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Proteste in China
Jürgen Trittin (Grüne): "Es gibt massiven sozialen Druck in China"

Chinas Staatspräsident sitze in der Sackgasse, sagte Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin im Dlf. Er geht davon aus, dass die Proteste der chinesischen Bevölkerung gegen die Null-Covid-Politik der Regierung nicht mehr zu stoppen sind.

Jürgen Trittin im Gespräch mit Philipp May |
    Jürgen Trittin bei einer Rede im World Conference Center. Bonn, 15.10.2022
    Durch die Corona-Strategie der chinesischen Führung seien viele Wanderarbeiter arbeitslos geworden, sagte Jürgen Trittin von Bündnis90/Die Grünen (picture alliance / Geisler-Fotopress / Philipp Mertens / Geisler-Fotopres)
    Eine massive Polizeipräsenz hat in mehreren chinesischen Städten ein mögliches Wiederaufflammen der Proteste gegen die strikte Null-Covid-Politik der Regierung verhindert. In der Hauptstadt Peking und weiteren Metropolen wie Shanghai, Guangzhou oder Hangzhou waren verstärkt Sicherheitskräfte auf den Straßen zu sehen. Die Handys vieler Passanten wurden auf verdächtige Inhalte und Zensur-Umgehungsprogramme untersucht.

    "Xi Jinping sitzt in der Sackgasse"

    Wegen Lockdowns, Zwangsquarantäne, Massentests und der ständigen Kontrolle über Corona-Apps war es in den letzten Tagen zu Protesten gegen die rigorosen Maßnahmen der Null-Covid-Politik gekommen. Tausende Menschen waren auf den Straßen. Es waren die größten Proteste in China seit der 1989 blutig niedergeschlagenen Demokratiebewegung.
    Jürgen Trittin, außenpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, sagte im Deutschlandfunk, die Bevölkerung habe "die Schnauze voll von dieser Form des Unterdrückens". Auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt sorge für sozialen Druck. Es seien viele junge Menschen nach dem Studium aus dem Ausland zurückgekehrt, die in China arbeiten wollen.

    Aber "ein Fünftel der jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist arbeitslos", sagte er. Staatspräsident Xi Jinping befinde sich in einer Sackgasse. "Das Versprechen der chinesischen KP, dass es allen besser gehen wird, das wird zu offensichtlich von vielen in den Augen vieler gebrochen."

    Lesen Sie hier das gesamte Interview im Wortlaut:

    Philipp May: Hat Xi Jinping sich verrannt?
    Jürgen Trittin: Ja. Er sitzt in einer Sackgasse und trotz vorsichtiger Korrekturen, die der 20. Parteitag an der Null-Covid-Politik beschlossen hat, kürzere Quarantäne-Zeit und Ähnlichem, hat die Bevölkerung die Schnauze voll von dieser Form des Schurigelns, des Unterdrückens, bis dahin, dass ganze Belegschaften in ihren Fabriken eingesperrt werden, nicht nachhause dürfen, aber weiterproduzieren sollen. So ist es ja den Arbeitern von Foxconn gegangen, die die iPhone 14 fertigen und die dann in den Streik getreten sind.
    May: Trotzdem scheint es so, als hätte er weiterhin sein Volk im eisernen Griff. Haben die Protestierenden eine Chance? Welche Chance haben sie überhaupt?
    Trittin:  Ich glaube, das, worauf Sie abzielen, ist das, was in China Gesetz ist. In China erfahren wir ja jeden Tag den Unterschied zwischen der „Rule of law“ und „Rule by law“. In China ist es „by law“. Aber dass wenigstens das eingehalten wird, darauf werden die Auseinandersetzungen sich zuspitzen. Es gibt sehr, sehr viele, die beispielsweise öffentlich mit Polizisten darüber diskutieren, dass die sich nicht an die geltenden Gesetze halten würden und Ähnliches. Ich sehe noch nicht eine massive Infragestellung der Legitimität der Herrschaft, aber ein Einklagen der dort selbstbehaupteten Legalität.

