Martin Zagatta: Taxifahrer in Peking müssen ihre Fenster geschlossen halten, sonst könnte ja jemand Flugblätter aus einem Auto werfen und Protest äußern. Selbst Brieftauben dürfen nicht mehr fliegen in der chinesischen Hauptstadt – bizarre Sicherheitsmaßnahmen für den Parteitag der chinesischen Kommunisten, der heute begonnen hat und der die Weichen stellen soll für einen Wechsel an der Staats- und Parteispitze.
Wir sind jetzt mit Professor Thomas Heberer verbunden, Politikwissenschaftler und Asien- beziehungsweise China-Experte an der Universität Duisburg-Essen. Guten Tag, Herr Heberer!
Thomas Heberer: Guten Tag, Herr Zagatta.
Zagatta: Herr Heberer, das ist ja eine gigantische Veranstaltung: mehr als 2000 Delegierte. Haben die irgendwelche Macht, oder ist das, was sich da jetzt in Peking tut, eine reine Schauveranstaltung?
Heberer: Es gibt hier häufig die Vorstellung, als sei es eine kleine Gruppe an der Spitze der Kommunistischen Partei, die alles alleine entscheidet. Aber das ist, glaube ich, eine falsche Vorstellung. Im Prinzip ist das chinesische System ein sehr fragmentiertes System, was bedeutet, dass es sowohl auf der zentralen Ebene, etwa zwischen den Ministerien, auch bis in das Politbüro hinein, und dann auf der vertikalen Ebene, das heißt zwischen der Zentrale, den Provinzen, den Städten und Landkreisen, ganz unterschiedliche Interessen und Vorstellungen gibt. Und Parteitage haben im Prinzip die Aufgabe, diese unterschiedlichen Positionen idealtypisch zu vereinheitlichen und auch im Hinblick auf die nächsten zehn Jahre Grundsatzentscheidungen zu treffen. Von daher ist das durchaus ein Gremium, das zwar sehr allgemein jetzt argumentieren mag, aber hinter diesen Allgemeinheiten stecken oft auch ganz konkrete politische Vorstellungen, die wir vielleicht nicht verstehen.
Zagatta: Aber wer segnet das denn jetzt ab, beziehungsweise wer entscheidet das? Da ist ja jetzt klar: Es gibt einen neuen starken Mann mit Xi Jinping. Der soll jetzt erst mal Parteichef werden, dann Präsident. Davon gehen alle aus und so wird es ja wohl auch kommen.
Heberer: Das ist eine Entscheidung, die ist im Prinzip vorstrukturiert worden von der gegenwärtigen politischen Führung, wir dann aber praktisch von allen Gremien bis auf die Kreisebene auch diskutiert, so dass es nicht einfach eine Entscheidung allein von oben ist, sondern etwas, was durchaus auch breit in die Breite hinein diskutiert und erörtert worden ist. Aber die Entscheidung selber trifft natürlich letztendlich das Entscheidungsgremium, das heißt das Politbüro.
Zagatta: Was ist da von der neuen Führung zu erwarten? Wir haben es jetzt gehört: zum Auftakt war wieder viel von Reformen die Rede. Was erwarten Sie jetzt von diesem Wechsel dort an der Spitze?
Heberer: Der Druck, jetzt politische Strukturreformen, nicht Reformen im Sinne des totalen Umbaus des politischen Systems – das werden wir nicht sehen -, aber Strukturreformen in Angriff zu nehmen, der ist gewaltig. Vor zwei, drei Tagen hat eine chinesische Tageszeitung, die größte chinesische Tageszeitung im Prinzip, die Ergebnisse einer Umfrage in China veröffentlicht, nach dem über 80 Prozent der Bevölkerung oder der Befragten der Meinung sind, dass Strukturreformen im politischen Bereich absolut notwendig seien. Und das ist, glaube ich, etwas, was die neue Führung anpacken muss. Das heißt, es geht um die Frage: wie kann man die Korruption eigentlich weiter eindämmen? Wie kann man gewährleisten, dass die bestehenden Gesetze auch in der Politik überhaupt angewandt und umgesetzt werden? Wie kann es gelingen, diese enorme Einkommensungleichheit, die sich in den letzten 20 Jahren entwickelt hat, stärker einzudämmen? Und das sind nur drei von vielen Fragen, denen sich die kommende Führung ausgesetzt sieht, und das ist eine gewaltige Herausforderung. Das werden die Punkte sein, über die nun die neue Führung nicht sofort, aber im Laufe ihrer Amtszeit entscheiden muss. Das heißt: Was wir nicht erwarten können, sind die großen politischen Reformen, die das System grundsätzlich verändern, aber eine Vielzahl von kleineren, die meines Erachtens aber nicht weniger wichtig sind.
