Als im Reich der Mitte 1966 die Kulturrevolution entfesselt wurde, erhielt man im Westen nur spärliche Informationen über das Verwirrung stiftende Monsterereignis. Was Werner Gille, damals 38 Jahre alt und freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, umso neugieriger werden ließ. So beschloss er, sich als Beobachter auf das Abenteuer Volksrepublik China einzulassen. Noch heute kann er sich das Privileg seines Einreisevisums nicht erklären.
"Ich wusste natürlich, dass die Volksrepublik China praktisch für alle westlichen Ausländer verbotenes Land ist. Ich weiß auch nicht, ob man mich benutzt hat als eine Art Kurier, ohne dass ich das selbst wusste. Kurz nach meiner Landung wurde ich von einem Kommandeur der roten Propagandakompanie, der kam auf mich zu, begrüßte mich sehr herzlich und streifte mir ein Armband über den linken Arm, auf dem stand in Chinesisch "Freund des Volkes". Das schützte mich vor Anpöbelungen."
Gille schildert eindrucksvoll seine ambivalenten Empfindungen: auf der einen Seite der propagandistische Alltag, die Berieselung mit nervtötenden Gesängen, Parolen und Wandzeitungen. Andererseits erfährt er die Liebenswürdigkeit der Menschen, mit denen er zusammenkommt.
Einblicke in die Geschehnisse
"Also, ich will mal sagen, menschlich haben sie mich beeindruckt. Und ich hatte auch ein gewisses Mitleid mit ihnen. Diese Menschen haben unglaublich gearbeitet, in abgerissener Kleidung von früh bis abends. Diese paar Stunden Freizeit, und dann der politische Unterricht."
Der Autor macht sich kundig in Peking, Schanghai und auf dem Land. Er wird dabei Zeuge bestürzend chaotischer Verhältnisse, welche Maos angestrebte neue große Ordnung nicht erkennen lassen. Am 1. Mai 1967 ist er Augenzeuge einer bizarren Verherrlichung des "Großen Steuermannes" auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Mao Zedong hält Massenaudienz vor Millionen.
"Ich saß auf der Ehrentribüne circa 50 Meter entfernt von Mao Zedong. Die Massen kommen von allen Seiten. Man begrüßt jubelnd den Führer, die ganze Stadt ist ein einziges Fahnenmeer. Dann marschieren sie, und die Lautsprecher sagen immer: 3.000 Sportler marschieren zum Platz des Himmlischen Friedens, um Mao Zedong ihre Liebe zu bekunden. 20.000 Rotgardisten kommen, dreißigtausend Studenten. Das wurde so richtig aufgeheizt. Und dann zum Schluss: Und jetzt kommt unser geliebter Führer, die rote Sonne in unserem Herzen, Mao Zedong, 10.000 Jahre soll er leben. Das heißt: Immer wollen wir dir folgen, wollen wir dir treu sein."
Gewalttätigkeiten und Grausamkeiten der von Mao aufgehetzten Jungen Garden gehören zum revolutionären Alltag, wie Gille am Beispiel des abstoßenden Massenrituals der öffentlichen Selbstkritik zeigen kann:
"Man hat sie bloßgestellt, man hat sie vors Mikrofon geholt. Und Massen von Menschen wurde gesagt: Kommt hin und hört euch das an. Also die wurden vor der Bevölkerung auf die Bühne gestellt. Und dann waren da ein paar Rotgardisten. Und die haben erst eine Rede gehalten und ein paar Mao-Zitate vorgelesen oder auswendig aufgesagt. Dann wurden die Einzelnen aufgerufen, zu sagen, sie sollen einfach bekennen, warum sie hier sind, dass sie freiwillig hier sind, dass sie niemand gezwungen hat. Und dann kam die Selbstkritik: Ich bereue zutiefst. Ich bitte, das alles wieder gut machen zu dürfen. So in diesem Stil lief das."
Auch, wenn den Betrachtungen eine Anekdotenstraffung ganz gutgetan hätte - Werner Gille gelingt als Augenzeuge in seinem Buch "Im Windschatten des roten Sturms" eine schwierige Gratwanderung zwischen aufgewärmter antikommunistischer Empörung und kulturrelativistischer China-Versteherei.
