"Über dem Norden Chinas ist ein schwerer Sandsturm hinweggefegt. In mehreren Städten führte er zu starken Sicht- und Verkehrsbehinderungen. In Peking verfärbte sich die Skyline Orange."
Der Nachrichtenkanal Euronews am 15. April 2015.
"Fahrzeuge schalteten Nebelscheinwerfer ein, um überhaupt noch Sicht zu haben. Viele Fußgänger legten Atemschutzmasken an, um sich vor dem Staub zu schützen. Auch in der benachbarten Provinz Hebei kam es zum ersten Sandsturm dieses Jahres, die Sichtweite war auf siebenhundert Meter begrenzt. Es kam zu Stromausfällen, Verkehrschaos, die Arbeit auf den Ölfeldern in der Region musste unterbrochen werden."
95 Prozent der Bevölkerung Chinas leben auf jenem Viertel des Staatsgebiets, das innerhalb der großen Mauer liegt. Hier finden wir die Reisfelder und Pagoden, Bambushaine und Metropolen, die für uns das Reich der Mitte ausmachen. Der Rest des Landes besteht überwiegend aus sehr dünn besiedeltem Hochland. Es beginnt auf sechshundert Metern im Nordosten, an der Grenze zu Russland und erreicht im Südwesten das tibetische Plateau. Ein großer Teil dieser riesigen Gebiete sind Wüste oder unbewohntes Hochgebirge. Überall sind die klimatischen Bedingungen so hart, dass mit wenigen Ausnahmen kein Ackerbau möglich ist. Die Winter sind lang und das Klima so trocken, dass kaum Bäume, sondern nur Gräser gedeihen. Im Nordosten, an der Grenze zu China und der Mongolei findet man gewaltige Steppen und in Tibet die größten alpinen Grasländer der Erde. Seit alters her wird dieses Grasland von Nomaden genutzt. Die meisten sind Mongolen oder Tibeter. Doch ihr Land verdirbt. Überall in den Grasländern Chinas nimmt die Vegetation ab. Eine verheerende Erosion ist die Folge. Am sichtbarsten ist dieser Prozess im Norden Chinas.
Jayne Belnap: "Die Staubstürme haben seit den sechziger Jahren zugenommen, wie wir auf den Sattellittenaufnahmen erkennen können."
Jayne Belnap ist eine energische Frau Ende fünfzig. Die Amerikanerin ist eine der weltweit führenden Experten für das Ökosystem Steppenlandschaft. Mehrmals hat sie in China geforscht: "Ich habe mit jemanden von der NASA gesprochen, der sagte, früher seien sie sehr aufgeregt gewesen, wenn sie einmal einen Staubsturm erblickten und zehn Jahre später war es eine Sensation, wenn es keinen Staubsturm gab. In Peking haben sie jetzt das halbe Jahr über erhöhte Partikelzahlen in der Luft. Eine Million Tonnen Staub wird jedes Jahr durch die Stadt geweht, was enorme Gesundheits- und ökonomische Probleme verursacht. Und es wird noch schlimmer werden."
In Südkorea und Japan haben die Beschwerden über den Staub aus China so zugenommen, dass China 2002 einwilligen musste, mit Vertretern derParlamente beider Länder eine trilaterale Kommission einzurichten. Doch geändert hat sich nichts. Der Staub erreicht mittlerweile die Westküste der Vereinigten Staaten. Im Death Valley östlich von Los Angeles ist an manchen Tagen die Sichtweite deutlich eingeschränkt. Jayne Belnap gehört zu einer Gruppe Wissenschaftler, die sich mit den Ursachen beschäftigt hat. "Auf Satellitenaufnahmen sieht man diesen riesigen Unterschied zwischen der Äußeren und der Inneren Mongolei und wir fragten uns, woher kommt das?"
Die chinesische Provinz "Innere Mongolei" ist vier Mal so groß wie Deutschland, hat aber nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung. Sie liegt im Norden Chinas und grenzt an den mongolischen Staat, den man traditionell "Äußere Mongolei" nennt. Hier wie dort lebt die Bevölkerung von der Viehzucht, denn die natürlichen Bedingungen lassen keinen Ackerbau zu. Niederschlag fällt nur im Sommer und zwar so wenig, dass nur Gräser, aber keine Bäume wachsen. Außerdem ist das Klima auf der mongolischen Hochebene streng kontinental. Im Sommer ist es brütend heiß, ab Oktober herrscht Dauerfrost und im Winter sinken die Temperaturen auf unter minus 50 Grad Celsius. Die nördlichsten Wüsten und der südlichste Permafrost der Welt liegen hier. Jayne Belnap: "Direkt an der Grenze war die Biomasse in der Inneren Mongolei viel geringer, als in der Äußeren Mongolei. Das Gras war viel kürzer und spärlicher in der Inneren Mongolei und viel länger und dichter in der Äußeren Mongolei. Weder der Boden kam als Ursache dafür in Frage noch das Klima, weil das direkt an der Grenze war. Auch die Zahl der Tiere unterschied sich nicht wesentlich. Es musste die Landnutzung sein. Die politische Grenze machte den Unterschied aus. Auf der einen Seite lebten Nomaden, die immer in Bewegung blieben. Die Viehhalter auf der anderen Seite waren sesshaft und nutzten ein- und dasselbe Stück Land wieder und wieder."
