Jürgen Zurheide: Die Feiern auf der einen Seite in Peking und die Proteste in Hongkong – über all das wollen wir reden mit einem, der sich besonders gut auskennt in dieser Region, aber nicht nur da. Ich begrüße am Telefon den Schriftsteller und China-Kenner Tilman Spengler. Schönen guten Abend, Herr Spengler!
Tilman Spengler: Guten Abend, Herr Zurheide.
Zurheide: Fangen wir doch mal an. Was lösen die Bilder dieser Militärparade in Peking bei Ihnen aus?
Spengler: Das waren eigentlich zwei Eindrücke. Das eine war, dass es praktisch so wie eine Inszenierung eines alten Mao-Wortes daher kam. Das lautet: Vergesst nicht, dass alle Macht aus den Läufen der Gewehre kommt. Das ist irgendwie aus Anno-Dunnemals-Zeiten. Das war die eine Geschichte und die zweite Geschichte war das Bild von Xi Jinping, vom Staatspräsidenten, der ja doch nicht so wie Marschall Tito da durch die Gegend fuhr, sondern außerordentlich karg eigentlich auftrat, in einem ordensfreien Gewand, das eher auf den Gründer der Republik aus dem Jahr 1911 zurückwies als auf Mao. Das waren die beiden, aber mein Geschmack oder meine Toleranz militärischer Darbietungen ist eigentlich eingeschränkt. Deswegen habe ich nicht viel gesehen.
Spengler: Militärparade war Demonstration nach innen
Zurheide: Es ist ja in der Tat auch für meine Ohren und Augen einigermaßen fremd. Das will ich gerne zugeben. Ich habe mir aufgeschrieben oder mir Gedanken gemacht, das ist imperiales Gehabe auf der einen Seite, und ich frage mich, ist das in erster Linie aggressiv, oder ist das eher nach innen gerichtet, weil man sich selbst vergewissert, schaut mal, wie stark wir eigentlich sind, weil man vielleicht doch nicht richtig daran glaubt?
Spengler: Man muss einfach daran glauben, glaube ich, als Militär. Sonst wird man gefeuert. Aber da haben Sie sicherlich ganz recht. Das war sowieso sowohl eine Demonstration nach innen, insbesondere in den Süden des Landes, wo es ja ein bisschen unwirsch zugeht im Augenblick.
Zurheide: Da reden wir gleich noch drüber.
Spengler: Und das zweite war auch dieser eigenartige Zusatz, dass bestimmte Raketen innerhalb einer halben Stunde Amerika erreichen konnten. Das war nicht die Speerspitze diplomatischer Höflichkeit.
Zurheide: Wie sehen Chinesen diese Bilder? Dabei können Sie uns wahrscheinlich am ehesten helfen.
Spengler: Insofern, wenn man es ganz grob nur so sagen kann und dafür um Verzeihung bittet, aber sie sind natürlich ein Ausdruck dessen, dass nach all diesen Jahren, nach 90 Jahren Parteigeschichte, 70 Jahren Geschichte der Volksrepublik das Land ideologisch total ausgehöhlt ist und nur noch einen einzigen Glaubensfaktor kennt auf staatlicher Seite. Das ist der Patriotismus. Den Erwerbszwang sowieso oder das Wirtschaftsblühen sowieso, aber der Patriotismus ist an all das Geschehen, was früher durch Marxismus-Leninismus, Stalinismus, was auch immer bei den vielen Wandlungen der Kommunistischen Partei Programm war, geschehen und vorgetragen wurde. Und ich glaube, wenn ich das hier schnell hinterherschießen darf, die Kommunistische Partei wäre heilfroh, wenn es ihr irgendwie gelänge, den Namen Kommunistische Partei irgendwie loszuwerden.
"Agent Provocateur sind alle"
Zurheide: Schauen wir jetzt nach Hongkong. Das ist genau der andere Schauplatz. Gewalt, das sind die Bilder. Ich frage Sie auch bewusst. Gewalt, wobei ich habe den Eindruck von außen, es ist nicht nur eine Seite, die da gerne zündelt. Oder ist mein Eindruck falsch?
Spengler: Ich war vor drei Wochen dort und ich könnte mindestens fünf verschiedene Seiten nennen, die zündeln und gegenzündeln. Das ist ganz, ganz schwer zu überblicken als Territorium und wie die Kraftlinien verlaufen. Unsere Korrespondenten arbeiten da mit einem gewissen Heldenmut, aber auch denen ist bisweilen nicht ganz klar, ob diese Protestgruppe nun eine ist, die entweder von den lokalen Banditen, oder von den Festlands-Chinesen, oder von irgendjemand anders angestiftet worden ist, und so weiter. Es sind die Geheimgesellschaften im Spiel, es sind die konservativen Kräfte im Spiel, alles was es nur gibt, und Agent Provocateur sind alle.
Zurheide: Gibt es da noch Unschuld?
Spengler: Es gibt ganz wenig Unschuld und es gibt sehr viel Verzweiflung. Sie müssen sich das irgendwie an einem Beispiel vorstellen oder die Zuhörer sollten sich das an einem Beispiel klarmachen. Man demonstriert – und das ist natürlich aus unser aller Herzen gesprochen – für die Pressefreiheit, für die Freiheit des Individuums und für die Pressefreiheit. Dann kommen verschiedene Kräfte und kaufen die Presse. Dann ist es aber vorbei. Es gehört aber zur individuellen Freiheit, kaufen zu können, aber dann ist es wiederum mit der Pressefreiheit vorbei. Das ist ein so verwobenes, mit endlosen Widersprüchen bestücktes Szenario – gut, man kann auf die Knie fallen und ein bisschen beten, aber Hilfe von außen ist da ganz schwer sich vorzustellen.
Spengler: Progonosen über mehr als drei Monate sind schwierig
Zurheide: Was ist das für eine Botschaft, wenn Xi in Peking heute sagt, er hält fest an einem Land und zwei Systemen für Hongkong? Ist das eine Handreichung oder wie bewerten Sie es?
Spengler: Ja! Man würde in diesem Fall sich freuen, wenn diesem frommen Spruch oder dieser alten politischen Parole – die kommt ja aus den Verhandlungen damals zur Unabhängigkeit beziehungsweise zur Lösung Hongkongs vom britischen Kolonialreich -, wenn ihr Handlungen folgten. Das ist im Augenblick noch nicht so ganz abzusehen, aber das ist immerhin schon mal, das steht im Raume, und ist für so unverbesserliche Optimisten wie mich ein kleines Hoffnungszeichen.
Zurheide: Jetzt kommen wir noch mal ganz kurz zum Schluss auf das, was sich zwischen Amerika und China abspielt. Die Zeit wird am Ende für China sprechen. Natürlich wird China irgendwann die Vereinigten Staaten überholen. Wird das weiter aggressiv passieren oder nicht und wer ist dafür dann verantwortlich?
Spengler: Schauen Sie, ich bin ein weißköpfiger Mensch, wie man auf Chinesisch sagt. Prognosen über mehr als drei Monate halte ich für schwieriger als Lotto spielen. Aber man kann sicherlich sagen, dass einiges dafür spricht, dass die Kämpfe, die Kriege der Zukunft nicht mit diesen Dingern da ausgetragen werden, die wir heute auf dem Platz des himmlischen Friedens gesehen haben.
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