossene Milch" ließ er sich von einem Lied inspirieren. Herausgekommen ist ein Blick auf die brasilianische Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der Großzügigkeit und Gewalt, Glanz und Elend dicht beieinander liegen.

Von Margrit Klingler-Clavijo |
    Blick auf die Stadt Rio de Janeiro und die Bucht, rechts ist die Christusstatue zu sehen
    Blick auf die Stadt Rio de Janeiro (Picture Alliance / dpa / EPA / Marcelo Sayao)
    Eulálio Montenegro d'Assumpcao, der Protagonist des Romans, liegt in einem schlecht ausgestatteten Krankenhaus von Rio de Janeiro und erzählt einer Krankenschwester und seiner Tochter aus seinem Leben. Dabei folgt der 100-jährige Greis keiner ersichtlichen Chronologie, sondern dem Lauf seiner mit wachsendem Alter verworrener werdenden Erinnerungen. Am besten in Erinnerung hat er die "Belle Epoque" und seine ungestüme Jugend, als er mit seinem Vater, einem Bonvivant und Frauenheld, auf dem Luxusdampfer "Lutetia" die erste Reise nach Europa unternahm. In der Pariser Garconnière des Vaters wurde er in die Geheimnisse der käuflichen Liebe eingeführt und in einem Schweizer Luxushotel zum Kokaingenuss animiert. Für die weiße Elite Brasiliens war Frankreich der Hort der Zivilisation, der politischen Allianzen und einträglichen Geschäftsverbindungen und eines "Savoir-vivre", das man am liebsten in die Tropen importiert hätte.
    Mit dem New Yorker Börsenkrach gingen die unbeschwerten Jugendjahre von Eulálio Montenegro d'Assumpcao jäh zu Ende. Seine Familie verlor einen Großteil ihres beträchtlichen Vermögens, das aus dem Kaffee-Export resultierte. Diese Verarmung und der damit einhergehende Macht- und Prestigeverlust hatten keinerlei Auswirkungen auf Eulálio Montenegro d'Assumpcaos aristokratisches Bewusstsein. Selbst auf dem armseligen Krankenbett gebärdet er sich noch als grandioser Vertreter der weißen Elite, der stolz auf seine Abstammung ist. Er brüstet sich mit einem Familiennamen - Assumpcao, mit P bitte - der automatisch die Pforten der Macht öffnet, da seine Familie über die Jahrhunderte hinweg enge Beziehungen zu den jeweiligen Machthabern pflegte.
    "Ich wollte noch sagen, dass mein Großvater am Tisch vom Kaiser Dom Pedro II. gegessen hat, dass er mit Königin Victoria korrespondiert hat (...) mein Vater war ein Republikaner der ersten Stunde, ein enger Vertrauter des Präsidenten, über seinen gewaltsamen Tod wurde sogar in der Presse in Europa berichtet, wo er großes Ansehen genoss und im Kaffeehandel als Makler tätig war. Er machte Geschäfte mit französischen Waffenfabrikanten, hatte Freunde in hoher Position in Frankreich, und um die Jahrhundertwende hat er sich schon als sehr junger Mann mit englischen Unternehmen zusammengetan. Mit seinem Sinn fürs Praktische war er Kompagnon der Engländer im Manaus Harbour."
    Projektionsfläche für Begierde und Befürchtungen
    Wie ein Besessener kommt der verarmte Aristokrat immer wieder auf Matilde zu sprechen, seine Jugendliebe und spätere Ehefrau, die ihn wenige Monate nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Maria verließ. Wegen des französischen Waffenhändlers Dubosc, des schwarzen Tänzers Balbino, einer unheilbaren Krankheit? Der Erzähler belässt es bei Andeutungen. Die Eifersuchtsdelirien des Ehemanns interessieren ihn anscheinend mehr als Matildes Innenleben. Was die attraktive Schwarze wohl zum Romantitel gesagt hätte, zur Muttermilch, die sie Eulálios Vorstellungen zufolge nach der Trennung ins Waschbecken eines Hotelzimmers tropfen ließ?