In den innerasiatischen Steppengebieten hat sich in Jahrtausenden eine hochkomplexe Form der mobilen Viehhaltung entwickelt. Um den spärlichen Pflanzenwuchs möglichst optimal zu nutzen, ziehen die Viehzüchter von der Frühjahrs- auf die Sommer-, dann auf die Herbst-, und schließlich auf die Winterweide. Dabei beachten sie die verschiedenen Böden, die je nach Jahreszeit und Tierart verschiedene Vorteile haben. Manche Weiden sind nur für Kamele geeignet, andere nur für Schafe. Pferde kann man nach Schafen weiden lassen, doch nie Schafe nach Pferden.
"Im unabhängigen Staat Mongolei hat man diese Art der Landnutzung im Wesentlichen beibehalten. In der benachbarten chinesischen Provinz "Innere Mongolei" wurde vor dreißig Jahren ein folgenschwerer Beschluss gefasst. Die Nomaden sollten nicht länger herumziehen. Jede Familie wurde gezwungen, sich ein Stück Land einzuzäunen. Das Weideland sollte so intensiv genutzt werden, wie das Ackerland im eigentlichen China. Jayne Belnap über die Folgen:
"Theoretisch hört sich das gut an, aber in einer semiariden Landschaft mit sehr variablem Niederschlag reicht in vielen Jahren ein kleines Stück Land nicht aus, um die Tiere am Leben zu halten. Kein Grasland dieser Erde könnte diesem Druck standhalten. Grasländer überall auf der Welt gedeihen unter Herden, die immer in Bewegung sind. Einmal sind sie hier und dann sind sie wieder weg und kommen erst nach Monaten zurück. Wenn man Land privatisiert, müssen sie an einem Fleck bleiben. Welche Wahl haben die Viehzüchter? Sie halten die Anzahl von Tieren, die sie zum Überleben brauchen und das Land wird immer schlechter. In einer Gegend mit starken Regenfällen sind diese meist auch zuverlässig. Aber aride und semiaride Landschaften haben von Natur aus sehr variable Niederschläge. Das bedeutet, in manchen Jahren fällt sehr viel Regen, in anderen weniger. Es gibt kaum Jahre mit durchschnittlichen Regenfällen. Da müssen die Bewohner die Möglichkeit haben, umherzuziehen."
Jayne Belnaps Haltung ist Konsens unter westlichen Wissenschaftlern. Doch in China noch lange nicht.
"Interessant ist, dass die chinesischen Professoren von der staatlichen Universität der inneren Mongolei die Sache ganz anders sehen."
Troy Sternberg von der Universität in Oxford hat seine Doktorarbeit über Landnutzung in den Trockengebieten Innerasiens geschrieben. Zweimal war er längere Zeit zu Gast in der geografischen Abteilung der Universität von Hohot in der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz Inneren Mongolei: "Meinem Eindruck nach hat die Ausbreitung der Wüste die Kollegen dort nicht wirklich interessiert. Es ging nur darum, was man heute produziert, ohne Perspektive für die kommenden fünf oder zehn Jahre, was für Auswirkungen das alles haben wird. Aber die Viehzüchter müssen machen, was man ihnen sagt. So wurden zum Beispiel einer Familie, die ich besucht habe, Milchkühe aus Australien aufgezwungen. Jetzt leben diese Milchkühe aus dem gemäßigten Klima Australiens in der Gobi mit ihren extrem kalten Wintern. Der Viehzüchter hat zwanzig Kühe und soll davon seinen Lebensunterhalt bestreiten. Egal ob die Bedingungen dafür geeignet sind oder nicht. Er muss Milch abliefern."
Australische Milchkühe in einem Land, wo die Wintertemperaturen regelmäßig dreißig Grad minus unterschreiten. Das ist ein Extrembeispiel für die Art und Weise, wie die chinesische Politik die natürlichen Bedingungen in den Steppengebieten des Landes ignoriert.
Von einer Änderung dieser fatalen Herangehensweise kann keine Rede sein. Stattdessen hat die chinesische Regierung einen neuen Schuldigen gefunden: Die Nomaden, deren traditionelle Lebensweise man zerstört hat, sind angeblich unfähig das Land so zu bewirtschaften, dass es intakt bleibt. Also müssen sie und ihre Tiere verschwinden, wenn man Peking vor weiteren Staubstürmen bewahren will. Weite Steppengebiete werden radikal entvölkert, die Nomaden sollen Stadtmenschen werden.
