"Wer einzuschätzen weiß, was die Natur bewirken kann, und einzuschätzen weiß, was der Mensch bewirken kann, ist vollkommen. Wer einzuschätzen weiß, was die Natur bewirken kann, lebt mit der Natur; wer einzuschätzen weiß, was der Mensch bewirken kann, weiß damit, was sich wissen lässt, und nährt sein Wissen mit dem, was sich nicht wissen lässt."
Klingt nach zeitgemäßem Klimaschutz, ist jedoch älter als 2000 Jahre. Der Philosoph Zhuangzi, von dem diese Zeilen stammen, soll zwischen 369 bis 286 vor unserer Zeitrechnung gelebt haben.
Die Natur ist ein zentrales Thema der Daoisten. Für sie ist ein Leben in Harmonie und Gleichgewicht mit der Natur stets erstrebenswert. Davon inspiriert war auch Zhuangzi. Für ihn war es wichtig, die Abläufe in der Natur zu erkennen und mit ihrer Kraft zu arbeiten anstatt sich ihr entgegenzustellen.
"Es gibt einen Kernsatz: 'Tue das Nichtstun und nichts bleibt ungetan'. Und es gibt von dieser Kurzform ganz verschiedene Lesarten und Interpretationsrichtungen. Manche sagen, dieses Nichtstun bedeutet: Handele nicht gegen die Natur. Das ist eine sehr alte Interpretation."
Der Wettstreit der Philosophen
Für den Verleger und Übersetzer Viktor Kalinke, der sich seit seiner Jugend mit chinesischer Kultur, Sprache und Geschichte beschäftigt, hat die Aufforderung "Tue das Nichtstun und nichts bleibt ungetan" des alt-chinesischen Philosophen und Dichters Zhuangzi durchaus auch eine politische Bedeutung:
"Inmitten der Kriege, die damals sehr häufig geführt wurden zwischen den einzelnen Fürstentümern, geht es darum, dass der Staat ermöglicht, dass die Menschen in Unbekümmertheit und Muße leben können, dass sie sich entfalten können. Das ist die Idee der individuellen Freiheit als Qualitätssiegel einer guten Regierung. Als Forderung aus dem vierten Jahrhundert vor Christus fand ich das schon sehr umwerfend."
Er soll aus ärmlichen Verhältnissen stammen, verheiratet gewesen sein, in einem Lackbaum-Garten gearbeitet und höhere Posten abgelehnt haben, heißt es vage in den historischen Quellen. Politische Unruhen, soziale Ungleichheit und geistige Umbrüche bestimmten jene Zeit, sagt Viktor Kalinke und ergänzt:
"Diese Zeit der streitenden Reiche, in der die einzelnen Fürstentümer um die Vorherrschaft kämpften auf dem Gebiet des heutigen China, war zugleich auch die Zeit der sogenannten hundert Schulen, in der verschiedene Philosophen versuchten ihre Anschauung als Strategie im Kampf um die Vorherrschaft zu verkaufen an den jeweiligen Fürsten. Was man nicht sagen kann, dieses Fürstentum, dieser Staat, diese Region hat diesen Glauben oder folgt dieser Philosophie, sondern es war eher auf Personen gemünzt und nicht auf Regionen oder Staatsgebilde und glich auch nicht einer Konfession, an die man geglaubt hat."
Trotz militärischer Konflikte gehörte die damalige Zeit in China geistesgeschichtlich zu einer der interessantesten Epochen, so Kalinke. Wie im antiken Griechenland lagen die Philosophen im Wettstreit und auch Zhuangzi wetteiferte mit. Und meistens soll Zhuangzi als Sieger hervorgegangen sein, heißt es bei einem chinesischen Historiker.
"Der Konfuzianismus war für die Herrschenden nützlich"
Im Weiteren soll es kein Gebiet gegeben haben, auf dem er sich nicht auskannte und dabei hätte er sich in der Hauptsache auf die Sprüche von Laozi bezogen. Als begnadeter Dichter und Wortkünstler soll er vor allem die Konfuzianer bloßgestellt und sie mit feinem Spott überzogen haben. Nach Meinung des Chinaexperten Kalinke lehnte Zhuangzi die Ideologie, die Tugendlehre Konfuzius' ab, die auf Autoritäten und Autoritätshörigkeit angelegt sei:
"In dem Bild, das Konfuzius von der Gesellschaft entworfen hat, spielen Hierarchien eine große Rolle. An der Spitze des Staates steht der Fürst oder der König, dann folgen die Beamten, es folgt der Ehemann vor der Ehefrau, der älteste Bruder vor dem jüngeren Bruder und die Bewahrung und Einhaltung aller gesellschaftlichen Beziehungen entsprechend des zugewiesenen Platzes in der Hierarchie ist ein Hauptmerkmal der konfuzianischen Lehre. Und das hat über Jahrhunderte zur Stabilität der Dynastien beigetragen, war daher auch für die Herrschenden sehr nützlich. Andererseits hat es auch zur Verkrustung beigetragen Und nach meinem Eindruck ist der autoritäre Ansatz, den die kommunistische Partei verfolgt und was wir jetzt unter Präsident Xi ganz aktuell erleben nicht sehr weit entfernt von dem, was Konfuzius gelehrt hat."