Zagatta: Herr Heberer, wenn das die Menschen, wie Sie jetzt sagen – aus dieser Umfrage geht das ja wohl auch hervor -, derart bewegt, diese großen Ungleichgewichte beim Einkommen, diese Korruption, wenn die Parteiführung jetzt gegen Korruption vorgehen wollte, dann müsste sie doch gegen sich selbst vorgehen. Da stehen doch genau diese Spitzenfunktionäre jetzt in der Kritik, die jetzt an der Macht sind und demnächst die Führung übernehmen sollen.
Heberer: Da haben Sie Recht, das ist ein grundsätzliches Problem. Aber Korruption muss man, glaube ich, ein bisschen anders definieren. Das Ausmaß an Korruption ist relativ hoch, relativ gewaltig, kann man sagen, und trotzdem entwickelt sich das Land. Also offensichtlich ist die Korruption der Wirtschaftsentwicklung als solcher nicht abträglich. Es gibt sozusagen eine Unzufriedenheit mit Funktionären, die sich rücksichtslos bereichern, ohne dass sie Entwicklungen in Gang setzen. Das gilt vor allem für die lokale Ebene. Solange aber ein Funktionär lokal etwas bewirkt oder regional etwas bewirkt und sich bereichert, das nimmt man noch eher hin, was sozusagen auch eine Toleranz ist, die über die chinesische Geschichte hinweg immer existiert hat: Entweder Du schaffst es, für die Bevölkerung was zu tun, dann akzeptieren wir sozusagen, dass Du auch ein gewisses Maß an Bereicherung Deiner eigenen Interessen in den Vordergrund rücken kannst; schaffst Du das nicht, dann musst Du sozusagen weg. Und diese Spaltung oder diese Divergenz in der Beurteilung von Korruption, die finden wir eigentlich auch im Verhalten gegenüber korrupten Funktionären. Im Falle, wo sie nichts erreichen, werden sie sozusagen verhaftet, abgestraft, abgesetzt. Im Falle, wo sie was erreichen, wird man die Sache eher milder angehen.
Zagatta: Jetzt soll aber der neue starke Mann, der neue Parteichef und der künftige Präsident, Xi Jinping, auch superreich sein zumindest. Ist das nicht irgendwo ein Widerspruch mit einer Kommunistischen Partei? Ist das nicht ein Problem dann in China?
Heberer: Das sind wahrscheinlich eher die Familienmitglieder. Es wurde ja auch im Hinblick auf Xi Jinping, aber auch Wen Jiabao eher mit der Familie argumentiert. Und das ist natürlich in China ein Problem, dass sozusagen mit einem Aufsteiger, politisch gesehen, der ganze große Familienstrang mit aufsteigt, ohne dass man sich selber als Einzelperson dagegen wehren kann. Zudem sind diese Geschäfte, mit denen das Geld erworben wurde, ja nicht unbedingt illegal, sondern entsprechen durchaus den chinesischen Gesetzen. Die Grundfrage ist eigentlich: Gibt es Leistungen, die jemand erbracht hat als Funktionär, die die eigene Familie begünstigt haben? Und zweitens: Hat ein bestimmter Funktionär seine Familie direkt und unmittelbar bereichert? Das sind eigentlich die Fragen, die man stellt, und ich finde es immerhin einen Fortschritt, dass jetzt gesagt worden ist, Wen Jiabao, der scheidende Ministerpräsident, hat im Prinzip verlangt, dass gegen ihn ein Untersuchungsverfahren eingeleitet wird, um zu prüfen, ob diese Anschuldigungen gerechtfertigt sind oder nicht.
Zagatta: Herr Heberer, jetzt hören wir aus China aber auch, Taxifahrer müssen die Fenster geschlossen halten, Brieftauben dürfen nicht mehr fliegen. Man könnte ja fast lachen über diese Sicherheitsmaßnahmen. Aber es sollen auch mehr als 100 Menschen verhaftet worden sein, unter Hausarrest gestellt worden sein. Warum ist denn die chinesische Führung derart nervös? Die sitzt doch einigermaßen fest im Sattel.