Begleitet wird diese Politik von salbungsvollen Jubelartikeln. Präsentiert werden glückliche Nomaden, die jetzt endlich in richtigen Häusern leben und Partei und Regierung nicht genug preisen können. Doch wovon sollen die ehemaligen Viehzüchter leben? Auch da weiß die Staatspropaganda Antwort. Zum Beispiel schreibt die Tageszeitung China Daily am 28. Mai 2013 unter der Schlagzeile: "Das Nomadentum wendet sich dem Tourismus zu."
Obwohl Millionen Einwohner der Inneren Mongolei seit tausenden Jahren von der Viehzucht gelebt haben, wird sich die Region mehr auf den Tourismus verlassen, um die Lebensqualität und die Ökologie zu verbessern. Der Tourismus wird eine neue Möglichkeit für die Viehzüchter sein, die sich jetzt ansiedeln müssen, um Überweidung zu vermeiden und das Grasland zu schützen.
Der Artikel ist typisch für die Ignoranz der Staatsmedien. Dass die Nomaden längst nicht mehr umherziehen können, weil das Land privatisiert und eingezäunt wurde, wird nirgends erwähnt. Und schon gar nicht, dass erst diese Zerteilung des Landes zu der Katastrophe geführt hat. Nur angedeutet wird die Lösung der chinesischen Politik: Die radikale Entvölkerung der ehemaligen Nomadenregionen.
August 2013. Wir sind am Südrand der Wüste Gobi in einem Landkreis namens Abag Banner in der chinesischen Provinz Innere Mongolei. Abag Banner ist größer als das Bundesland Hessen, hat aber nur vierzigtausend Einwohner.
Um uns herum sind Frauen, die Kamele melken und Hirten, die eine Schafherde zusammentreiben. Diese Szene könnte sich auch im benachbarten Staat Mongolei abspielen. Zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen wird der Unterschied deutlich. Es fehlen die Jurten, die charakteristischen Filzzelte der Nomaden. Stattdessen sehen wir ärmliche, zusammenfallende Lehmhütten. Und überall Zäune. Moderne, teure Drahtzäune.
Abag Banner ist eines der letzten Gebiete im chinesischen Teil der Gobi, wo noch Kamele gehalten werden. Überall sonst ist die Kamelzucht längst abgeschafft. Kamele passen nicht in die neue Welt der Landaufteilung der chinesischen Regierung.
"Es ist widersinnig, die Weiden aufzuteilen. Die Kamele brauchen große Weideflächen. Man kann Kamele nicht auf kleinen Flächen halten. Auf diese Weise werden die Kamele ausgerottet. Trotzdem wird das bei uns so gemacht."
Batbayaar ist ein großer Mann mongolischer Herkunft. Er hat graue Haare, ist weit über sechzig und strahlt eine natürliche Autorität aus. Batbayaar ist ein Pseudonym. Der pensionierte Beamte will seinen wahren Namen nicht genannt wissen. Es ist zu gefährlich der staatlichen Propaganda zu widersprechen.
"Man hat den Nomaden gesagt, bis Ende des Jahres dürfen keine Tiere mehr in der Gobi gehalten werden. Deswegen haben sie letztes Jahr angefangen, ihre Tiere billig zu verkaufen. Nur wenige Leute dürfen in der Gobi bleiben. Der Rest muss in die Stadt ziehen. Man hat den Nomaden gesagt, was du dann dort machst, ob du Handlanger wirst oder eine andere Arbeit findest, ist deine Sache."
Wir treffen Batbayaar in der Stadt Schilin Gol. Dort wird der Landkreis Abag Banner verwaltet. Der Ex-Beamte war viele Jahre Mitglied der kommunistischen Partei und hat immer noch Verbindungen zur Führung der Provinz.
"Die Nomaden befinden sich in einer verzweifelten Lage. Einige von ihnen sind hierher gekommen und haben um Hilfe gebeten. Egal wie. Ich habe dies nach oben weiter gegeben. Von dort hieß es, ihr altes Leben habe keine wissenschaftliche Grundlage. Nur der Eintritt in die Moderne könne sie retten. Wir werden Euch helfen, sagt man den Nomaden, aber ihr müsst euer altes Leben aufgeben."
Batbayaar ist selbst als Nomade aufgewachsen und hat später Botanik studiert. Er glaubt nicht, dass die Politik der Regierung erfolgreich sein wird.
"Dieses Gebiet hat man zur Schutzzone erklärt und glaubt, so die Staubstürme in Peking zu verhindern. Sie denken, dass die Tiere der Weide schaden. Man weiß nicht, dass die Kamele und die Vegetation zusammengehören. Die Vegetation nützt den Kamelen und die Kamele befördern das Wachstum der örtlichen Pflanzen."
Batbayaar zögert, genauer zu erklären, welche Leute in der Hierarchie diese verhängnisvollen Entscheidungen treffen. Ein Freund von ihm, gleichfalls ethnischer Mongole und studierter Botaniker, hat weniger Hemmungen.
