Im Zentrum von Chiles Hauptstadt Santiago protestieren vor allem junge Menschen. Viele von ihnen sind Schüler und Studierende. Sie treffen sich seit über zwei Monaten täglich am Plaza Italia, den sie auf Plaza de la Dignidad umgetauft haben – Platz der Würde. Camila Manríquez ist eine von ihnen:
"Ich bin gerade mit dem Studium fertiggeworden. In ein paar Monaten muss ich anfangen, meinen Bildungskredit zurückzubezahlen. Ich habe mich für den Rest meines Lebens verschuldet. Aber das war meine einzige Möglichkeit, um in diesem Land einen Universitätsabschluss zu bekommen."
Hohe Studiengebühren, hohe Schulden
Denn Bildung ist in Chile weitgehend privatisiert. Die Studiengebühren liegen je nach Universität und Studiengang zwischen 5.000 und 10.000 Euro im Jahr. Manríquez hat mit dem staatlich geförderten Bildungskredit CAE (Crédito con Aval del Estado) studiert. Zahlen der Stiftung Fundación Sol zufolge sind 446.000 Chilenen im Moment durch den Bildungskredit verschuldet. Und wer ihn nicht zurückzahlen kann, verliert die Kreditwürdigkeit. 80 Prozent der über 18-Jährigen in Chile sind verschuldet.
Viele fordern deshalb seit langem, dass die Regierung die Bildungsschulden erlassen sollte und dass Bildung kostenlos und für alle zugänglich sein sollte. Bereits bei den Schüler- und Studierendenprotesten 2006 und 2011 war die Forderung ein öffentliches Bildungssystem. Geändert hat sich seitdem wenig.
Emilia Schneider, 22 Jahre alt und Jura-Studentin, ist Sprecherin der Studentenföderation der Universidad de Chile FECh:
"Die Haushaltsmittel, die in die Banken für Bildungskredite und in gewinnorientierte Institutionen fließen, sollten in die öffentliche Bildung investiert werden. Nur so können wir das Recht auf Bildung für alle garantieren und eine demokratische, feministische und umweltbewusste Bildung aufbauen - als Grundrecht und nicht als Konsumgut."
Landesweite Proteste gegen soziale Ungleichheit
"Schwarzfahren, nicht bezahlen, eine andere Form des Protests" riefen hunderte Schüler und Schülerinnen vergangenen Oktober in den U-Bahn-Stationen in Santiago, während sie über die Drehkreuze sprangen. Sie waren es, die eine landesweite Protestbewegung ausgelöst haben, die seitdem anhält. Anfangs ging es um die Erhöhung der U-Bahn-Preise, mittlerweile um viel mehr: Die hohen Lebenshaltungskosten, die soziale Ungleichheit und das Wirtschaftssystem.
Die 18-jährige Ayelen Salgado ist Sprecherin der Asamblea de Estudiantes Secundarios, einer nationalen Vereinigung von Schülern und Schülerinnen. Sie meint, dass das Bildungssystem in Chile nur einen Aspekt eines viel tiefer liegenden Problems darstellt:
"Es gibt ein grundlegendes Problem, das alle Lebensbereiche betrifft und auch die Bildung: Die Profitorientierung. Bildung wird nicht als Grundrecht betrachtet. Sie ist ein Privileg, für diejenigen, die mehr haben. Diejenigen, die weniger haben, haben keinen Zugang zu qualitativer Bildung."
Gute Ausbildung nur für eine Elite
Schließlich kostet der Besuch einer Privatschule bis zu 800 Euro im Monat und die Hälfte der Bevölkerung in Chile verdient weniger als 500 Euro. Zudem bekommt nur ein Drittel der Schülerinnen und Schüler von öffentlichen Schulen danach auch einen Studienplatz an einer Universität. Deshalb kann sich nur eine kleine Elite eine gute Ausbildung für die Kinder leisten. Um das zu ändern, müsse es einen Systemwechsel geben, fordert Salgado.
Trotz der vielen Proteste hat das Bildungsministerium bisher jedoch nicht auf die Forderungen der Schüler und Studierenden reagiert. Bildungsministerin Marcela Cubillos hat ein Gesetzesprojekt ankündigt, das viele für eine Maßnahme zur Kriminalisierung der Protestbewegung halten:
"Als Regierung werden wir ein Gesetzesprojekt unterstützen, das die politische Indoktrinierung an den Schulen als schwerwiegende Rechtsverletzung klassifiziert. Wenn sich ein solches Verhalten wiederholt, sollen Sanktionen über die Schule verhängt werden und die Schule ihre Anerkennung verlieren."
Bildungssystem aus der Ära Pinochets
Viele Experten betrachten die Bildungspolitik der chilenischen Regierung als gescheitert. Rodrigo Cornejo arbeitet am Chilenischen Observatorium für Bildungspolitik. Er meint, dass die Grundlagen für die Probleme des Bildungssystems in der Pinochet-Diktatur liegen, als viele Einrichtungen im Rahmen neoliberaler Wirtschaftsreformen privatisiert wurden. Nur 32 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Chile besuchen heute eine öffentliche Schule.
"Das Recht auf Bildung wird in Chile nicht garantiert. Heute gibt es kein öffentliches Bildungssystem. Es ist falsch, dass es sich in einer Krise befindet oder nicht gut funktioniert, das öffentliche Bildungssystem wurde zerstört. Hier wurde ein weltweit einzigartiges Experiment gemacht, indem extreme marktwirtschaftliche Maßnahmen und Privatisierungen vorgenommen wurden. Die Folgen davon, kein öffentliches Bildungssystem zu haben, sind brutal und das sehen wir heute im sozialen Umbruch."
Einen Wandel erhofft sich Cornejo durch die neue Verfassung, die Chile demnächst bekommen soll. Aber ein Systemwechsel sei nur möglich, wenn die neue Verfassung von Vertretern der Protestbewegung gestaltet werde und nicht von der politischen Elite, die die Demonstrationen verursacht hat.