Ein Werbespot im chinesischen Internet, auf der Verkaufs-Plattform Tianmao. Geworben wird für den 11. November, einen Tag, der in China mal als Single-Tag begann, als Tag der einsamen Herzen also, der aber mittlerweile der wichtigste Tag für all diejenigen ist, die im Internet Geld verdienen wollen.
"An diesem Tag", heißt es in dem Werbspot, "will ich Gold mit einem einzigen Wurf ausgeben und all die großen Löcher in meinem Herzen füllen". Shopping als Therapie– und als Kassenschlager für den elektronischen Einzelhandel. Denn dieses Jahr machte allein Tianmao mit dem sogenannten Shopping-Karneval rund 7,4 Milliarden Euro Umsatz, mehr als jemals zuvor. Das Online-Kaufhaus gehört zum Konzern Alibaba, der kürzlich mit seinem Börsengang in New York noch den Internetgiganten Facebook übertraf. Alibaba-Chef Jack Ma gab sich angesichts der klingelnden Kassen zum Single-Tag dennoch bescheiden:
"Unser Unternehmen ist noch sehr jung, unsere Industrie relativ neu und bei uns arbeiten sehr viele junge Leute. Außerdem sind wir erst kürzlich an die Börse gegangen. Die Leute haben große Erwartungen an uns – aber wenn ich ehrlich bin, stehe ich unter gewaltigem Druck. Wir sind gar nicht so gut, wie die Leute denken. Wir stehen immer noch vor vielen Herausforderungen und Schwierigkeiten."
Doch der ehemalige Lehrer Jack Ma hat Alibaba nicht nur zum größten Internetkonzern der Welt gemacht, er selbst ist damit zum reichsten Mann Chinas aufgestiegen. Geschätztes Vermögen 20 Milliarden Euro. Für die chinesische Regierung und Millionen von Internet-Unternehmern ist er damit zum großen Vorbild und Internet-Helden geworden. Kein Wunder also, dass Lu Wei, Chef der neuen Cyber-Behörde und damit Chinas ungekürter Internet-Minister, gerne sagt, China brauche nicht einen Jack Ma, sondern ganz viele:
"Das Internet ist ein zweischneidiges Schwert. Wenn man es gut einsetzt, kann es eine Alibaba-Schatztruhe sein, die endlose Schätze hervorbringt. Wenn man es schlecht einsetzt, wird es zur Büchse der Pandora, die unendlichen Schaden für die Menschheit bringt."
Lu Wei verkörpert wie kein anderer Chinas neues Selbstbewusstsein, wenn es ums Internet geht. Bei seinen seltenen Pressekonferenzen er lässt keine Gelegenheit aus, die strenge Internet-Kontrolle zu verteidigen. Denn das ist die andere Seite des Internet-Booms im Reich der Mitte: Während Konzerne wie Alibaba Geld scheffeln, hat China die Zensur des Internets so verschärft, dass es derzeit kaum noch Luft zum Atmen gibt, kaum noch Raum für die öffentliche Verbreitung regierungskritischer Meinungen. Spätestens seit dem Amtsantritt von Parteichef Xi Jinping im November 2012 und seiner Ernennung zum Staatspräsidenten vier Monate später ist klar, Meinungspluralismus steht nicht auf der Agenda der Führung. Alles ist verboten, was nach Kritik aussieht und wird als "Verbreitung von Gerüchten" geahndet oder als "Unruhestiftung" und Störung der öffentlichen Ordnung. Der Internet-Experte Jeremy Goldkorn, Gründer des Medien-Dienstes Danwei, beobachtet seit Jahren die Entwicklung im chinesischen Netz.
Heute macht keiner mehr Lärm
"Es gibt überhaupt keine Freiräume mehr, keiner, der vorher noch im Internet Lärm gemacht hat, macht heute noch Lärm. Selbst Leute wie der junge Blogger und Rennfahrer Han-Han, der sehr populär war und oft sogar von noch radikaleren Kommentatoren als zu unkritisch kritisiert wurde, äußert sich nicht mehr. Keiner macht mehr Lärm."
In den Jahren vor Xis Amtsantritt war das anders. Zwischen 2009 und 2012 gab es in China erstmals Anzeichen einer Art bürgerlichen Öffentlichkeit im Internet. Weibo sei Dank. An der Zensur der traditionellen Medien vorbei hatten sich die Weibo-Kurznachrichtendienste, die ganz ähnlich wie Twitter funktionieren, zu Plattformen des öffentlichen Diskurses, des Informationsaustausches und der Kritik entwickelt. Populäre Weibo-Blogger hatten Millionen Fans. Mit einem Klick, dem Posten einer einzigen Nachricht konnten sie Diskussionen im ganzen Land mitbestimmen. Und dabei ging es nicht nur um Klatsch und Tratsch, sagt der liberale Autor und Blogger Murong Xuecun. Menschen, die sich vormals alleine und isoliert glaubten, fanden im Netz nicht nur Gehör, sondern auch Gleichgesinnte.