"Jahrelang haben wir uns mit diesen Fragen beschäftigt und sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Entwicklung kulturelle Ursachen hat. Wir haben hier den Zusammenstoß einer nomadischen mit einer Ackerbautradition. Das Hauptproblem ist, dass man das Land nach chinesischem Muster aufgeteilt hat."
Heute, drei Jahre später, sind die Nomaden und ihre Tiere aus dem Landkreis Abag Banner verschwunden. Das gilt für den größten Teil der Inneren Mongolei. Die chinesische Regierung hat es vorgezogen hunderttausende Viehzüchter zu entwurzeln und in die Städte zu zwingen, anstatt ihre verhängnisvolle Parzellierungspolitik aufzugeben. Was in der Inneren Mongolei passiert ist, geschieht genauso in den anderen Nomadengebieten Chinas. Ein Grund ist sicher die Arroganz der Kader aus dem Kerngebiet Chinas, die die Landnutzung der Nomaden für primitiv halten. Doch es gibt einen weiteren Grund. Es geht um eine endgültige Lösung der Probleme mit den sogenannten Minderheiten.
"Die Kultur der Völker jenseits der großen Mauer unterscheidet sich stark von der chinesischen Kultur. Das betrifft nicht nur die Lebensweise. Die Mongolen benutzen eine Schrift, die sich aus dem Arabischen herleitet, die Tibeter eine, die ihren Ursprung im indischen Sanskrit hat. Nirgendwo hat die chinesische Staatsphilosophie, der Konfuzianismus, je eine bedeutende Rolle gespielt. Hinzu kommt ein starkes Selbstbewusstsein, da Tibeter wie Mongolen viele Jahrhunderte lang in eigenen Staaten lebten. Schließlich und vielleicht am wichtigsten unterscheiden sich die Lebensweisen diesseits und jenseits der großen Mauer: Seit alters her ist die Mehrheit der Bevölkerung dort mit Viehherden umher gezogen, um die spärliche Vegetation zu nutzen.
Erst vor vierhundert Jahren wurden diese Völker in den chinesischen Staatsverband eingegliedert. In der Folgezeit kam es immer wieder zu Aufständen. 1948, nach dem Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg, begann eine neue Politik. Den sogenannten Minderheiten wurde große kulturelle Autonomie gewährt. Die Parole hieß, nationalistisch in der Form, sozialistisch im Inhalt. Doch es gelang nicht, die Gebiete jenseits der großen Mauer wirklich zu befrieden. Jedes Nachlassen der Zentralgewalt rief neue Unabhängigkeitsbestrebungen hervor.
Vor zehn Jahren ist China zu einer radikalen Politik übergegangen: Keine Zugeständnisse mehr. Die Minderheiten sollen sich im Mehrheitsvolk auflösen. Unterrichtssprache ist nur noch Chinesisch. Ausgewählte Schüler werden in Internate im eigentlichen China verlegt. Von dort sollen sie zurückkehren und führende Posten in ihrer jeweiligen Heimatregion einnehmen. Obendrein hat Peking tausende Kilometer Eisenbahnen und Straßen gebaut und Millionen Siedler angelockt. In der Inneren Mongolei sind Chinesen bereits die überwiegende Mehrheit. Aber sie leben hauptsächlich in den Städten und in den wenigen klimatisch günstigen Regionen. Das weite Steppenland war bis vor einem Jahrzehnt noch mehrheitlich von Mongolen bewohnt. Damit ist es nun vorbei. Die ehemaligen Nomaden hat man in der Stadt angesiedelt und ihre Assimilierung ist lediglich eine Frage der Zeit. Schwieriger ist die Lage im tibetischen Siedlungsgebiet. Dort sind Tibeter noch in der Mehrheit, und es gibt viel mehr Gegenwehr.
"Das tibetische Hochplateau nennt man auch den dritten Pol der Erde. 4500 Meter über dem Meeresspiegel breitet sich das eindrucksvolle Hochland auf 2,5 Millionen Quadratkilometern aus, beinahe halb so groß wie die Fläche der Europäischen Union. Zwei Drittel davon sind Grasland. Wie in der Inneren Mongolei sind die Klimabedingungen hart. Bloß in einigen kleineren, niedriger gelegenen Regionen wie um die Hauptstadt Lhasa ist Ackerbau möglich. Alles andere ist Wüste oder von Nomaden bewohntes Grasland. Die Hirten leben in schwarzen Zelten und halten hauptsächlich Yaks - langhaarige, zottelige Rinder, die an große Höhe und schneidende Winterkälte ideal angepasst sind."