Politisch-historische Einordnung
Wie dieses immer noch ungläubig bestaunte Jahrhundertereignis nach fünf Jahrzehnten politisch-historisch einzuordnen ist, dazu hat der Freiburger Sinologe Daniel Leese eine prägnante Analyse vorgelegt. Darin hält er eine rein machtpolitische Begründung für zu kurz gegriffen, denn Mao hatte schon zu Beginn der Kulturrevolution seine Widersacher entmachtet. Aber auch die ideologischen Begründungen stiften bis heute Verwirrung über seine Motive.
"Was die ideologischen Ursachen angeht, herrscht bis heute sicherlich der meiste Dissens, was Mao Zedong eigentlich bezwecken wollte. Mao Zedong ist selber sehr unklar gewesen mit den ideologischen Zielen der Kulturrevolution. Einerseits betonte er, dass Revisionismus existiert in China. Er hat aber nicht genau gesagt, woher er kommt. Also ist er einerseits eine Folge alten Denkens, entstehen "neue bourgeoise Elemente", wie er das genannt hat, aus der Partei selber. Und beide Deutungen legt er zumindest an in seinen Schriften, führt aber keine davon wirklich aus. Und aus diesem Zwiespalt kommt ein Großteil der Dynamik in der Bewegung."
Bei Maos Treiben habe es sich nicht nur um das perfide Machterhaltungsmanöver eines totalitären Diktators gehandelt. Eine tiefe Unzufriedenheit habe im Volk wegen der Entstehung einer strikten Sozialhierarchie mit einem hochgradig ausdifferenzierten Status- und Gehaltsgefüge geherrscht, das mit den alten egalitären Idealen nichts mehr zu tun hatte. Ebenso macht Leeses Untersuchung Schluss mit der Legende der Kulturrevolution, wonach zahlenmäßig die meisten Grausamkeiten auf die Mao-Kappe der medial bestaunten Rotgardisten gegangen seien:
"Wie die neuere Forschung nachgewiesen hat, sind die mit Abstand größten Opferzahlen erst in der Spät-Phase nach 1969 bis 1971 geschehen, sodass also im Wesentlichen staatliche Akteure für die Hauptopferanzahl der Kulturrevolution verantwortlich sind, und nicht nur die Rotgardisten."
Es ist Kennzeichen der Kulturrevolution, dass Ziele jenseits der Bekämpfung eines abstrakten Revisionismus oder alter Kulturen nie definiert wurden. Man klammerte sich an kleine, vielfältig auslegbare Parolen Mao Zedongs.
"Mao Zedong hat sich immer ein Moment der Ambiguität, letztendlich auch der Steuerung bewahrt, um hier entsprechend eingreifen zu können. Hier sieht man auch deutlich, dass die Kulturrevolution als solches kaum haltbar ist als Konstrukt."
Am Ende ist die Volksrepublik China auf andere Weise transformiert worden, als dies Mao vor 50 Jahren vorzuschweben schien. Daniel Leese gelingt mit seiner differenzierten Studie eine erste tiefergehende gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufarbeitung dieses zehnjährigen Spektakels. Natürlich weiß auch er, dass die traumatischen Nachwirkungen noch zu stark sind, als dass eine Historisierung schon möglich wäre. Noch lautet der offizielle Katastrophenbefund der Partei: Stabilität sei als Lehre aus der Kulturrevolution nötig - mit drohendem Blick auf die wachsende Opposition im Lande, versteht sich.
Werner Gille: "Im Windschatten des roten Sturms. Die chinesische Kulturrevolution – ein Augenzeugenbericht"
Mit farbigen Bildteil. Verlag Herbig, 256 Seiten
Mit farbigen Bildteil. Verlag Herbig, 256 Seiten
Daniel Leese: "Die Chinesische Kulturrevolution. 1966-1976"
Verlag C.H. Beck Wissen, 128 Seiten
Verlag C.H. Beck Wissen, 128 Seiten