Manche Dinge brauchen etwas länger, bis die Öffentlichkeit Notiz nimmt. Als Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping im September 2013 in Kasachstan eine Rede hielt und das Erbe der über 2.000 Jahre alten Seidenstraße beschwor, dieser legendären Handelsroute zwischen Asien und Europa, fanden seine Worte in der Weltöffentlichkeit kaum Widerhall. Xis Vision einer neuen Seidenstraße, die Wohlstand nach Asien bringen soll, das klang wie eine der vielen Schlagwörter, die chinesische Politiker bei ihren wohl choreografierten Auftritten verwenden, wenn sie Zusammenarbeit beschwören, aber möglichst wenig Konkretes sagen wollen.
"Um engere wirtschaftliche Verbindungen zu schmieden, um unsere Zusammenarbeit zu vertiefen und mehr Entwicklungsmöglichkeiten für die eurasischen Länder zu schaffen, sollten wir unsere Kooperation durch den Aufbau eines wirtschaftlichen Seidenstraßen-Gürtels erneuern. Das ist eine großartige Aufgabe, von der alle Menschen in den Ländern entlang der Seidenstraße profitieren werden."
Die eigenen Interessen vorantreiben
Doch knapp zwei Jahre später ist diese "Neue Seidenstraße" wie auch ihr Gegenstück, die maritime Seidenstraße durch den Indischen Ozean nach Europa, aus keiner Rede chinesischer Politiker mehr wegzudenken. Auf Chinesisch heißt das Konzept "Yidai Yilu", was sich mit "Ein Gürtel, eine Straße" nur etwas holperig ins Deutsche übersetzen lässt. Aber dahinter verbirgt sich das Kernstück von Chinas neuer Außenpolitik unter Xi Jinping: eine wirtschaftsstrategische Vision, die Asien und Europa zusammenbringen soll, 65 Länder und 4,4 Milliarden Menschen, wie es in China heißt. Nur was steckt dahinter? Reine Wirtschaftspolitik oder geostrategisches politisches Kalkül?
Glaubt man der chinesischen Propaganda, dann geht es einzig und allein um bessere Handelsrouten und Transportkorridore zwischen Asien und Europa, die China zum Wohle der Menschheit ausbauen und entwickeln will. Die Volksrepublik helfe mit ihrer Seidenstraßen-Initiative der ganzen Welt, sagt emphatisch Wang Yiwei von der Volksuniversität Peking und Autor eines neuen Buches über die Seidenstraße. Deren strategisches Ziel beschreibt er so: "Wohlstand und Frieden schaffen. Und das sind keine leeren Worte. Dies ist ein gewaltiger Antrieb für das weltweite Wachstum. Es ist ein öffentliches Gut, das China der Welt zur Verfügung stellt."
Aber hinter den schönen Worten vom Frieden und Wohlstand vermuten Diplomaten und China-Experten deutlich mehr: den Versuch Chinas Einfluss in Zentralasien, in Südasien und im Indischen Ozean auszubauen. Das Seidenstraßen-Projekt sei eine deutliche Abkehr von der Außenpolitik der letzten 30 Jahre, die unter dem Diktum von Deng Xiaoping stand, den Ball flach zu halten und sich international zurückzuhalten, sagt Tom Miller, Analyst bei Gavekal Dragonomics in Peking. Jetzt wolle China mehr Mitsprache und mehr Einfluss. "China hat endlich etwas gefunden, was man als große Strategie bezeichnen kann: nämlich einen Weg die eigenen Interessen international voranzutreiben - politisch, wirtschaftlich, diplomatisch und auch militärisch."
Züge bis nach Duisburg
Vor Ort geht es zunächst aber tatsächlich erst einmal um den Ausbau von Straßen und Eisenbahnlinien. Nur: auch die werfen bereits eine Menge Fragen auf.
Die neue Seidenstraße beginnt an vielen Orten. So starten am Bahnhof von Yiwu, ein Zentrum der Billigproduktion an der chinesischen Ostküste Züge Richtung Westen. Oder in Xi’an, der alten Kaiserstadt, von wo vor 2.000 Jahren bereits die Kamelkarawanen Richtung Europa loszogen. Auch in Chongqing, der Millionenmetropole im Südwesten Chinas - von dort fahren bereits mehrmals die Woche Güterzüge die lange Strecke bis nach Europa: Durch China, Zentralasien, Russland und Polen - bis nach Duisburg. Gut zwei Wochen sind die Züge unterwegs und damit sehr viel schneller als die Container-Schiffe.