Ist es in der Inneren Mongolei schwierig zu recherchieren, so ist dies in Tibet völlig unmöglich. Seit einem Aufstand 2008 waren nicht nur die autonome Provinz Tibet, sondern alle tibetischen Siedlungsgebiete immer wieder gänzlich für Ausländer gesperrt. Ausnahmen werden nur für kleine bestimmte Gruppen von Wissenschaftlern gemacht. So für die Mitarbeiter eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zusammen mit chinesischen Kollegen erforschen sie eine Graspflanze namens Kobresia Pygmea. Doch ein erster Versuch, mit einem der deutschen Wissenschaftler zu sprechen, wird abgeblockt. In der E-Mail heißt es:
"Wir haben uns mit den chinesischen Kollegen beraten und diese haben bezüglich des Interviews Bedenken. Das muss ich respektieren und Ihnen daher leider absagen."
Aber nicht alle Wissenschaftler sind so ängstlich.
Hier kommen wir in das Labor, in dem wir im Rahmen des Kobresia Projekts am meisten gearbeitet haben.
Wir sind an der Leibniz Universität in Hannover. Professor Georg Guggenberger, der Präsident der deutschen Gesellschaft für Bodenkunde, führt uns durch sein Labor. Er ist führend am Kobresia-Projekt beteiligt und war mehrmals längere Zeit in Tibet.
"Das ist, wenn man so will, Kohlenstofflabor. Wir haben hier einige Geräte, mit denen man die Kohlenstoffgehalte misst und zwar an diesen und an jenen Bodenproben; das heißt in der Festphase und in diesen Geräten wird der Wirkungsgrad gemessen. Da messen wir jetzt die Kohlenstoffkonzentration in der Lösungsphase. Bodengewässer beispielsweise. Man kann das erkennen hier, die Lösung ist leicht gefärbt, und das sind natürliche organische Substanzen, die eben teilweise gelöst sind. In jedem Bach, der beispielsweise ein Moor entwässert, kann man das erkennen."
Später, wir sitzen in seinem Büro, erläutert der Bodenkundler die Bedeutung seiner Forschungen.
"In Tibet finden Sie die größten sogenannten alpinen Grasländer d.h. Grasländer in großer Höhe so zwischen drei und fünftausend Meter Höhe finden sich diese Kobresia-Grasländer, auf, na ja, sicher ne Million Quadratkilometer von der Ausdehnung wirklich groß. Das ist ein Gras, das sehr gut an Beweidung angepasst ist. Auch Viehtritt stört da den Boden überhaupt net und das wichtige ist an dem Kopresia-Grasland: das hat nen ausgeprägten Wurzelfilz. Und dieser Wurzelfilz ist sehr hart. Normalerweise auch sehr gut geschützt gegen Viehtritt und diese Grasländer gibt es seit circa acht- oder neuntausend Jahren, und es hat sich offenbar zusammen entwickelt mit der Intensivierung der Beweidung von großen Weidetieren und die Yaks werden auch seit fünf-, sechstausend Jahren domestiziert, es gab große Herden und dieses Kobresia-Grasland ist eben in idealer Weise auf die Beweidung durch die Yaks angepasst."
Jetzt ist das Kobresia-Grasland bedroht. Die Fähigkeit Wasser zu speichern nimmt ab und die Erosion nimmt zu. Das hat gravierende Folgen für die größten Flüsse Indiens und Chinas, die allesamt im tibetischen Hochland entspringen. Warum Kobresia Pygmea schwindet ist somit eine hochwichtige Frage.
"Die Nomaden, halt die Tierhalter die sind natürlich hin und hergezogen, sie hatten Sommerweiden, Winterweiden und insofern war quasi der Weidedruck durch die Yaks auf die gesamten Weiden, auf den gesamten Bereich verteilt. Man spricht da im Englischen bei uns vom sogenannten Moderate Grazing. Wenn man so will angepasste Beweidung. Nachdem jetzt die Chinesen Tibet übernommen haben, gab es dann große Programme, dass eben die Nomaden in Siedlungen gezwungen sind und das hat dann dazu geführt, dass Bereiche, die näher an den Siedlungen sind, stärker beweidet wurden und Überweidung führt dann zur Schädigung dieser Kobresia-Wiesen. Man kommt dann wirklich im Extremfall von einer absolut tollen, schützenden Pflanzendecke hin zu offenem Boden."
Es ist dieselbe Geschichte wie in der Inneren Mongolei. Erst hat die chinesische Regierung das Land eingezäunt und jetzt steht sie vor gewaltigen Umweltproblemen. Wie gefährlich der Rückgang der Kobresia-Wiesen ist, sieht man am Gelben Fluss, von dem ein großer Teil der Wasserversorgung Nordchinas abhängt. Jahr für Jahr führt er weniger Wasser aus Tibet mit sich. Dafür immer mehr Sedimente, die Staudämme und Kanäle verstopfen. Auch in Tibet hat man auf riesigen Flächen jegliche Beweidung verboten und hunderttausende Viehzüchter in Städten angesiedelt. Das führt keineswegs zu einer Erholung der Böden.
