Der Mensch, das ist keine ganz neue Erkenntnis, ist ein eitles Geschöpf und meint daher überall, wo er hinschaut, eine Spiegelung seiner selbst zu erkennen. Die Sterne? Sind extra für ihn zu Bildern angeordnet und zeigen Figuren wie den Schützen oder Helden wie Perseus, Castor und Pollux. Die Sonne? "Lacht" bei gutem Wetter vom Himmel herab, hat also offenbar menschliche Eigenschaften wie Mimik und Humor. Und der Mond? Ganz klar, der hat ein kugelrundes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen und offen stehendem Mund, das an eine in die Breite gegangene Version von Edward Munchs Gemälde "Der Schrei" erinnert.
Lunare Haare oder Glatze
Nun weiß jedes Kind, dass der Mond erstmals von Peterchen, Anneliese und einem Maikäfer namens Herr Sumsemann bereist wurde, dass er in Wirklichkeit gar kein Gesicht hat, sondern von einem Mondmann bewohnt wird, und dass das vermeintliche Antlitz nur ein optischer Effekt ist, der durch den Schattenwurf der Mondkrater sowie die unterschiedlich starke Reflektion der beiden Gesteinsarten Lunarit und Lunabas entsteht. Was hingegen kaum jemand weiß: Was sich genau auf der Rückseite, oder um im Bilde zu bleiben: auf dem Hinterkopf des Mondes befindet. Lunare Haare? Eine Glatze? Ein geheimes Testgelände für sowjetische Nuklearwaffen, wie ranghohe Mitarbeiter des Pentagon in den sechziger Jahren befürchteten? Oder eine Mondstation voll durchgeknallter Altnazis, wie vor wenigen Jahren die finnische Filmgroteske "Iron Sky" fabulierte?
Unklar. Der amerikanische Astronaut William Anders, der die Mondrückseite 1968 als erster Mensch mit eigenen Augen gesehen hat, behauptete hinterher, sie gleiche einem Sandkasten, in dem seine Kinder gebuddelt haben - aber erstens gibt es kaum gesicherte Informationen über die Buddelgewohnheiten der Anders’schen Kinder, und zweitens: Woher wollen wir wissen, dass ihr Vater die Wahrheit gesagt hat, und nicht ebenfalls Teil ist der großen Mondverschwörung? Fest steht: Im Englischen hat sich für die erdabgewandte Seite des Trabanten der Ausdruck "The Dark Side of the Moon" eingebürgert. "Jeder Mensch ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er nie jemandem zeigt", meinte schon der amerikanische Autor Mark Twain.
Helle Seite bleibt im Dunkeln
Auch diese Formulierung zeugt freilich von der unheilbaren Ich-Bezogenheit des Menschen sowie seinem unverändert geozentrischen Weltbild. Ist es etwa unser Heimatplanet, der den Mond erleuchtet? Nein, es ist natürlich die Sonne: Die erdabgewandte Trabantenseite ist denn auch keineswegs dunkel, sondern ganz im Gegenteil sogar heller als die uns zugekehrte Hemisphäre - wir können sie nur einfach nicht sehen.
Dies wirft freilich ein völlig anderes Licht auf das erwähnte Mark-Twain-Zitat: Ist jene Seite unseres Charakters, die wir unseren Mitmenschen vorzugsweise vorenthalten, womöglich in Wirklichkeit die hellere, bessere? Wissen wir das bloß nicht, weil sie eben außerhalb unseres Blickfelds liegt? Zeigen wir der Welt also zeitlebens nur unsere schlechten Charakterzüge und drehen unsere Schokoladenseite in Richtung Sternenzelt? La le lu, nur der Mann im Mond schaut zu …. Vielleicht kann er ja unsere vermeintlich dunkle Seite sehen und uns sagen, wie es um sie bestellt ist. Wir können ihm dafür auch verraten, was sich auf seinem Hinterkopf abspielt: Dort parkt seit heute eine chinesische Raumsonde und pflanzt Gemüse. Ja, ernsthaft: Gemüse. Ja: wenn mir das jemand erzählen würde - dann würde ich auch so erschrocken gucken.