Heberer: Ja, aber dieses Jahr gab es doch eine ganze Reihe von Ereignissen, die diese Nervosität zumindest genährt haben. Da war die Verhaftung der Frau eines der Politbüromitglieder, von Bo Xilai, der frühere Parteichef von Chongquing, und die Flucht eines Polizeichefs in das amerikanische Konsulat. Dort war es der Unfall eines Sohnes einer Person, der vorgesehen war für den ständigen Ausschuss des Politbüros, der mit einem Ferrari und mehreren nackten Mädchen im Auto tödlich verunglückt ist. Es war jetzt der Vorwurf gegen den Ministerpräsidenten, seine Familie habe sich maßlos bereichert. Also in dieser Situation kann ich durchaus verstehen, dass die Führung jetzt nervös und unruhig ist.
Im Prinzip sind in sozialistischen Staaten oder in Ein-Parteien-Staaten Parteitage immer etwas Großes gewesen, wo man Ruhe im Land haben wollte, damit sie nicht gestört werden sollten, weil man befürchtete, wenn während eines solchen Parteitages ein gravierendes Ereignis eintritt, dass dann dies möglicherweise die Ergebnisse des Parteitages, oder die Stimmung der Delegierten umschlagen lassen könnte. Und deswegen soll da im Prinzip Ruhe herrschen und kein außergewöhnliches Ereignis eintreten.
Zagatta: Das gilt jetzt für diese Tage. Wie sehen Sie die Lage grundsätzlich, vielleicht noch kurz zum Schluss? Solche Parteitage, damit werden ja Weichen für zehn Jahre immer gestellt in China. Glauben Sie, dass es in zehn Jahren dieses System noch gibt, so wie es jetzt ist? Kann das gut gehen?
Heberer: Ich glaube, dass es das noch länger gibt. Ich bin nun jedes Jahr mehrere Monate im Land und forsche hauptsächlich auf der lokalen Ebene und muss sagen, ich bin immer wieder überrascht, welche Steuerungskapazität auch lokale Behörden haben, um die Wirtschaft in Gang zu halten und das mittlerweile aber durchaus zunehmend mit Umweltfragen zu kombinieren. Ich bin also von meinen eigenen Forschungen auf der lokalen Ebene optimistisch, dass dieses System es schafft, einen Teil dieser Herausforderungen zumindest einzuhalten. Aber die Grundfrage ist: Ist es auch reformbereit und wird es zumindest in den dringendsten Bereichen auch Strukturreformen einleiten.
Zagatta: Professor Thomas Heberer, Asien-Experte, China-Experte von der Universität Duisburg-Essen. Herr Heberer, herzlichen Dank für das Gespräch und diese Einschätzungen.
Heberer: Vielen Dank, Herr Zagatta, schönen Tag. – Tschüß!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wir sind jetzt mit Professor Thomas Heberer verbunden, Politikwissenschaftler und Asien- beziehungsweise China-Experte an der Universität Duisburg-Essen. Guten Tag, Herr Heberer!
Thomas Heberer: Guten Tag, Herr Zagatta.
Zagatta: Herr Heberer, das ist ja eine gigantische Veranstaltung: mehr als 2000 Delegierte. Haben die irgendwelche Macht, oder ist das, was sich da jetzt in Peking tut, eine reine Schauveranstaltung?
Heberer: Es gibt hier häufig die Vorstellung, als sei es eine kleine Gruppe an der Spitze der Kommunistischen Partei, die alles alleine entscheidet. Aber das ist, glaube ich, eine falsche Vorstellung. Im Prinzip ist das chinesische System ein sehr fragmentiertes System, was bedeutet, dass es sowohl auf der zentralen Ebene, etwa zwischen den Ministerien, auch bis in das Politbüro hinein, und dann auf der vertikalen Ebene, das heißt zwischen der Zentrale, den Provinzen, den Städten und Landkreisen, ganz unterschiedliche Interessen und Vorstellungen gibt. Und Parteitage haben im Prinzip die Aufgabe, diese unterschiedlichen Positionen idealtypisch zu vereinheitlichen und auch im Hinblick auf die nächsten zehn Jahre Grundsatzentscheidungen zu treffen. Von daher ist das durchaus ein Gremium, das zwar sehr allgemein jetzt argumentieren mag, aber hinter diesen Allgemeinheiten stecken oft auch ganz konkrete politische Vorstellungen, die wir vielleicht nicht verstehen.
Zagatta: Aber wer segnet das denn jetzt ab, beziehungsweise wer entscheidet das? Da ist ja jetzt klar: Es gibt einen neuen starken Mann mit Xi Jinping. Der soll jetzt erst mal Parteichef werden, dann Präsident. Davon gehen alle aus und so wird es ja wohl auch kommen.