    "Es gibt einen massiven sozialen Druck in China"

    May: Wohin kann dieses Einklagen denn maximal führen?
    Trittin: Ich glaube, dass die chinesische Führung damit konfrontiert ist, dass sie den Geist, der aus der Flasche schon lange raus ist, nicht mehr einfangen kann. Es sind ja viele Menschen gerade im Zusammenhang von Covid, gerade junge Menschen, die an US-Universitäten, an britischen Universitäten studiert haben, zurückgekehrt und die wollen dort arbeiten beispielsweise. Ein Fünftel der jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist arbeitslos. Das ist das gleiche Schicksal mit ihrer hohen Qualifikation, das sie teilen mit gut 100 Millionen Wanderarbeitern, die als Folge der Corona-Maßnahmen arbeitslos geworden sind und auf ihre Dörfer zurück mussten. Das heißt, es gibt einen massiven sozialen Druck in China. Das Versprechen der chinesischen KP, dass es allen besser gehen wird, das wird zu offensichtlich von vielen in den Augen vieler gebrochen.
    May: Wenn Sie sagen, der Geist ist aus der Flasche und lässt sich nicht mehr einfangen, heißt das dann auch: Wir staunen ja immer über diese gewaltige Zensur-Maschinerie, die die Chinesen mit großem Aufwand aufrechterhalten, trotz der absolut großen Möglichkeiten des Internets. Glauben Sie, das ist am Ende doch nur eine Illusion?
    Trittin:  Ich glaube, dass das sehr, sehr hart praktiziert wird, und es gibt ja – und das muss man dazu sagen – auch aktive Hilfe durch Firmen aus den USA und aus Europa. Gerade wurde bekannt, dass nicht nur die Weihnachtsproduktion für Apples iPhones in Foxconn quasi in Zwangsarbeit betrieben wird, sondern Apple hat eine Funktion, die es normalerweise ermöglicht, auch Menschen, die man nicht in der Kontaktliste hat, mit Dateien zu versorgen via der AirDrop-Technologie, in China schlicht und ergreifend eingeschränkt. Das ist aber nur in China eingeschränkt. Dann braucht es gar keinen chinesischen Polizisten mehr, um zu verhindern, dass Menschen ihre Inhalte mit anderen, die das übernehmen wollen, teilen.

    "Schluss mit der Illusion, Handel schafft Wandel"

    May: Welche Rolle soll Deutschland spielen, der Westen im Allgemeinen, aber Deutschland im Speziellen?
    Trittin: Deutschland muss sich erstens zusammentun mit dem Rest Europas. Es muss Schluss sein mit einer rein deutschen China-Politik.
    Zweitens muss Schluss sein mit der Illusion, Handel schafft Wandel, sondern wir müssen eine realistische Politik betreiben. Eine realistische Politik heißt, dass man auf der einen Seite sehr genau weiß, dass man in bestimmten Bereichen mit China zusammenarbeiten muss, aber dass selbst in den Bereichen, wo man mit China zusammenarbeitet, Regeln gelten müssen, und die kann man nur durchsetzen, wenn man einen Grundsatz beachtet, nämlich den der strikten Reziprozität. Was China uns nicht erlaubt, unseren Unternehmen nicht erlaubt in China, das erlauben wir auch chinesischen Unternehmen hier nicht. Das ist die erste Regel.
    Die zweite ist: Wir müssen einseitige Abhängigkeiten mindern, nicht ausbauen, wie es VW, BASF, Mercedes und BMW jüngst getan haben, sondern wir müssen uns umgucken, dass wir diversifizieren unsere Produktion, unseren Rohstoffbezug, unsere Vorprodukte. Und schließlich müssen wir auch bestimmte strategische Industrien nach Europa zurückholen. Das gilt für den Pharma-Bereich ebenso wie für die Fotovoltaik-Industrie.