Allerdings ist der Transport von Handelsgütern per Zug derzeit noch sehr viel teurer und teilweise sehr umständlich, was Zollformalitäten und Kontrollen angeht. Und er sei bislang noch eine Einbahnstraße, sagt Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. Allerdings eine Einbahnstraße mit Potenzial. "Also ich glaube, dass das interessant werden kann. Momentan haben wir die Situation, dass aus dem Südwesten von China fünf Züge nach Duisburg gehen und einer, der zurückkommt. Also man fragt sich wo die anderen vier bleiben; die gehen dann per Schiff zurück und das zeigt schon das Problem; die Route ist derzeit noch nicht besonders profitabel, weil das einfach noch eine One-Way-Street ist. China kann dem abhelfen indem sie den Markt mehr öffnen und auch mehr Produkte aus Europa beziehen, sonst wird das im Grunde genommen eine One-Way-Street und das ist das Problem."
China plant bereits eine zweite Route, die etwas weiter südlich von der alten Oasenstadt Kashgar - also ganz weit im Westen Chinas - über Kirgistan, Usbekistan, vielleicht über den Nordiran, in die Türkei und damit ebenfalls nach Europa führen soll.
Pakistan ist begeistert
Auf den Märkten und Basaren in Kashgar ist allerdings vom neuen Aufbruch noch wenig zu spüren; die Händler dort warten auf Kundschaft – aus den Nachbarländern und aus den Dörfern in der Umgebung. Die Stadt an der chinesischen Peripherie hinkt der Entwicklung im Osten des Landes immer noch weit hinterher. Die Hallen in der neuen Sonderwirtschaftszone, die den grenzüberschreitenden Handel mit Kirgistan und Kasachstan beflügeln sollen, stehen noch weitgehend leer. Trotzdem hat Peking große Pläne - will etwa den Karakorum-Highway von Kashgar Richtung Pakistan ausbauen und ein Netz von Straßen, Eisenbahnstrecken und Pipelines nach Südasien bauen - bis nach Gwadar, den pakistanischen Tiefseehafen am Arabischen Meer. Ein riskantes Unterfangen - führt die Strecke doch durch das wilde Balutschistan und könnte leicht zur Zielscheibe terroristischer Anschläge werden. Trotzdem hofft China mit seinem Credo von der wirtschaftlichen Entwicklung seine eigene Unruheregion Xinjiang wie auch die benachbarten Regionen befrieden zu können.
Auch Pakistans Premierminister Nawaz Sharif war Feuer und Flamme als die Vereinbarungen über den neuen Transportkorridor im April unterzeichnet wurden. "Dieser Korridor wird allen Provinzen und Regionen in Pakistan nützen und unser Land in ein regionales Zentrum des Handels und der Investitionen verwandeln. Damit bekommt außerdem China eine kürzere und billigere Route nach Süd-, Zentral und Westasien sowie in den Nahen Osten und nach Afrika."
Dutzende chinesische Firmen stehen bereit
Die Schaffung neuer Märkte und neuer Transportkorridore für chinesische Exporte steht also bei Chinas neuer Außenpolitik deutlich im Vordergrund. Wie auch neue Aufträge für chinesische Firmen. Denn die für den Ausbau der Transportrouten notwendige Infrastruktur - wie Straßen und Eisenbahnlinien - wolle China hauptsächlich von seinen eigenen Unternehmen bauen lassen, sagt Tom Miller und zählt ein Dutzend chinesischer Firmen auf, die in den Startlöchern stehen. Vor allem staatliche Baufirmen und staatliche Eisenbahngesellschaften: "Ich denke, es geht in erster Linie um den Export von Überkapazitäten. Wie wir wissen, verlangsamt sich das Wachstum in China. Es gibt gewaltige Überkapazitäten in diversen Branchen - etwa bei Zement, Stahl, Werften und Eisenbahnzügen. China ist sehr erpicht darauf, Wege zu finden, all dies zu exportieren und neue Märkte für diese Unternehmen zu finden."
Schon jetzt ist China der weltweit drittgrößte Investor und will bis zum Jahr 2025 in aller Welt rund 1,2 Billionen Dollar investieren - ein Teil davon auch für die Seidenstraßenprojekte. Finanziert werden sollen sie nicht von etablierten Institutionen wie der Weltbank, sondern über Kredite von Chinas eigenen Entwicklungsbanken wie der Exim-Bank und durch neue Einrichtungen wie die Asiatische Investitions- und Infrastrukturbank, ein Projekt unter chinesischer Führung. Doch auch das werfe viele Fragen auf, sagt EU-Kammer-Präsident Wuttke. "Bei all den Projekten, die jetzt wahrscheinlich aufgelegt werden, ist sicherlich auch die Kommunikation wichtig, die Transparenz, wieweit werden Projekte jetzt nicht nur von Chinesen wahrgenommen, dass sie dann mit Hardware, Software, mit ihren Arbeitern kommen, aber eben auch europäische Komponenten, die dort mit verwendet werden. Da muss man sehen, wie die Ausschreibungen laufen, ob die richtig transparent sind, ob die den neuen Regeln der AIIB entsprechen, die sich ja anlehnen will an die Weltbank. Das müssen wir noch sehen. Dass da viel Geld dahinter ist, 20, 30, 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr, zeigt ja, dass da großes Interesse sein wird."
