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Chinas soziale Ungerechtigkeit

In China steht eine bitterarme Landbevölkerung einer immer reicher werdenden Führungselite gegenüber. Das Ganze geschieht unter der Beteiligung der kommunistischen Regierung und ihrem angeblichen Gleichheitsanspruch.

Von Markus Rimmele | 08.01.2013
    Shen Yuanyuan schürzt die Lippen, nippt an einem großen Rotweinkelch. Shen arbeitet in der Finanzbranche. Jetzt sitzt sie bei einer Weinprobe mit Geschäftsfreunden im exklusiven Aoron-Weinkeller in Shanghai.

    "Die teuersten Weine, die ich jemals getrunken habe, kosteten pro Flasche 30.000 bis 50.000 Yuan, 3500 bis 6000 Euro", erzählt die 28-Jährige. Ein Freund hatte sie zu einer Party mitgebracht. Sechs Flaschen, alles berühmte französische Marken. An dem Abend haben wir weit über 10.000 Euro für Wein ausgegeben.

    Wein spielt eine große Rolle in ihrem Leben, sagt die junge Frau – so wie für viele neue Reiche in China. Die Volksrepublik ist heute schon der fünftgrößte Weinmarkt der Welt. Teure Weine sind zu einem Statussymbol und zu einer beliebten Geld-Anlageform geworden. So wie Kunst. So wie Luxus-Immobilien in Hongkong, Singapur oder London. So wie Nobel-Autos. Der jährlich in Shanghai veröffentlichten Hurun-Reichen-Liste zufolge leben in China heute rund 250 Dollar-Milliardäre und mehr als eine Million Millionäre.

    Ein kleines Dorf in der südwestchinesischen Provinz Guizhou, der nach Pro-Kopf-Einkommen ärmsten des Landes. Hier lebt Bauer Liang Wu. Er verdient sein Geld mit Landwirtschaft.

    "Wenn wir alle Einkünfte zusammenzählen, inklusive Schweinezucht, verdienen wir am Jahresende 3000 Yuan, 350 Euro. Für fünf Personen ist das natürlich nicht genug. Manchmal leihe ich mir Geld von anderen. Das meiste gebe ich für die Ausbildung der Kinder aus und für die Bewirtung von Gästen."

    Heute, drei Jahre nach diesem Interview, ist Liang Wus Einkommen angestiegen. Die Preise mit der hohen Inflation allerdings ebenfalls.
    Eine boomende Luxusbranche einerseits, der Kampf ums tägliche Überleben andererseits. Das ist die Realität im formal immer noch kommunistischen China. Die sozialen Unterschiede haben enorm zugenommen. Soziologen haben die gesellschaftliche Kluft jüngst neu berechnet. Demzufolge ist China nicht mehr weit vom Land mit der größten Ungleichheit der Welt entfernt, dem von der Apartheid sozial zerrissenen Südafrika.

    Immerhin: Fast allen Chinesen geht es heute materiell besser als vor 30 Jahren, als die Öffnung des Landes begann. Doch manchen geht es unendlich viel besser, anderen nur ein bisschen. Diese Ungleichheit schafft Konflikte. Vor allem unter Arbeitern und Bauern steigt die Unzufriedenheit. Lokale Proteste sind Alltag. Die Anzahl von Aufständen und Demonstrationen hat sich allein zwischen 2006 und 2010 verdoppelt, schätzen Soziologen von der Pekinger Qinghua-Universität. Sie gehen von 180.000 Protesten pro Jahr aus, darunter 30.000 Arbeiterstreiks.

    "Ich spüre, wie sich da eine Stimmung in der Gesellschaft ausbreitet, und zwar in den unteren Schichten, sagt der Soziologe Yu Hai von der Shanghaier Fudan-Universität. Gewalt wird immer mehr zu einer allgemeinen Kultur. Das ist ein gefährliches Anzeichen."

    Besonders groß ist die Wut wegen der allgegenwärtigen Korruption unter den Beamten, Parteikadern und Mitarbeitern von Staatsunternehmen. Diese bereichern sich oftmals schamlos auf Kosten der Bevölkerung. Und an der Staatsspitze sieht es offenbar nicht anders aus. Wie die New York Times berichtet, soll die Familie von Premierminister Wen Jiabao ein Vermögen von 2,1 Milliarden Euro angehäuft haben. Vor einigen Monaten berichtete Bloomberg über den ebenfalls abenteuerlichen Reichtum der Familie des neuen Partei- und künftigen Staatschefs Xi Jinping.

    Drei Jahrzehnte Wirtschaftsboom: Kaum jemand hat offenbar so sehr davon profitiert wie die kommunistische Machtelite und ihre Clans. Der politische Einfluss öffnet alle Türen. Finanzen, Energie, Telekommunikation, Entertainment: Überall haben die Angehörigen der Mächtigen offenbar ihre Finger mit im Spiel. Vor allem in den mächtigen Staatskonzernen, sagt Gu Xuewu, Politologe an der Universität Bonn.

    "Die politischen Vertreter und ihre Familien sind auch deshalb so reich, weil alle Familienmitglieder vom Sohn über die Schwiegertochter bis hin zum Enkel Führungspositionen in den Staatsbetrieben besetzt halten. In allen 134 Staatskonzernen, die unter der direkten Aufsicht der Zentralregierung stehen, sind die Vorstandsmitglieder und Manager dort wegen ihrer persönlichen Beziehungen."

    Einzelne Clans beherrschen angeblich ganze Wirtschaftsbereiche. Wie aus einem von Wikileaks veröffentlichten US-Dokument hervorgeht, kontrolliert Li Pengs Familie etwa wie eingangs erwähnt den Stromsektor, die Familie von Zhou Yongkang die Ölindustrie. Zhou ist Ex-Chef des chinesischen Sicherheitsapparats. Und Wen Jiabaos Frau beherrscht laut New York Times das Edelsteingeschäft.

    China, das größte kommunistische Land der Erde ist heute auch das Land der sozialen Ungleichheit, der Vetternwirtschaft und der Vergötterung des Reichtums.

    Der Shanghaier Geschichtsprofessor Zhu Xueqin versucht, das Phänomen China zu erklären:

    "Sagen wir mal, die kommunistische Partei ist eine Katze, dann wäre der Kapitalismus eine Maus. Katze und Maus sind natürliche Feinde. Katzen fressen Mäuse. Seit der Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping haben die Menschen aber bemerkt: Es gibt da eine neue Art Katze. Eine Katze, die keine Mäuse frisst. Katze und Maus sind in China eine seltsame Beziehung eingegangen, eine Liebesbeziehung!"

    Alle Beiträge der Serie "Clash of Cultures" - Neue Kulturkonflikte
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