"Das Internet, insbesondere Weibo, hatte einen gewaltigen Einfluss auf die chinesische Gesellschaft. Neben dem Offensichtlichen, dem Aufdecken von Korruption und Bestechung, ging es vor allem um die Bewusstwerdung der Menschen. Früher stand das Kollektive über dem Individuellen, der einzelne war nur ein Rädchen im Getriebe. Aber mit Weibo wurden sich mehr und mehr Menschen ihrer selbst bewusst."
Murong selbst hatte zeitweise sechs Millionen Followers, die jeden seiner Blog-Einträge lasen und weiterleiteten. Sicher, auch in dieser Zeit wurde zensiert. Twitter und Facebook wie auch Youtube waren längst blockiert. Aber Weibo hatten die Behörden zugelassen, wohl weil sie die Macht der sozialen Medien anfangs einfach nicht verstanden. Wenn die Zensoren auf unliebsame Posts reagierten, war es oft schon zu spät, hatte sich eine Nachricht oder ein Foto bereits millionenfach verbreitet.
"Was heikle Themen angeht, rund um das Jahr 2010 gab es Tage, da war das Internet so frei, dass man fast über alles reden konnte, auch über Mao Zedong oder die Kulturrevolution. Und es gab dieses Erwachen, was die eigenen Rechte angeht. Umsiedlungen und Enteignungen waren ein großes Thema, Geburtenkontrolle, das rigide Haushaltsregistrierungssystem – alles wurde infrage gestellt. Bei allem ging es um grundlegende Menschenrechte."
"Die Katze hat gewonnen"
Das Internet, die sozialen Netze, die Kommunikationstechnologien galten wieder einmal als Hoffnungsträger, die zu gesellschaftlichen Veränderungen führen könnten – wie in anderen Ländern, wo die sozialen Medien gesellschaftliche Umbrüche begleitet und befördert haben. Doch nicht in China. Dort ist es mit den freien Debatten schon wieder vorbei. Nicht nur Murongs Mini-Blogs wurden geschlossen. Seit etwa anderthalb Jahren läuft eine Zensur- und Verfolgungskampagne, mit der das Internet wieder unter die Kontrolle der Kommunistischen Partei gebracht werden soll. Internet-Experte Jeremy Goldkorn:
"Seitdem geht es Schlag auf Schlag, mal werden weitere ausländische Webseiten blockiert, mal Leute, die offen ihre Meinung sagen, verfolgt oder festgenommen oder wegen Unruhestiftung oder anderer übertriebener Vorwürfe verurteilt. Die Behörden werden bei Internet-Unternehmen vorstellig und es erscheinen ständig Artikel in der Volkszeitung oder anderen Staatsmedien mit der Botschaft, das Netz zu säubern und zu regulieren."
Um die über 600 Millionen Internet-Nutzer in China abzuschrecken und einzuschüchtern, wurden einige prominente Blogger unter teils scheinheiligen Begründungen verhaftet. Andere wurden im Fernsehen vorgeführt – darunter reiche und einflussreiche Investoren wie Pan Shiyi. Er ist mit Immobiliengeschäften in den Klub von Chinas Superreichen aufgestiegen, aber im Grunde seines Herzens ist er ein Liberaler, der sich mit Aufrufen gegen den Smog einen Namen gemacht hatte und von 16 Millionen Menschen gelesen wurde. Ungläubig schaute das Milliardenvolk zu wie dieser smarte und gut vernetzte Mann im Staatsfernsehen auftrat und reumütig ins Mikrofon stotterte:
"Man muss vorsichtig sein, mit dem, was man veröffentlicht. Als Meinungsführer mit vielen Fans muss man streng mit sich sein und diszipliniert und darf nicht einfach ohne nachzudenken etwas posten. Sonst schadet man der Gesellschaft."
