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China
Guter Bürger, schlechter Bürger

China hat begonnen, ein Sozialpunktesystem einzuführen: 1000 Punkte hat jeder auf seinem Konto. Wer eine rote Ampel missachtet, bekommt Abzüge. Wer eifrig andere bewertet, erhält Pluspunkte. Der Kontostand entscheidet über Wohnung, Arbeit, Bildungschancen.

Von Axel Dorloff |
    Überwachungskamera auf dem Tiananmen Platz in der chinesichen Hauptstadt Peking
    Überwachungskamera auf dem Tiananmen Platz in der chinesichen Hauptstadt Peking (picture-alliance/ dpa)
    Guter Bürger oder schlechter Bürger: Zhang Jian wartet auf seine Bewertung. Im Bürgeramt der ostchinesischen Stadt Rongcheng, einem gigantischen gläsernen Rundbau. Der 42-Jährige überreicht der Mitarbeiterin vom Amt für Sozialkredit-Management die Formulare.
    "Ich arbeite für eine öffentliche Behörde, für das Forstamt. Ich brauche eine Beurteilung für eine Beförderung – und dafür wiederum muss ich meinen Sozialkredit-Kontostand einholen. Wenn der nicht gut genug ist, werde ich auch nicht befördert. Aber ich mache mir da keine Sorgen. Ich achte auf mein Benehmen und mein Handeln. Ich sollte keine großen Abzüge haben."
    Punkte machen Leute
    Die chinesische Küstenstadt Rongcheng hat bereits 2014 begonnen, für alle Bürger ein Sozialkredit-System einzuführen. Die Idee dahinter ist einfach: Der Staat sammelt so viele Daten wie möglich, trägt sie zusammen und wertet sie aus. Jeder Bürger bekommt ein Punktekonto. Und auf dieser Grundlage kann der Staat dann bestrafen oder auch belohnen. Zhang Jian weiß, worauf er im Alltag zu achten hat.
    "Wenn ich bei Rot über die Ampel fahre, geht's runter mit dem Kontostand. Wenn man sich in der Öffentlichkeit daneben benimmt, zum Beispiel in eine Schlägerei verwickelt ist, kommt man sofort auf die schwarze Liste. Auch meine Arbeit im Forstamt fließt in das Sozialkredit-System ein. Wenn die Bürger mit unserem Service nicht zufrieden sind, können sie sich beschweren. Das hat dann Auswirkungen auf meinen Punktestand."
    Die rund 670.000 Einwohner in Rongcheng müssen ihren Sozialkredit-Punktestand regelmäßig vorweisen. Bei Bewerbungen, der der Bank, bei Versicherungen. Kaum etwas geht noch ohne gute Bewertung. An Lin ist Sachbearbeiterin im Amt für Sozialkredit-Management. Bevor sie Zhang Jian seinen Kontostand aushändigt, erklärt sie ihm das Punktesystem.
    "Der Punktestand ist anfangs für alle gleich, nämlich genau 1000. Diese Zahl erhöht sich dann mit der Zeit – oder wird niedriger. Die höchste Bewertung ist AAA. Dann geht es nach unten weiter mit AA und dann A und so weiter. Die schlechteste Bewertung ist D – da liegt man bei unter 599 Punkten."
    Wer eine gute Bewertung hat, wird bevorzugt behandelt: bei sozialen Leistungen oder bei der Zulassungen für Schulen. Wer in der schlechtesten Klasse D auftaucht, qualifiziert nicht mehr für Führungspositionen, bekommt Leistungen gestrichen und verliert seine Kreditwürdigkeit. Für Zhang Jiang bleibt dieser Morgen ein guter Morgen. Sein Sozialkredit-Konto: 1015 Punkte, eine Bewertung von A+. Er nimmt seine Brille ab und wirkt erleichtert.
    "Hier, sehen Sie mal, dort habe ich ein paar Abzüge. Fünf insgesamt. Einmal, weil ich bei Rot über die Ampel gegangen bin. Aber hier: meine Leistung bei der Arbeit, dafür habe ich gleich 20 Pluspunkte gesammelt! Hätte ich ein B bekommen, würde es nichts werden mit der Beförderung. Beamte im öffentlichen Dienst, wie ich, brauchen mindestens ein A."
    Regierungskritiker sind die großen Verlierer
    Die Einstufung der Bürger wie Zhang Jian funktioniert mit Hilfe von Big Data. Mehr als 50 Ämter, Behörden und Institutionen liefern Daten: Strafregister, Verkehrsdelikte, Kredithistorie und vieles mehr. David Bandurski ist Medienwissenschaftler an der Universität von Hongkong.
    "Für China bedeutet Big Data das große Versprechen, die eigene Bevölkerung zu beobachten und zu kontrollieren. Bei der Idee des Sozialkreditsystems geht es darum, Big Data nutzbar zu machen. Auch, um bestimmte Probleme oder soziale Unzufriedenheit im Vorfeld zu erkennen und darauf vorbereitet zu sein. Die Bekämpfung der Kriminalität ist auch ein Teil davon – aber es geht um viel, viel mehr."
    Ein System, dass seine Bürger für moralisch konformes Verhalten im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas belohnt – und alles andere bestraft, so ein System kennt auch Verlierer.
    Zu diesen Verlierern zählt sich Murong Xuecun. Er hat keinen guten Stand bei Chinas Behörden. Als Blogger, Romanautor und Dissident kritisiert er immer wieder das chinesische System der Zensur und die Unterdrückung der abweichenden Meinungen in der Volksrepublik. Im offiziellen China gilt er als Störfaktor. Und wenn man Murong Xuecun auf einen Espresso in einem Café in Peking trifft und zu den Themen Überwachung und soziale Kontrolle befragt, verfinstert sich sein Gesichtsausdruck.
    "Die chinesische Regierung will seine 1,4 Milliarden Bürger künftig besser und effizienter kontrollieren. Die Führung in Peking hat verstanden, dass die alten Werkzeuge der Kontrolle nicht mehr greifen: Aufenthalts-Registrierung, Polizei, Personenspitzel. Das reicht nicht im digitalen Zeitalter der sozialen Medien. Um das System der sozialen Kontrolle entsprechend weiter zu entwickeln, schafft der Staat ein Sozialkreditsystem. Es ist Teil einer totalitären Internet-Gesellschaft des 21. Jahrhunderts."
    Der chinesische Blogger, Autor und Regierungskritiker Murong Xuecun
    Der chinesische Blogger, Autor und Regierungskritiker Murong Xuecun (Jakub Kaminski / PAP / dpa)
    Für die chinesische Regierung geht es um den Versuch, den moralisch einwandfreien Menschen zu schaffen. Derzeit gibt es in China dutzende Pilotprojekte, bis zum Jahr 2020 soll ein möglichst umfassendes, miteinander verzahntes System aufgebaut werden. Kein anderes Land treibt es so radikal voran, seine Bürger im digitalen Zeitalter sozial zu kontrollieren und zu bewerten. Guter Bürger oder schlechter Bürger, Belohnung oder Bestrafung.