    Matilde muss als Projektionsfläche von Eulálios Begierden und Befürchtungen herhalten, als Symbol jener überbordenden tropischen Sinnlichkeit, die Mulattinnen zugeschrieben wird. Bildung und Weltgewandtheit à la française sind Eulálio zufolge nicht von ihr zu erwarten. Die Erinnerungen an Matilde halten jedoch den geborenen Charmeur und Schönredner Eulálio Montenegro d'Assumpcao keineswegs davon ab, das weibliche Pflegepersonal des Hospitals zu hofieren und eine Heirat mit der ihn betreuenden Krankenschwester ins Auge zu fassen.
    "Wenn ich hier rauskomme, heiraten wir auf der Fazenda, dem Ort meiner glücklichen Kindheit, da draußen am Fuß der Berge. Sie werden das Kleid und den Schleier meiner Mutter tragen, und das sage ich nicht, weil ich sentimental wäre, auch nicht wegen des Morphins. Dann bekommen Sie die Spitzentischwäsche, die Kristallgläser, das Geschirr, den Schmuck und den Namen meiner Familie. Können dem Hauspersonal Anweisungen geben, das Pferd meiner ersten Frau reiten. Und wenn es auf der Fazenda noch immer keinen Strom gibt, besorge ich einen Generator, damit Sie fernsehen können."
    Die parodistischen Züge des Romans treten besonders stark hervor, wo die Diskrepanz zwischen Eulálios aristokratischem Bewusstsein und den urbanen Lebenswelten des heutigen Brasiliens unüberbrückbar ist. Statt in den Chalets und Villen seiner Jugendjahre, die längst Hoch- und Parkhäusern wichen, wohnt Eulálio vor seiner Einweisung ins Krankenhaus in einem unansehnlichen Zimmer. Von Vermögen keine Spur. Und einer seiner Urenkel, der für seinen Krankenhausaufenthalt aufkommt, macht sein Geld mit Drogen. Die Peitsche, mit der man in seiner Familie die Sklaven in Schach zu halten pflegte, hat ausgedient.
    Rassismus à la brasileira
    "Nur dass Sie es wissen, Papa hat eine Peitsche, die liegt in der Bibliothek hinter der Enzyklopädie Larousse. Einmal hat er sie mir gezeigt, den aus Antilopenleder geflochtenen Riemen, die Lilie auf dem Griff. Die Peitsche ist nicht mehr in Gebrauch, es ist eine Familienreliquie, die er von seinem Vater, meinem Großvater Eulálio geerbt hat. Aber sowie er aus Europa zurück ist und hört, dass man seinen Sohn am Kopf geschlagen hat, wird er blindlings rundum Peitschenhiebe verteilen. Er wird sie alle auspeitschen, ganz gleich ob Mann oder Frau, er wird die siebenschwänzige Katze auf Sie loslassen, so wie mein Großvater auf dem alten Balbino. Balbino war kein Sklave mehr, aber man erzählt sich, dass er sich jeden Tag auszog und den Stamm von einem Feigenbaum umarmte, weil er das Bedürfnis hatte, Hiebe auf den Rücken zu bekommen. Und Großvater schlug ordentlich zu, ohne böse Absicht, er peitschte ihn mehr wegen des Knalls als wegen der Qual."
    Den Rassismus à la brasileira zeigt Chico Buarque de Holanda in seiner ganzen Bandbreite: die sexuellen Eskapaden des Großvaters mit den Dienstmädchen und Ammen der Fazenda, Eulálios Mutter, die sich über Matildes Haartracht und Körpergeruch ereifert. In den 1950er Jahren gab es mit Eulálio d'Assumpcao Palumba erstmals einen Schwarzen in der Familie. Dazu noch einer, der sich politisch engagierte. Nachdem 1964 die Militärs an die Macht gekommen waren, landete er wie seinerzeit viele Regimegegner im Gefängnis.
    "Vergossene Milch" ist der Abgesang auf eine brasilianische Elite, deren Glanzzeiten in die 1920er Jahre fielen, doch auch der Versuch, die brasilianische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erhellen, die großen historischen Ereignisse wie den New Yorker Börsenkrach, den Zweiten Weltkrieg und die Militärdiktatur und deren Auswirkungen auf die Geschicke eines Landes, in dem Großzügigkeit und Gewalt, Glanz und Elend dicht beieinander liegen.
    Chico Buarque de Holanda: "Vergossene Milch"
    Aus dem Brasilianischen von Karin von Schweder-Schreiner. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 19,99 Euro.