Die Einschüchterung von Meinungsführern wie Pan Shiyi hatte Erfolg. Millionen andere bekamen Angst. Der Mythos Weibo war gebrochen. Denn neben offener Repression läuft seit etwa einem Jahr eine Kampagne gegen Gerüchte – in China ein sehr dehnbarer Begriff. Wer Gerüchte verbreitet oder weiterleitet, dem drohen jetzt bis zu drei Jahren Haft. Seitdem ist es vorbei mit den wilden, lebendigen, manchmal absurden Debatten; seitdem herrscht bei Weibo Friedhofsruhe. Und damit ist auch der Traum von der Ermächtigung der Ohnmächtigen durch neue Technologien erst einmal ausgeträumt. Im Katz- und Mausspiel zwischen dem Zensor und den Zensierten hat die Katze erst einmal gewonnen. Jeremy Goldkorn:
"Absolut, die Katze hat gewonnen. Wobei viele, die noch nie in China waren, die Zensur leicht missverstehen. Wer an bestimmte Informationen in China herankommen will, kann relativ leicht herausfinden, wie man mit technischen Tricks etwa mit einem VPN, einem virtuellen privaten Netzwerk, die Zensur umgeht. Sie haben ja keine hermetische Mauer geschaffen. Aber es ist so gut wie unmöglich, dass derzeit im chinesischen Internet Debatten außerhalb der Kontrolle der Partei stattfinden. Das haben sie sichergestellt. In dem Sinne hat die Katze gewonnen."
Die Polizei kontrolliert längst auch Messaging-Dienste
Viele Chinesen haben sich ins Private oder Halbprivate zurückgezogen. Weibo, das war gestern. Jetzt sind sie auf Weixin unterwegs. Die Smartphone-App funktioniert so wie ihr westliches Pendant WhatsApp. Es ist im Wesentlichen ein Messaging-Dienst, bei dem Fotos und Nachrichten nicht mehr öffentlich gepostet, sondern nur noch in einem kleinen Zirkel von Freunden geteilt werden. Nicht mehr die große Bühne, sondern nur noch die private Couch. Zumindest wirkt es so. In Wahrheit lesen die Zensoren längst auch bei Weixin mit, sagt Murong Xuecun. Er selbst hat beispielsweise die Erfahrung gemacht, dass Texte, die er per Weixin verschickte, bei ihren Empfängern nie ankamen.
"Dieses Mal war ihre Reaktion auf Weixin viel schneller als bei Weibo. Sie haben sofort verstanden, dass das, was bei Weixin gepostet wird, schlecht für sie sein kann und sie diesen Dienst sofort unter ihre Kontrolle stellen müssen."
Viele Nutzer wiegen sich aber bis heute in falscher Sicherheit. Als sich vor einigen Wochen im Künstlerdorf Songzhuang vor den Toren Pekings eine Gruppe kritischer Kreativer zu einer Solidaritätslesung mit den Demokratieprotesten in Hongkong treffen wollte, wurden sie festgenommen. Die Polizei hatte leichtes Spiel: Die Künstler hatten sich per Weixin verabredet – die Behörden wussten bestens Bescheid. Überhaupt Hongkong. Die wochenlangen Proteste in der ehemaligen britischen Kolonie zeigen, wie gut in China die Zensur und die Propaganda funktionieren.
Denn während internationale Medien ausführlich über die Hintergründe berichteten, bekamen die Chinesen nur die Version ihrer Staatsmedien präsentiert – auch im Internet. Bilder und Textnachrichten aus Hongkong wurden rigoros gelöscht. Die Bildschirme von BBC und CNN wurden schwarz, wenn Hongkong zur Sprache kam. Bei CCTV wiederum, dem chinesischen Staatssender kamen trotz wochenlanger Proteste die Studenten kein einziges Mal zu Wort, sondern nur die Regierung und die Gegner der Proteste, darunter verärgerte Taxifahrer, die über Umsatzeinbußen klagten, Redner, die vor Chaos und Untergang warnten. Das mag aus der Ferne etwas einfach gestrickt wirken, doch ist die Berichterstattung gar nicht mal so schlecht gemacht. Die Bilder sind nicht vergleichbar mit der plumpen, plakativen Propaganda der Vergangenheit oder mit den alten Parolen der Kommunistischen Partei. Die neue Form der Informationssteuerung entfaltet ihre Wirkung viel subtiler. Internet-Experte Jeremy Goldkorn:
Die Leute glauben, was die Regierung sagt
"Wegen des Fehlens anderer Stimmen, funktioniert so etwas. Die Leute glauben nicht alles, was die Regierung sagt, aber die Mehrheit akzeptiert die offizielle Linie, dass dies undankbare Studenten sind, die keine Unruhe stiften sollten, wo doch die Regierung so gut zu ihnen ist, dass feindliche ausländische Kräfte eine Rolle spielen. Das ist die Regierungslinie, und viele Leute hinterfragen das nicht, weil es die einzige Version ist, die sie derzeit mitkriegen."
Für Jeremy Goldkorn sind das ungewohnte Worte. Er lebt seit vielen Jahren in China und hatte bis vor Kurzem noch an die positive Macht des Internets geglaubt. Doch die Ereignisse der letzten zwei Jahren haben ihn zum Pessimisten werden lassen.