Heberer: Das ist eine Entscheidung, die ist im Prinzip vorstrukturiert worden von der gegenwärtigen politischen Führung, wir dann aber praktisch von allen Gremien bis auf die Kreisebene auch diskutiert, so dass es nicht einfach eine Entscheidung allein von oben ist, sondern etwas, was durchaus auch breit in die Breite hinein diskutiert und erörtert worden ist. Aber die Entscheidung selber trifft natürlich letztendlich das Entscheidungsgremium, das heißt das Politbüro.
Zagatta: Was ist da von der neuen Führung zu erwarten? Wir haben es jetzt gehört: zum Auftakt war wieder viel von Reformen die Rede. Was erwarten Sie jetzt von diesem Wechsel dort an der Spitze?
Heberer: Der Druck, jetzt politische Strukturreformen, nicht Reformen im Sinne des totalen Umbaus des politischen Systems – das werden wir nicht sehen -, aber Strukturreformen in Angriff zu nehmen, der ist gewaltig. Vor zwei, drei Tagen hat eine chinesische Tageszeitung, die größte chinesische Tageszeitung im Prinzip, die Ergebnisse einer Umfrage in China veröffentlicht, nach dem über 80 Prozent der Bevölkerung oder der Befragten der Meinung sind, dass Strukturreformen im politischen Bereich absolut notwendig seien. Und das ist, glaube ich, etwas, was die neue Führung anpacken muss. Das heißt, es geht um die Frage: wie kann man die Korruption eigentlich weiter eindämmen? Wie kann man gewährleisten, dass die bestehenden Gesetze auch in der Politik überhaupt angewandt und umgesetzt werden? Wie kann es gelingen, diese enorme Einkommensungleichheit, die sich in den letzten 20 Jahren entwickelt hat, stärker einzudämmen? Und das sind nur drei von vielen Fragen, denen sich die kommende Führung ausgesetzt sieht, und das ist eine gewaltige Herausforderung. Das werden die Punkte sein, über die nun die neue Führung nicht sofort, aber im Laufe ihrer Amtszeit entscheiden muss. Das heißt: Was wir nicht erwarten können, sind die großen politischen Reformen, die das System grundsätzlich verändern, aber eine Vielzahl von kleineren, die meines Erachtens aber nicht weniger wichtig sind.
Zagatta: Herr Heberer, wenn das die Menschen, wie Sie jetzt sagen – aus dieser Umfrage geht das ja wohl auch hervor -, derart bewegt, diese großen Ungleichgewichte beim Einkommen, diese Korruption, wenn die Parteiführung jetzt gegen Korruption vorgehen wollte, dann müsste sie doch gegen sich selbst vorgehen. Da stehen doch genau diese Spitzenfunktionäre jetzt in der Kritik, die jetzt an der Macht sind und demnächst die Führung übernehmen sollen.
Heberer: Da haben Sie Recht, das ist ein grundsätzliches Problem. Aber Korruption muss man, glaube ich, ein bisschen anders definieren. Das Ausmaß an Korruption ist relativ hoch, relativ gewaltig, kann man sagen, und trotzdem entwickelt sich das Land. Also offensichtlich ist die Korruption der Wirtschaftsentwicklung als solcher nicht abträglich. Es gibt sozusagen eine Unzufriedenheit mit Funktionären, die sich rücksichtslos bereichern, ohne dass sie Entwicklungen in Gang setzen. Das gilt vor allem für die lokale Ebene. Solange aber ein Funktionär lokal etwas bewirkt oder regional etwas bewirkt und sich bereichert, das nimmt man noch eher hin, was sozusagen auch eine Toleranz ist, die über die chinesische Geschichte hinweg immer existiert hat: Entweder Du schaffst es, für die Bevölkerung was zu tun, dann akzeptieren wir sozusagen, dass Du auch ein gewisses Maß an Bereicherung Deiner eigenen Interessen in den Vordergrund rücken kannst; schaffst Du das nicht, dann musst Du sozusagen weg. Und diese Spaltung oder diese Divergenz in der Beurteilung von Korruption, die finden wir eigentlich auch im Verhalten gegenüber korrupten Funktionären. Im Falle, wo sie nichts erreichen, werden sie sozusagen verhaftet, abgestraft, abgesetzt. Im Falle, wo sie was erreichen, wird man die Sache eher milder angehen.
Zagatta: Jetzt soll aber der neue starke Mann, der neue Parteichef und der künftige Präsident, Xi Jinping, auch superreich sein zumindest. Ist das nicht irgendwo ein Widerspruch mit einer Kommunistischen Partei? Ist das nicht ein Problem dann in China?
