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Paralympics in China
Medaillen für die Elite

Am Freitag hat in Peking das zweite große Sportereignis dieses Winters begonnen: die Paralympics. Für den Gastgeber sind auch die Weltspiele des Behindertensports von politischer Bedeutung. Über Jahrzehnte wurden Menschen mit Behinderung in China ausgegrenzt.

Von Ronny Blaschke | 27.02.2022
Die chinesische Rollstuhl-Curling-Nationalmannschaft bereitet sich während einer Trainingseinheit auf die Paralympics in Peking vor.
Die chinesische Rollstuhl-Curling-Nationalmannschaft bereitet sich während einer Trainingseinheit auf die Paralympics in Peking vor. (dpa / picture alliance / Hou Yu)
In der paralympischen Bewegung gelten die Sommerspiele 2008 in Peking als Meilenstein. Zum ersten Mal waren Menschen mit Behinderung über Wochen im chinesischen Staatsfernsehen präsent. Viele Wettbewerbe waren ausverkauft. China belegte Platz eins im Medaillenspiegel.
Für die Kommunistische Partei: ein Sinnbild für die Teilhabe von Minderheiten. "Schon im Bewerbungsprozess für Olympia wurde das Thema Behinderung auf die Agenda gesetzt", sagt der chinesische Gesundheitsexperte Wei Wang, der im australischen Perth lehrt. "Nach dem Zuschlag 2001 wurde in Peking massiv in die Infrastruktur investiert, vor allem in einen Nahverkehr mit weniger Barrieren. Und auch nach den Paralympics 2008 hat die Regierung fast jedes Jahr neue Gesetze verabschiedet, um den Alltag von behinderten Menschen zu verbessern. Dabei ging es um Bildung, Arbeitsmarkt oder Rehabilitationszentren."

Die Investitionen in den Spitzensport zeigen Wirkung

Wie wirksam diese Gesetze im Alltag sind, lässt sich schwer prüfen. In China leben laut einer Volkszählung mehr als 80 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Rund drei Viertel von ihnen auf dem Land.
Was sich prüfen lässt: Die Investitionen in den Spitzensport zeigen Wirkung. Seit 2004 in Athen belegt China bei Sommer-Paralympics den ersten Platz. Die Basis dafür sei das weltweit wohl größte paralympische Trainingszentrum in einem Vorort von Peking, sagt der Forscher Wei Wang: "Es wurde eine systematische Struktur aufgebaut, um Sportler mit Behinderung schon früh zu rekrutieren. Dieses Netzwerk reicht von der nationalen Ebene über die Provinzen und Städte bis in Dörfer hinein. Daran beteiligt sind Krankenhäuser, Wohltätigkeitsorganisationen und Schulen. Und auch die Zahl der Wettkämpfe wächst.“

Wenig Unterstützung nach dem Sport

Aber wie sehr kommen die Medaillen dem Gemeinwohl zugute? In westlichen Gesellschaften hat sich das Konzept der Inklusion durchgesetzt, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. In China verkündete die Kommunistische Partei den Bau von 1000 Spezialschulen für behinderte Kinder. Das sei Absonderung, sagt Stephen Hallett, der sich an der Universität Leeds mit Inklusion beschäftigt. Auch im chinesischen Sport gibt es eine Sonderbehandlung, und keine Gleichstellung.
„Eine relativ kleine Zahl von Menschen mit Behinderung wird für Sport ausgewählt. Das bedeutet: Jahre langes intensives Training“, sagt Hallett. „Die Sportler werden abgeschottet und sind weit weg von ihren Familien. Wer kein paralympisches Niveau erreicht, wird von diesem System wieder ausgespuckt. Auch viele Athleten, die Medaillen gewinnen, erhalten später wenig Unterstützung. Einige leiden unter Depressionen. Ich glaube, dass die Paralympics wenig Einfluss auf die Gesellschaft in China haben, denn sie werden als Elite angesehen.“

Xi Jinping mit Kontrolle über sozialpolitische Anliegen

Stephen Hallett hat lange in China gelebt. Vor den Paralympics 2008 in Peking baute er mit Journalisten, die eine Sehbehinderung haben, ein Radioprogramm auf. Damals war die Zivilgesellschaft im Aufbruch. Frauenrechte, LGBTIQ, Menschen mit Behinderung: auch jenseits der Metropolen entstanden Netzwerke.
Doch unter dem nationalistischen Kurs des Staatspräsidenten Xi Jinping übernimmt die Regierung auch die Kontrolle über sozialpolitische Anliegen, erzählt Hallett: "Ein Beispiel sind Blindenleitsysteme, die in vielen chinesischen Städten gebaut wurden. Häufig funktionieren diese Systeme nicht, denn blinde Menschen wurden nicht um Rat gefragt. Dieses Muster sehen wir oft, auch beim einflussreichen Behindertenverband. Eine verschlossene Organisation, in der kaum Menschen mit Behinderung arbeiten.“

Im Konfuzianismus gelten gesunde Kinder als Ideal

Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung ändert sich in China nur langsam, auch wegen Jahrhunderte alter Traditionen. Im Konfuzianismus gelten gesunde Kinder als Ideal, weil sie ihre Vorfahren pflegen und die Familienlinie fortschreiben können. Im ebenfalls einflussreichen Buddhismus gilt eine Behinderung mitunter als Strafe für ein früheres Leben. Aktuell sind es Umweltschäden, die sich auf die Gesundheit auswirken. Und auch frühere Abtreibungen der Mütter als Folge der Ein-Kind-Politik.
Kann der Sport das Gesundheitssystem entlasten? Dazu sagt Stephen Hallett: „Man sieht es jedes Jahr vor dem Beginn der Uni. Die Studierenden aus dem ersten Semester müssen für einige Tage Militärübungen absolvieren. Viele von ihnen haben damit Probleme, denn sie sind nicht fit. Bei Menschen mit Behinderung sind die Probleme noch größer. Die Regierung richtet zu wenig Aufmerksamkeit auf Sport als Gesundheitsvorsorge. Stattdessen konzentriert sie sich auf den Elitensport.“

Trainer aus Europa

China dominiert seit fast zwei Jahrzehnten die Sommer-Paralympics. Im Winter ist die Lage anders: Bei den Spielen 2018 in Pyeongchang lag die Volksrepublik auf Rang 20 des Medaillenspiegels. Nun bei den Heimspielen in Peking dürfte die Bilanz besser ausfallen.
Schon vor Jahren verpflichtete China paralympische Trainer und Technikexperten aus Europa, sagt Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Paralympics-Teams: „Die Chinesen blocken dann immer sehr stark, wenn man mit denen zusammensitzt. Die sind immer sehr interessiert. Dann hört man so immer an den Fragen, was die eigentlich wollen. Und wenn man dann in die Tiefe geht und mal nachhakt und das nachbesprechen will, dann ist plötzlich gut. Es sind auch Trainer von uns angesprochen worden dafür, aber die haben sich nicht dazu entschieden, nach China zu gehen.“
Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis China auch bei den Winter-Paralympics an die Spitze vorstoßen wird.