"Ich habe lange geglaubt, dass das chinesische Internet trotz aller Probleme Fortschritte macht als ein Ort, wo die chinesische Kultur damit beginnen konnte ihre Fühler auszustrecken, neue Ideen zu testen. Und bis 2012 war das auch tatsächlich der Fall. Aber die jetzige Agenda der Regierung ist klar: Sie will, dass mit dem Internet Geld verdient wird, sie will es als Kontrollinstrument benutzen, es soll ihre Werte reflektieren und sie ist nicht bereit, Leute oder Webseiten zu akzeptieren, die dieses Projekt gefährden könnten."
Nach Recherchen von GreatFire China, einer Non-Profit-Organisation, die die Zensur in China transparenter machen will, hat die Volksrepublik mit ihren Heerscharen von Cyberpolizisten mittlerweile rund 56.000 Web-Adressen blockiert. Tausende von Suchbegriffen werden gefiltert. Ganze Internetkonzerne aus dem Markt ausgeschlossen. Das Unternehmen Google etwa, das sich irgendwann weigerte, die strikten Zensurvorgaben der chinesischen Behörden in seinen Suchmaschinen umzusetzen, spielt heute auf dem größten Internetmarkt der Welt nur eine untergeordnete Rolle. Viele Google-Dienste sind blockiert oder so langsam, dass Nutzer frustriert aufgeben. Eine offizielle Begründung gab es nie. Twitter, Facebook, Youtube, Instagramm – alles ebenfalls blockiert. Ausländische Unternehmen beklagen mittlerweile offen, dass die Zensur und die daraus resultierende Lahmheit des chinesischen Internets ihre Geschäfte beeinträchtigt.
Chinas Internetnutzer bewegen derweil in einem virtuellen Parallel-Universum zu dem der restlichen Welt, das von chinesischen Firmen wie Baidu, Sina, Tencent oder eben Alibaba dominiert wird, die sich den staatlichen Vorgaben brav beugen und bei der Zensur fleißig mithelfen. Denn sonst könnten sie ihre Firmen gleich zumachen.
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg mag zwar kürzlich an der renommierten Tsinghua-Universität aufgetreten sein und bekam für seine Chinesisch-Kenntnisse großes Lob. Aber der chinesische Markt bleibt ihm trotzdem verschlossen. Internet-Minister Lu Wei nahm kein Blatt vor den Mund, als er die Blockade von Netzwerken wie Facebook verteidigte:
"China war immer gastfreundlich gegenüber der Welt, aber ich kann mir doch wohl aussuchen, wen ich zu mir nach Hause einlade. Ich kann andere nicht ändern, aber meine Freunde selbst auswählen. Ich hoffe, dass die, die nach China kommen, unsere Freunde, echte Freunde sind."
Ein neuer Angriff auf die Internet-Freiheit
China verpackt seine Ideologie der Zensur im Konzept der "Internet-Souveränität". Dahinter verbirgt sich die Idee, dass die Internetsphäre eines Landes wie eigenes Territorium zu behandeln ist: Dass also China mit seinem Internet machen kann, was es will und sich gegen Einmischung von außen verwahren kann. Demnach müssen nationale "Informationsgrenzen" nämlich wie Landesgrenzen respektiert werden. Als im Zuge der Proteste in Hongkong auch die Webseiten der BBC gesperrt wurden, wies Außenamtssprecher Hong Lei Kritik daran kühl zurück:
"Chinas Bürger genießen volle Internet-Freiheiten. Gleichzeitig verwaltet China das Internet im Einklang mit seinen Gesetzen."
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warnte unlängst, dass China seine Ideen der Kontrolle und "Internet-Souveränität" mittlerweile als Modell für die globale Regulierung des Internets sieht und mehr chinesische Mitsprache durchsetzen wolle. Amnesty spricht bereits von einem neuen Angriff auf die Internet-Freiheit. Auch Jeremy Goldkorn hat beobachtet, dass China keine Gelegenheit auslässt für seine Vorstellungen zu werben:
"Je mehr das international akzeptiert wird, desto mehr erscheinen Chinas Kontrollen als die Norm und nicht als die Ausnahme. Derzeit können nur Nordkorea, Saudi-Arabien und vielleicht noch Eritrea mit China konkurrieren, wenn es um Kontrollen geht. Aber mit dem Konzept der Internet-Souveränität versucht China weniger merkwürdig dazustehen."
Im eigenen Land boomen derweil die Geschäfte im Internet; die Regierung baut die Infrastruktur für die virtuellen Marktplätze immer weiter aus. IT-Konzerne wie Alibaba, Baidu oder Tencent sind die Lieblingskinder der Führung, die das Land schon als künftige Cybermacht sieht. Alibaba wächst und wächst und macht heute schon mehr Umsatz als Ebay und Amazon zusammen. China hat – vorerst zumindest – bewiesen, dass Kommerz und Kontrolle wunderbar zusammenpassen.