Heberer: Das sind wahrscheinlich eher die Familienmitglieder. Es wurde ja auch im Hinblick auf Xi Jinping, aber auch Wen Jiabao eher mit der Familie argumentiert. Und das ist natürlich in China ein Problem, dass sozusagen mit einem Aufsteiger, politisch gesehen, der ganze große Familienstrang mit aufsteigt, ohne dass man sich selber als Einzelperson dagegen wehren kann. Zudem sind diese Geschäfte, mit denen das Geld erworben wurde, ja nicht unbedingt illegal, sondern entsprechen durchaus den chinesischen Gesetzen. Die Grundfrage ist eigentlich: Gibt es Leistungen, die jemand erbracht hat als Funktionär, die die eigene Familie begünstigt haben? Und zweitens: Hat ein bestimmter Funktionär seine Familie direkt und unmittelbar bereichert? Das sind eigentlich die Fragen, die man stellt, und ich finde es immerhin einen Fortschritt, dass jetzt gesagt worden ist, Wen Jiabao, der scheidende Ministerpräsident, hat im Prinzip verlangt, dass gegen ihn ein Untersuchungsverfahren eingeleitet wird, um zu prüfen, ob diese Anschuldigungen gerechtfertigt sind oder nicht.
Zagatta: Herr Heberer, jetzt hören wir aus China aber auch, Taxifahrer müssen die Fenster geschlossen halten, Brieftauben dürfen nicht mehr fliegen. Man könnte ja fast lachen über diese Sicherheitsmaßnahmen. Aber es sollen auch mehr als 100 Menschen verhaftet worden sein, unter Hausarrest gestellt worden sein. Warum ist denn die chinesische Führung derart nervös? Die sitzt doch einigermaßen fest im Sattel.
Heberer: Ja, aber dieses Jahr gab es doch eine ganze Reihe von Ereignissen, die diese Nervosität zumindest genährt haben. Da war die Verhaftung der Frau eines der Politbüromitglieder, von Bo Xilai, der frühere Parteichef von Chongquing, und die Flucht eines Polizeichefs in das amerikanische Konsulat. Dort war es der Unfall eines Sohnes einer Person, der vorgesehen war für den ständigen Ausschuss des Politbüros, der mit einem Ferrari und mehreren nackten Mädchen im Auto tödlich verunglückt ist. Es war jetzt der Vorwurf gegen den Ministerpräsidenten, seine Familie habe sich maßlos bereichert. Also in dieser Situation kann ich durchaus verstehen, dass die Führung jetzt nervös und unruhig ist.
Im Prinzip sind in sozialistischen Staaten oder in Ein-Parteien-Staaten Parteitage immer etwas Großes gewesen, wo man Ruhe im Land haben wollte, damit sie nicht gestört werden sollten, weil man befürchtete, wenn während eines solchen Parteitages ein gravierendes Ereignis eintritt, dass dann dies möglicherweise die Ergebnisse des Parteitages, oder die Stimmung der Delegierten umschlagen lassen könnte. Und deswegen soll da im Prinzip Ruhe herrschen und kein außergewöhnliches Ereignis eintreten.
Zagatta: Das gilt jetzt für diese Tage. Wie sehen Sie die Lage grundsätzlich, vielleicht noch kurz zum Schluss? Solche Parteitage, damit werden ja Weichen für zehn Jahre immer gestellt in China. Glauben Sie, dass es in zehn Jahren dieses System noch gibt, so wie es jetzt ist? Kann das gut gehen?
Heberer: Ich glaube, dass es das noch länger gibt. Ich bin nun jedes Jahr mehrere Monate im Land und forsche hauptsächlich auf der lokalen Ebene und muss sagen, ich bin immer wieder überrascht, welche Steuerungskapazität auch lokale Behörden haben, um die Wirtschaft in Gang zu halten und das mittlerweile aber durchaus zunehmend mit Umweltfragen zu kombinieren. Ich bin also von meinen eigenen Forschungen auf der lokalen Ebene optimistisch, dass dieses System es schafft, einen Teil dieser Herausforderungen zumindest einzuhalten. Aber die Grundfrage ist: Ist es auch reformbereit und wird es zumindest in den dringendsten Bereichen auch Strukturreformen einleiten.
Zagatta: Professor Thomas Heberer, Asien-Experte, China-Experte von der Universität Duisburg-Essen. Herr Heberer, herzlichen Dank für das Gespräch und diese Einschätzungen.
Heberer: Vielen Dank, Herr Zagatta, schönen Tag. – Tschüß!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.