"Wenn man überhaupt nicht beweidet oder die Beweidung sehr stark zurückfährt, das ist auch nicht gut. Weil dann kommt man von diesem Optimum der Anpassung des Kobresia-Rasens mit der Beweidung weg. Der Anteil des Kobresia Pygmea, das ist die Pflanze, an der Vegetation geht zurück, es kommen andere Pflanzen. Was dazu führt, dass wir Kohlenstoff im Boden verlieren, der dann auch wieder als CO2 in der Atmosphäre landet und auch die Futterqualität wird schlechter. Insofern, das, was die Nomaden eigentlich über Jahrtausende hinweg gemacht haben, ist natürlich die optimale Einstellung auf die Umgebung."
Im März 2016 treffen wir einen Tibeter, der die ursprüngliche Lebensweise der Nomaden noch selbst erlebt hat.
"Mein Name ist Golog Jigme und ich bin in Tibet in einer nomadischen Familie geboren."
Der 44-Jährige lebt in einer modern eingerichteten Wohnung im Zentrum von Zürich. Nur buddhistische Rollbilder verraten, dass hier Exiltibeter wohnen. Golog Jigme ist ein kleiner, rundlicher Mann, der beim Gespräch Gebetsperlen durch die Finger gleiten lässt. Er trägt die rote Robe buddhistischer Mönche. Jigme stammt aus der Provinz Quinghai im Nordosten des tibetischen Hochlandes, ein sehr dünn besiedeltes Gebiet.
"Die nächstgrößeren Städte sind Serta oder Gantze. Und diese beiden Städte liegen etwa gleich weit voneinander entfernt. Früher sind wir mit dem Pferd geritten und wenn man mit dem Yak gegangen ist, dann hat es länger gedauert, etwa vier Tage.
Wir sind vier Mal im Jahr an neue Orte gezogen. Und meistens, wenn wir uns entschieden haben, weiter zu gehen, haben wir uns mit anderen Familien oder Freunden zusammen getan, die auch weiter ziehen wollten. Hatten wir einen guten Ort gefunden, ließen wir uns nieder. Dann wurde das Gebiet markiert."
Golog Jigme spricht hier von der Winterweide. Die Winterweide ist der entscheidende Engpass im Leben der Nomaden. Heu wird nicht gemacht, da im Winter kaum Schnee fällt und die Weiden zugänglich sind. Damit das lebenswichtige Futter nicht vorzeitig abgefressen wird, markieren die Nomaden im Herbst die Gegend, in der sie den Winter verbringen wollen.
"Wenn andere Familien die Markierungs-Pfosten sahen zogen sie weiter. Im Winter haben wir im Zelt Feuer gemacht und uns Betten gebaut. Diese Kindheit als Nomade war eine sehr glückliche Kindheit. Zuerst wurde Schafskot aufeinander geschichtet. Auf diesen Schafskot wurde ein dicker Schafspelz gelegt, auf den Schafspelz noch Heu und darauf zuletzt eine Holzplatte. Das war sehr, sehr warm, selbst im Winter. Als ich klein war, haben wir immer ein paar Stunden gelernt, gelesen und danach haben wir auf dem vereisten Fluss gespielt. Wir hatten sehr viel Spaß."
Offiziell sind die tibetischen Nomaden glücklich, dass man sie an die Moderne heranführt und sie in richtigen Häusern leben können. Von Zwang kann keine Rede sein. Diese Botschaft wird auf allen Kanälen und auch im Ausland verbreitet. So meldete die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua am 12. Juli 2012, dass sich schon über eine Million tibetische Nomaden freiwillig angesiedelt hätten. Eine wissenschaftliche Umfrage habe ergeben:
"Ihr Ziel ist klar. Sie wollen, dass ihre Kinder zur Schule gehen und später mehr Möglichkeiten im Leben haben."
Auch glückliche Tibeter kommen zu Wort. In der Zeitung China Daily wurde am 7. August 2015 der ehemalige Nomade Zamzon vorgestellt, der der kommunistischen Partei ausdrücklich dankt und anfügt:
"Das sesshafte Leben gibt uns mehr Freiheiten und Wahlmöglichkeiten. Ich will nicht, dass meine Nachkommen hinter einem Yak herlaufen müssen."
Widerspruch gegen die Propaganda der Regierung kann gefährlich sein. Der Mönch Golog Jigme hat erlebt, wie brutal die Reaktionen sind. 2008 war er an einem Dokumentarfilm über die Zwangsansiedlungen beteiligt, den der junge Tibeter Dhondup Wangchen drehte. Weil seine Gesprächspartner es wagten, offen ihre Gesichter zu zeigen, gab der Regisseur seinem Film den Titel: Das Überwinden der Angst. In einem Ausschnitt sehen und hören wir, wie Dhondup Wangchen nach strengen Kontrollen einen Zug besteigt und durch eine Stadt mit Neubauten fährt. Dabei spricht er in ein verstecktes Mikrofon.