Indien hat viele Fragen
Das Gegenstück zur Neuauflage der alten Seidenstraße durch Zentralasien ist die maritime Seidenstraße - gedacht als Netz von Schiffsrouten und Häfen vom Südchinesischen Meer durch den Indischen Ozean Richtung Ostafrika und Richtung Mittelmeer, also ebenfalls nach Europa. Mit Myanmar, Bangladesch und Sri Lanka will China dabei eng zusammenarbeiten - was allerdings der anderen asiatischen Großmacht, Indien, gar nicht gefällt. Denn das ist das politische Problem der "Yidai, Yilu" - der neuen Seidenstraßen-Initiative: China dringt damit in die Einflusssphären anderer Länder ein - sei es der von Russland in Zentralasien oder der von Indien in Südasien.
Der aufwendige Empfang mit bunten Drachentänzern für den indischen Regierungschef Modi letzte Woche im zentralchinesischen Xi’an konnte über die großen Differenzen nicht hinwegtäuschen. In Delhi fürchtet man, dass die neue Seidenstraße eben nicht nur den Handel fördern soll, sondern auch darauf abzielt, Chinas strategische Kontrolle im Indischen Ozean auszuweiten: durch die Schaffung einer Reihe von chinesisch-dominierten Häfen, eine Art Perlenschnur, die sich wie eine Schlinge um Indiens Hals legen könnte. China betont, es gehe nur um die Sicherung von Schiffsrouten nach Europa wie auch für die lebenswichtigen Erdölimporte aus dem Sudan und dem Nahen und Mittleren Osten. Doch in Indien sitzt das Misstrauen tief. Der frühere indische Botschafter T.C.A. Rangachari hat zunächst viele Fragen:
"Was genau wollen sie machen? Der Indische Ozean ist bereits eine sehr stark befahrene Seeroute. Werden China und Indien kooperieren um Hafen-Infrastruktur in Indien auszubauen? Wird es mehr Verbindungen zwischen beiden Ländern geben? Wenn ja für welche Zwecke? Geht es auch um Produktionsstätten im jeweils anderen Land? Dies sind alles Fragen, auf die es bislang überhaupt keine Antworten gibt. Wir müssen darüber reden, bevor wir auf der indischen Seite unsere Schlussfolgerungen ziehen können."
Russland braucht die Investitionen
Ganz ähnlich ist die Lage in Russland. Zentralasien gilt als traditioneller Hinterhof Moskaus. Kulturell, sprachlich und historisch sind die Länder der ehemaligen Sowjetunion Russland deutlich näher als China. Die Volksrepublik ist zwar in den ehemaligen Sowjetrepubliken längst größter Handelspartner und größter Investor - trotzdem sieht Russland die Region als angestammte Einflusssphäre und verfolgt sein eigenes Integrationsprojekt, die Eurasische Wirtschaftsunion mit fünf ehemaligen Sowjetrepubliken. Doch China wirft sein ökonomisches Gewicht in die Waagschale und bietet sein Projekt als attraktivere Alternative an - offenbar mit Erfolg. Mittlerweile wird darüber gesprochen, beide Projekte zusammenzuführen. Russland habe mittlerweile verstanden, dass es ohne die Volksrepublik nicht geht, sagt Wang Yiwei von der Volksuniversität: "Russland versteht jetzt, dass sie viele Schwierigkeiten haben, dass ihre Wirtschaft nicht modernisiert ist, dass sie chinesische Investitionen brauchen. Sie müssen sich in die chinesische Seidenstraße integrieren, andernfalls leiden sie noch mehr unter den Sanktionen des Westens."