"Wer mit Ungerechtigkeit Gerechtigkeit anstrebt, dessen Gerechtigkeit bleibt ungerecht; wer mit Unglaubwürdigem Glaubwürdigkeit anstrebt, dessen Glaubwürdigkeit bleibt unglaubwürdig. Der Kluge handelt nur, wenn es dafür einen Anlass gibt; der Vergeistigte, wenn er daran glaubt. Der Kluge übertrifft den Vergeistigten nicht – das ist schon lange so; der Dumme beschränkt sich darauf, was er bei anderen sieht."
Zhuangzis Kritik an Kultur, Sitten und Bräuchen hielt sich in Grenzen und dennoch war er ein Freigeist. Ein Grund, warum er nicht wie die anderen Philosophen um die Gunst der Herrschenden buhlte: Er strebte nicht an, ihr Ratgeber zu werden und dafür belohnt zu werden. Er wollte sich nicht von Königen und Fürsten noch sonstigen großen Männern binden lassen. Er blieb seinen Maximen treu, wie Viktor Kalinke sagt: Die Freiheit, nichts Besonderes zu tun, die Freiheit, sich selbst zu folgen, die Freiheit, mit der Natur zu leben.
"Wer recht hat, hat unrecht"
Die Bedeutung der individuellen Freiheit bei Zhuangzi ist groß. Bereits im ersten Kapitel des 456 Seiten starken Buches " Zhuangzi – das Buch der daoistischen Weisheit" hebt er in einem mythologischen Gleichnis die individuelle Freiheit als ein hohes Gut hervor. Und diese Publikation mit 33 Kapiteln wird so wie die Sammlung Daodejing, die dem legendären Philosophen Laozi aus dem 6. Jahrhundert vor Zeitrechnung zu gesprochen wird, als Grundbuch des Daoismus gesehen.
"Was heißt, natürliche Unterschiede auszugleichen? Es heißt: Wer recht hat, hat unrecht; was so ist, ist nicht so. Wenn derjenige, der recht hat, wirklich recht hätte, würde sich seine richtige Meinung so sehr von der unrichtigen unterscheiden, dass er keine weiteren Argumente anführen müsste; wenn das, was so ist, wirklich so wäre, würde es sich so sehr von dem unterscheiden, was nicht so ist, dass keine weiteren Argumente angeführt werden müssten. Vergiss die Jahre, die dir zum Leben bleiben, vergiss die Rechtschaffenheit, brich auf ins Grenzenlose und wohne im Grenzenlosen."
Zhuangzi hat als anspruchsvoller Dichter des alten Chinas mit seinen Gleichnissen, Parabeln, Allegorien und Dialogen nicht nur westliche Intellektuelle wie Martin Heidegger oder Schriftsteller wie Hermann Hesse in den 1920er-Jahren inspiriert, sagt Kalinke, sondern auch als Philosoph mit seinen Konzepten zur Meditation dem Buddhismus wesentliche Impulse gegeben:
"Man kann sagen, dass in späteren Jahrhunderten, als der Buddhismus von Indien über die Seidenstraße nach China eingewandert ist und dann als Chan-Buddhismus und später in Japan als Zen-Buddhismus Verbreitung fand, dass dort auch Techniken, die Zhuangzi in seinem Buch beschreibt, wieder aufgegriffen wurden - beispielsweise das geistige Fasten. Also dass es darauf ankommt, was man mühsam in Schule und Universitäten gelernt hat zu vergessen, um wieder frei zu werden. Also Meditationstechniken, die eine Voraussetzung bilden, den Geist zu leeren, sozusagen die innere Freiheit zu schaffen zur Meditation."
Gleichnisse, Anekdoten und Weisheiten, die auf Zhuangzi zurückgehen, finden sich, wie Viktor Kalinke sagt, auch in den narrativen Methoden der modernen westlichen Psychotherapie wieder, ebenso auch in Tai-Chi-Schulen. Dort werden Texte des altchinesischen Denkers für meditative Übungen verwendet. Im asiatischen Raum genießt Zhunagzi als Philosoph hohes Ansehen. In Taiwan beispielsweise wird er auch als daoistischer Heiliger verehrt. Besonders sei die Wirkung auf die chinesische Sprache, sagt der Kalinke. Zhuangzi sei in dieser Hinsicht der chinesische Goethe.
Zhuangzi. Das Buch der daoistischen Weisheit. Übersetzt von Viktor Kalinke. Leipzig, Reclam 2019. 456 Seiten, 30 Euro.