"Die Chinesen sagen, dass sie so viel in Tibet verbessert haben. Aber wir sehen keine Verbesserungen. Tibeter werden zwangsweise umgesiedelt, die Nomaden dürfen ihr Vieh nicht mehr auf die Weide treiben. Sind solche Einschränkungen eine Verbesserung? Nein. Unter dem Vorwand sie an die Zivilisation zu heranzuführen, werden viele Tibeter zum Umzug in die Stadt gezwungen. Die Gebäude sehen von außen gut aus, und Außenstehende denken vielleicht, dass die Tibeter sehr gut behandelt werden und dass sie glücklich sind. Doch in Wahrheit haben die Tibeter nicht die Freiheit, über ihre Leiden zu sprechen."
Seit Fertigstellung des Films ist der Regisseur in Haft. Auch Golog Jigme wurde mehrmals verhaftet und schwer gefoltert. Als er freikam, verschwand er im Untergrund und war zwei lange Jahre auf der Flucht. 2014 schaffte er es, nach Nepal zu entkommen. Von dort kam er in die Schweiz, wo er politisches Asyl erhielt. Noch heute bewegt sich Golog Jigme etwas unbeholfen. Eine Folge der schweren Folterungen.
Der Mönch ist einer der ganz wenigen Augenzeugen des Untergangs der tibetischen Nomaden, die es ins Ausland geschafft haben. Zwar ist er bereits mit 15 Jahren in sein Kloster eingetreten, doch später hat er immer wieder die Erlaubnis bekommen, nach Hause zurückzukehren und seiner Familie bei der Arbeit zu helfen. Wie in der Inneren Mongolei war es die Privatisierung des Landes, mit der alles anfing.
"In den neunziger Jahren haben wir noch normal leben können. Wir lebten in Gemeinschaften mit vielen Familien zusammen. Man hat sich untereinander ausgeholfen, hat das Land miteinander geteilt. Aber ab 2000 wurde das Land von den Chinesen geteilt und eingezäunt. Dabei wurden sehr schöne Reden geführt. Man sagte den Nomaden, das bringt nur Vorteile für euch. Ihr müsst euch nicht mehr so viel bewegen und zwischen Sommer und Winter euren ganzen Haushalt hin und her transportieren. Wir geben deiner Familie ein Stück Land und das gehört dann nur dir und nur du profitierst davon. Jetzt müssen Familien, die von ihrem Land auf ein anderes Stück Land ziehen wollen, Geld an die dortigen Bewohner zahlen. Dieses neue System führt dazu, dass sich die Leute zerstreiten und die Gemeinschaft zerstört wird. Außerdem, und das ist denke ich das allergrößte Problem mit dieser chinesischen Politik, wird das Grasland zerstört. Das Gras wächst nicht mehr nach. Jetzt hat man sehr viel Land eingezäunt, das einfach brach liegt. Die Chinesen behaupten, sie führten dort ökologische Programme durch, damit sich das Grasland regeneriert."
Die verheerenden ökologischen Folgen lassen der chinesischen Regierung keine Wahl. Die Nomaden müssen aus dem Grasland entfernt werden, damit ihre Tiere die kostbare Vegetation nicht mehr beschädigen. So lautet der offizielle Diskurs und diese Politik wird mit aller Konsequenz durchgeführt. Doch Golog Jigme sieht noch einen weiteren, zutiefst poltischen Grund für diese Maßnahme und erwähnt ein kleines Detail: die chinesische Flagge im besetzten Tibet.
"Den Chinesen ist es unmöglich, die Nomaden dazu zu zwingen, diese Flagge zu hissen. Erstens weil diese Leute nicht sesshaft sind - sie bewegen sich ständig - und dann müssen sie diese Flagge wieder herunternehmen. Und zweitens, weil sie auf diesem großen weiten Grasland nicht unter chinesischer Kontrolle sind. Wenn diese Leute in Betonhäusern leben, lässt sich dort ganz einfach eine chinesische Flagge anbringen. Hinzu kommt: 2008 haben sich viele Nomaden an den Protesten beteiligt."
Damals kam es zu einem Aufstand in Lhasa, der sich in alle Provinzen Chinas ausbreitete, in denen Tibeter leben. Erst das Eingreifen der Volksarmee beendete die Unruhen. Seitdem ist Tibet völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Seitdem wurden die Kontrollen noch einmal verschärft. Selbst kleinere Orte sind videoüberwacht und sogar in den Klöstern hat man Kameras installiert.
"Damals haben die jungen Nomaden schnell ihre Kleider gewechselt und sind in die Berge geflohen, die sie viel besser kennen als die Chinesen. Viele konnten nie gefasst werden. Nehmen wir im Gegenzug eine tibetische Stadt. Dort kann man Demonstranten ohne Probleme verhaften und unter Kontrolle bringen. Das ging mit den Nomaden nicht. Deswegen werden sie zwangsangesiedelt.
