Eigentlich erzählt Roman- und Drehbuchautorin Cho Nam-Joo die Lebensgeschichte einer vollkommen durchschnittlichen Südkoreanerin. Kim Jiyoung ist 1982 in Seoul geboren. Mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder wuchs sie auf. Doch ist ihre Biografie seit frühester Kindheit von sexistischer Diskriminierung geprägt. Wie selbstverständlich bekommen ihr Vater und Bruder das größte Stück Fleisch, in der Mittelschule gelten für Mädchen strengere Kleiderordnungen als für Jungen. Kim Jiyoung wird von Lehrern und Arbeitgebern sexuell belästigt, von Kollegen heimlich auf der Toilette gefilmt. Sie wird bei Bewerbungen und Beförderungen benachteiligt, muss schließlich mit der Geburt einer eigenen Tochter ihren Job kündigen und entwickelt im Alter von 33 Jahren eine Psychose.
Probleme blieben, aber vieles verändert sich
Die Koreanistin Nadeschda Bachem hält diese fiktive Lebengeschichte von Kim Jiyoung durchaus für repräsentativ: "Es ist tatsächlich so, dass viele Probleme, die im Roman beschrieben werden, zum Beispiel die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen, akut bestehen. Ein andere Problem, das aufgegriffen wird sind die sognannten Spycams - kleine Kameras, die auf Damentoiletten versteck werden und deren Bilder dann auf Porno-Seiten landen. Das ist ein riesiges Problem im Korea."
Anderen Missständen, die Cho Nam-Joo in ihrem Buch benennt und an einigen Stellen durch Fußnoten mit Artikeln und Statistiken untermauert, haben sich seit Erscheinen des koreanischen Originals im Oktober 2016 bereits verändert, erklärt die Juniorprofessorin am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn. So wurden in den 1980er Jahren vermehrt weibliche Föten abgetrieben. Bis zum Jahr 1999 stieg der männliche Anteil bei Neugeborenen auf unnatürliche 116,5%. "Schließlich gab es ein Gesetzt, das Ärzten verboten hat, werdenden Eltern zu erzählen, was für ein Geschlecht ihr Baby haben wird", erklärt Bachem, "damit die Mädchen nicht alle abgetrieben werden." Mittlerweile allerdings ist das nicht mehr so. "Wenn man sich Befragungen anschaut, wollen fast alle Koreanerinnen und Koreaner unter 50 Jahren lieber Mädchen. Deshalb konnte das entsprechende Gesetzt gelockert werden."
Nicht nur positive Reaktionen in Korea
In Korea und vielen anderen ostasiatischen Ländern, war Cho Nam-Joos Roman ein Verkaufserfolg. "'Kim Jiyoung' war ein riesen Bestseller. Seit 2009 ist es der erste koreanische Roman, von dem sich mehr als eine Million Exempalre verkauft haben", weiß Nadeschda Bachem. Allerdings waren die Reaktionen auf ein öffentliches Bekenntnis zur Lektüre nicht immer wohlwollend. "In Korea hatten wir auf der einen Seite sehr berühmte Leute aus der Populärkultur, die sich positiv geäußert haben, etwa Rapper RM von der K-Pop-Band BTS. Der damalige Fraktionsführer der Justice Party hat 2017 den Roman dem Präsidenten Moon Jae-in geschenkt." Die Sängerin Irene wiederum der Girlband Black Velvet wurde für die Lektüre des Romans angefeindet.
Für die Literaturwissenschaftlerin Nadeschda Bachem wirft "Kim Jiyoung, geboren 1982" auch ästhetische Fragen auf. Distanziert und emotionslos lese sich der Bericht über das leidreiche Leben der Hauptfigur. Auch die für einen Roman ungewöhnlichen Fußnoten würfen Frage auf: Was ist überhaupt Literatur? Wie unterscheidet sich Belletristik von Sachtexten? "Tatsächlich ist es so, dass der Roman vor allem in Bezug auf seine politische Sprengkraft rezipiert wurde. Es geht sehr selten darum, ob es ein guter Roman ist. Vom literarischen Handwerkszeug her gibt es wahrscheinlich elaborirtere und ausgereifte Romane. Aber als Literaturwissenschaftlich weiß ich doch die soziale Komponente zu schätzen."
Cho Nam-Joo: "Kim Jiyoung, geboren 1982"
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 208 Seiten, 18 Euro
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 208 Seiten, 18 Euro