Doch Chinas wirtschaftliche Überlegenheit allein kann das Misstrauen nicht wettmachen. Auch die Liebesschwüre zwischen Xi Jinping und Wladimir Putin kürzlich in Moskau konnten die strategische Rivalität in Zentralasien nicht völlig überdecken. Langfristig sei das ein Risiko für das Projekt neue Seidenstraße, sagt Jörg Wuttke von der Handelskammer: "Da kann eine Menge Kollateralschaden entstehen, wenn die Großen, also Indien und Russland das als Beschneidung ihrer territorialen Einflussgebiete sehen, dann haben wir alle ein Problem. Noch hoffe ich, dass das als Logistikbereicherung für Europäer und Chinesen gesehen wird, aber die Musik spielt sicherlich dazwischen."
Es gibt die Angst, es könnte mehr dahinter stecken
In Südasien kommt neben den potenziellen Konflikten mit Indien auch noch das Gerangel mit den USA dazu, der wichtigsten Ordnungsmacht im asiatisch-pazifischen Raum. Allerdings würde China den amerikanischen Einfluss gerne zurückdrängen. Daher stellt sich die Frage, welche Konsequenzen der Ausbau des chinesischen Einflusses weit über die eigenen Grenzen haben wird. Gibt sich die Volksrepublik mit der Rolle der Wirtschaftsgroßmacht zufrieden oder hat sie weitergehende Ambitionen? Tom Miller: "Ist China eine expansionistische Macht? Derzeit noch nicht wirklich, aber es könnte eine werden. Derzeit geht es um eine wirtschaftliche Expansion. Chinas ökonomische Tentakel werden länger und kräftiger. Gleichzeitig gibt China viel Geld für sein Militär aus. Man kann dieses Projekt nicht vorantreiben ohne beispielsweise eine stärkere Marine. Wenn wie in der Vergangenheit in Nordafrika etwas passiert, musst du in der Lage sein die Leute zu evakuieren. Und wenn man mehr Handel im Indischen Ozean betreibt, braucht man Marine-Kapazitäten um Schiffsrouten absichern zu können. China betont, es gehe nur um Wirtschaftsdiplomatie, aber die große Angst ist, dass es mehr sein könnte."
Denn welche Rolle sieht China für sich selbst in der neuen Welt der neuen Seidenstraße? Xi Jinping spricht vom chinesischen Traum von der wiedererstarkten großen Nation. Dieser Traum wird von der Führung nur vage formuliert. Aber nach den Vorstellungen von Xi soll China spätestens 2049, also 100 Jahre nach Gründung der Volksrepublik und nach Jahrhunderten der Demütigung durch ausländische Mächte, nach Jahrzehnten der Armut und Rückständigkeit wieder seinen angestammten Platz in der Weltgeschichte einnehmen - als Großmacht - zumindest in Asien. Xi Jinping sehe Chinas als das neue Zentrum um das andere Länder künftig kreisen werden, sagt Tom Miller. "Im Wesentlichen geht es darum, Chinas wirtschaftliche Stärke, die tiefen Taschen dazu zu nutzen, wirtschaftliche Entwicklung über Chinas Grenzen hinaus voranzutreiben und damit die Länder in Asien in Chinas wirtschaftliche Umlaufbahn hineinzuziehen. China ist sich darüber im Klaren, dass es nicht viel Soft Power hat. Es ist noch kein Land das andere wegen seiner Ideen anzieht - aber es ist wegen seiner finanziellen Stärke und seines gewaltigen Marktes für andere attraktiv - und genau das will China ausnutzen."
Konflikte im Südchinesischen Meer
Doch ob diese Strategie aufgeht, ist noch lange nicht entschieden. Ein China, das zu offen und zu selbstbewusst seine Machtansprüche geltend macht, riskiert die Unterstützung und das Wohlwollen seiner Nachbarn zu verlieren - eine Erfahrung, die China bereits bei den Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer macht. Dort werden die Chinesen oft als der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen wahrgenommen, der seine Größe und wirtschaftliche Übermacht einsetzt, um seinen Einflussbereich auszudehnen. Und zwar zunehmend aggressiv. Während China erpicht darauf ist, die Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer von der großen Vision der neuen Seidenstraße zu trennen, ist es genau Chinas Verhalten in diesem Konflikt, das dem Misstrauen gegenüber Pekings strategischen Absichten immer neue Nahrung gibt.
Darüber hinaus bleibt offen, ob die vollmundigen Investitions-Ankündigungen in Zentral- und Südasien alle realisiert werden und die erhofften Gewinne auch tatsächlich einspielen. Und wie China mit den Sicherheits-Risiken umgeht, die diese neue aktive Außen- und Wirtschaftspolitik mit sich bringt. Eines ist klar: Die Zeiten der Zurückhaltung sind vorbei. Nur welche Gestalt der chinesische Drache annimmt, der sich jetzt anschickt, die Welt zu erobern, das bleibt weiterhin noch unklar.