Sollte Golog Jigme mit seiner Analyse recht haben und der eigentliche Zweck der Zwangsansiedlungen die Kontrolle der Bevölkerung sein, so hat die chinesische Politik ihr Ziel erreicht.
"Die meisten Nomaden sind jetzt abhängig von chinesischer Sozialhilfe. Wenn bei einer Gemeinschaftsversammlung gefragt wird: Wer will den Dalai Lama denunzieren? Dann müssen alle die Hand hochstrecken. Wer hisst am Morgen die chinesische Nationalflagge? Dann müssen alle einverstanden sein. Und wenn gewisse Nomadenfamilien sich wehren, wird ihnen ganz einfach die Sozialhilfe entzogen. Das heißt, diese Menschen würden nicht mehr überleben. Das ist eine grausame Politik. In meiner Umgebung sind inzwischen alle Nomaden angesiedelt und in dieser Zwangslage."
In dieser völlig ausweglosen Situation bleibt den Menschen nur noch verzweifelter Protest: Sich öffentlich selbst zu verbrennen. Seit 2009 haben dies mehr als 150 Tibeter getan und jegliche Versuche der chinesischen Behörden, die Selbstverbrennungen zu verhindern, sind fehlgeschlagen. Obwohl Polizisten alle öffentlichen Plätze streng kontrollieren, passiert das immer wieder. Für das chinesische Ansehen in der Welt ist das ein Fiasko, doch die Staatspropaganda hat auch darauf eine Antwort gefunden. Man bezichtigt eine nebulöse Dalai Lama Clique der Gehirnwäsche an Tibetern, nimmt oppositionelle Mönche fest und klagt sie des Mordes an. So auch Golog Jigme, der allerdings entkommen konnte. Sollte er jemals nach China zurückkehren, droht ihm die Todesstrafe.
"Mit diesen Selbstverbrennungen wollen Tibeter an die internationale Gemeinschaft appellieren, den Schmerz und die Unterdrückung auf eine symbolische Art und Weise darstellen. Sie wollen ihre Botschaft verbreiten: Wir können und wollen nicht mehr unter chinesischer Repression leben. Eine große Aufopferung als letzten Ausweg, um Schutz zu erhalten. Um die internationale Gemeinschaft derart zu schockieren, dass sie reagieren wird. Diese Hoffnung wurde bisher enttäuscht. Sie hoffen auf eine Reaktion, aber bisher tut die internationale Gemeinschaft so, als würden sie nichts sehen und nichts hören."
Offenbar will keine Regierung die Weltmacht China kritisieren. Nur in machtlosen UNO-Gremien werden hin und wieder unangenehme Fragen laut. So am 8. März 2012 bei einer Sitzung des UNO-Rates für Menschenrechte, als Olivier de Schutter, ein Sonderberichterstatter der UNO, das Wort ergreift. 19 der 25 Tibeter, die sich bis dahin selbst verbrannten, seien zwangsangesiedelte Nomaden gewesen. Wie könne die chinesische Seite da von einem Erfolg dieser Politik sprechen?
In seiner Antwort geht der chinesische Vertreter gar nicht erst er auf die Frage ein. Er stellt nur fest, dass der Sonderberichterstatter nicht vor Ort war. Er also auch keine Aussage treffen könne. Als Olivier de Schutter protestiert, kein Ausländer dürfe Tibet besuchen, wird dies einfach ignoriert. Und damit schließt die Sitzung auch schon.
Tausende von Tibetern sitzen in Haft. Eine unbekannte Zahl ist hingerichtet worden. Mehr als hundertfünfzig haben sich verbrannt. Doch geändert hat sich nichts. Die meisten ehemaligen Nomaden kämpfen ums Überleben.
"Die Nomaden hatten ein sehr schönes, ein zufriedenes und unabhängiges Leben. Sie hatten immer viel Butter, Milch, Käse, Fleisch. Das haben sie alles selber produziert. Den Rest verkauften sie nach Lhasa oder in andere große tibetische Städte. Jetzt haben sie keine Tiere mehr. Sie müssen zum ersten Mal im Leben Nahrung einkaufen. Butter oder Fleisch können sie sich nicht leisten. Sie bekommen zwar nach der Umsiedlung einige zehntausend Yuans – umgerechnet rund 1300 Euro. Aber eine große Familie hat das Geld schnell aufgebraucht. Die Kinder gehen nicht in die Schule, auch dafür fehlt das Geld. Die Jugend hat keine Perspektiven. Diese jungen Nomaden können weder lesen noch schreiben und haben keine Ausbildung. Sie fühlen sich dann nutzlos. Viele junge Männer werden kriminell, aggressiv oder spielsüchtig. Man kann wirklich sagen, die jungen Nomaden sind verrückt geworden. Besonders tragisch ist das Schicksal vieler jungen Nomadenfrauen. Viele werden nach China verschleppt. Sie verschwinden und man hört nichts mehr von ihnen. Viele werden an Bordelle verkauft."