Montreal, Chinatown. Unzählige chinesische Restaurants reihen sich hier an Porzellan- und Teegeschäfte. Wie in vielen nordamerikanischen Großstädten ist Chinatown auch in Montreal eine beliebte Touristenattraktion. Doch nicht alle fühlen sich wohl in dem Viertel, unter anderem Kalbinur Semseddin. Sie fühlt sich in Chinatown unsicher. Sie, ihr Mann und ihre drei Kinder gehören zu der in China verfolgten muslimischen Minderheit der Uiguren. Laut Amnesty International hält das Land derzeit rund eine Million Uiguren in der Provinz Xinjiang in Lagern gefangen – darunter auch zahlreiche Familiengehörige der Semseddins. Das Ziel: die gewaltsame kulturelle Assimilierung.
Angst um die Kinder
Als Kalbinur Semseddin ihre kanadische Staatsbürgerschaft bekam, dachte sie, dass das starke Kanada sie nun beschützen würde. Doch Pekings langen Arm bekommt die 36-Jährige auch hier zu spüren: Seit sie und ihr Mann in Montreal an Demonstrationen gegen die Unterdrückung der Uiguren teilgenommen haben, bekommen sie regelmäßig Anrufe, automatische Nachrichten auf Chinesisch. Warnung, heißt es darin, alle Aktivitäten gegen China seien sofort einzustellen. Zudem wurde ihr Mann laut eigenen Angaben auf der Straße fotografiert und auch mehrmals verfolgt. Seither sorgt sich Semseddin auch um die Sicherheit ihrer Kinder.
Die "fünf Gifte"
Die Angaben lassen sich schwer überprüfen. Sie decken sich jedoch mit den Aussagen anderer Dissidenten, von Menschen, die von Seiten der chinesischen Obrigkeit zu den sogenannten "fünf Giften" gezählt werden. So bezeichnet Peking Anhänger der chinesischen Demokratiebewegung, Befürworter eines unabhängigen Taiwan sowie eines unabhängigen Tibet, Anhänger der spirituellen Bewegung Falun Gong – und die Uiguren. Den kanadischen Behörden sind die systematischen Einschüchterungsversuche seit Jahren bekannt. Es sei jedoch schwierig, die Verantwortlichen zu ermitteln, sagt Michel Juneau-Katsuya, der ehemalige Leiter der Asien-Pazifik-Abteilung des kanadischen Nachrichtendienstes CSIS:
"Das Problem ist natürlich, dass diese Aktivitäten im Geheimen stattfinden. Sehr selten gibt es etwa einen direkten physischen Angriff, eine kriminelle Aktion, die sich einer einzelnen Person zuschreiben lässt. Meist findet das alles im Grenzbereich zur Illegalität statt. Solche Methoden haben wir in den letzten Jahren immer häufiger gesehen. China will die Daumenschrauben gegenüber Dissidenten – den berühmten "fünf Giften" – deutlich enger ziehen."
Chinas Einfluss in allen Bereichen
Repression gegen Dissidenten ist jedoch nur eines der chinesischen Betätigungsfelder. Das rohstoffreiche Kanada, im Hinterhof der USA, gilt China als strategische Einflusszone. Im Fokus stehen die wichtigsten Bereiche der kanadischen Gesellschaft: Medien, Parlamente, Wirtschaft und Universitäten. Zur Informationsgewinnung und Beeinflussung nutzt China neben klassischen Geheimdienstaktivitäten zunehmend auch weiche Methoden. Als Beispiel nennt der frühere kanadische Geheimdienstmitarbeiter Michel Juneau-Katsuya die weltweit aktiven Konfuzius-Institute – von China finanzierte Kulturorganisationen an Universitäten.
"In Kanada haben Angestellte von Konfuzius-Instituten politisches Asyl beantragt und offengelegt, dass die Institute Trojanische Pferde sind. Sie sollen die öffentliche Meinung über China beeinflussen und helfen, Informanten zu rekrutieren. Personen, die über Zugang zu strategischen Informationen verfügen, zum Beispiel aus der Wissenschaft."
Ähnlich sieht das auch das Bildungsministerium der kanadischen Provinz New Brunswick. Erst kürzlich hat das Ministerium die Kooperation mit den Instituten aufgekündigt. Seitdem droht China der Provinz mit ökonomischen Sanktionen. Daneben gibt es eine Reihe weiterer zweifelhafter chinesischer Aktivitäten an kanadischen Hochschulen. Immer wieder protestiert Peking gegen kritische Vorträge und Konferenzen, zuletzt gegen einen Kongress an der Université de Montréal über die Situation der Uiguren – eine inakzeptable Einmischung, kritisiert der frühere kanadische Botschafter in Peking Guy Saint-Jacques:
"Zunächst muss man Einmischungsversuche von legitimen Stellungnahmen unterscheiden. Was nicht mehr legitim ist, ist, wenn die Meinungsfreiheit bedroht ist. Wenn man keine Diskussion über Tibet oder Xinjiang organisieren kann, ohne Angst zu haben, dass China danach die betreffende Universität boykottiert."
Auch Guy Saint-Jacques ist überzeugt, dass die Einmischungsversuche zugenommen haben – auch gegenüber der kanadischen Politik. Dafür umwerbe China mit patriotischen Appellen gezielt Politiker chinesischer Herkunft – die Peking nicht als Kanadier, sondern als Chinesen betrachte. Den Wandel hin zu dieser offensiveren Politik datiert Saint-Jacques auf die Machtübernahme Xi Jinpings im Jahr 2012. China sehe sich seitdem als Modell für die Welt. Gegenüber diesem neuen China fordert der ehemalige Botschafter ein entschiedeneres Auftreten:
"Die einzige Sprache, die China versteht, ist die der Stärke. Wenn es keine Reaktionen gibt, wird sich China sagen: Wir können so weitermachen. Die anderen Länder werden alles tolerieren, weil sie weiter mit uns Handel treiben wollen. Ich denke, hier braucht es eine gemeinsame Aktion. Denn wenn ein Land alleine handelt, riskiert es, von China hart bestraft zu werden. Man muss China gewissermaßen dabei helfen, ein besserer Weltbürger zu werden."