    Deutsche Unternehmen sollten ihre Zukunft strategisch betrachten

    May: Dennoch schreiben gerade Deutschlands Auto-Unternehmer wieder Rekordgewinne, im Prinzip vor allem dank China, nicht ganz ausschließlich, aber doch zu großen Teilen. Wie soll sich das ändern lassen, wenn wir auch gerade hier eine Wirtschaftskrise haben? Anders gefragt: Sitzt China da nicht schlicht am längeren Hebel?
    Trittin: Es empfiehlt sich auch für deutsche Unternehmen, die Zukunft ihrer Unternehmen strategisch zu betrachten. Der Quartalsgewinn kann nicht den Verlust einer strategischen Marktstellung kompensieren, und genau das passiert gerade in China. Wir haben im Übrigen auch erlebt, dass Volkswagen dieser Tage eine komplette Fabrik schließen musste, unter anderem als Folge der Null-Covid-Politik, aber auch von Schwierigkeiten, die sie mittlerweile auf dem Markt haben. Das ist eine schlechte Nachricht gerade für mein Heimatland Niedersachsen, aber die Zukunft auch der Automobilindustrie in China ist keine schattenlose.
    May: Kommen wir noch mal zurück zu den Protesten. So wie die Bundesregierung die Protestierenden im Iran zumindest verbal, aber auch mit Sanktionen unterstützt, kann Deutschland auch die Protestierenden in China unterstützen?
    Trittin: Wir haben bewusst gesagt, wir möchten, dass das öffentlich wird und öffentlich diskutiert wird. Das ist der Grund, warum wir gerade für morgen im Deutschen Bundestag dazu eine Aktuelle Stunde veranstalten.

    "Ich glaube, dass wir China ernstnehmen müssen"

    May: Das wäre dann auch im Sinne der wertegeleiteten Außenpolitik?
    Trittin: Ich glaube, man darf dort, wo Menschen für ihre ureigensten Rechte eintreten, zum Beispiel das Recht, das Haus zu verlassen, oder das Recht, sich zu ernähren und zur Arbeit zu gehen und dabei nicht überwacht zu werden, auf die Straße gehen – dafür muss man immer ein offenes Ohr haben und das muss man auch öffentlich bekanntmachen.
    May: Aber eine Aktuelle Stunde im Bundestag hilft jetzt noch nicht direkt den Demonstrantinnen und Demonstranten. Da sind die Möglichkeiten noch begrenzt.
    Trittin: Wir erleben ja auch im Iran, dass die direkte Hilfe an dieser Stelle, die Möglichkeiten sehr beschränkt sind. Deswegen glaube ich, der entscheidende Hebel in unserem Verhältnis zu China liegt eher darin, dass wir sagen, wir sind Partner, Wettbewerber und strategischer Rivale, dass wir dort, wo sie eigene massive Interessen und auch Abhängigkeiten haben, nämlich im Bereich Wettbewerb – auch China ist von Europa abhängig -, dass wir dort ansetzen, zum Beispiel durch ein Gesetz, was den Import von Produkten aus Zwangsarbeit nach Europa unterbindet, ebenso wie durch ein vernünftiges Lieferkettengesetz.
    May: Herr Trittin, eine Frage habe ich noch, und die geht um alles. Muss den Demokratien des Westens eigentlich bange sein vor diesem China, mit dem man sich im Systemwettbewerb befindet, das offensichtlich nicht in der Lage ist, aus Fehlern zu lernen, seine Strategien bei der Bekämpfung von Corona anzupassen, und das zu stolz ist, den besseren MRNA-Impfstoff des Westens einzukaufen?
    Trittin: Ich glaube, dass wir China ernstnehmen müssen und auch die Herausforderungen, die durch die neue Herrschaft in China entstehen. Das ist ein anderes China als vor 20 Jahren. Aber wir sollten uns auch nicht einschüchtern lassen, gerade durch die jüngsten Konflikte. Der Umstand, dass China die niedrigsten Wachstumsraten in Asien hat, das ist zum ersten Mal in der Geschichte so. Dass genau all dieses so stattfindet zeigt, dass auch die Möglichkeiten Chinas im Systemwettbewerb begrenzt sind.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.