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Chopin Evocations
Erfühlt und erfüllt

Die neue Veröffentlichung des jungen Pianisten Daniil Trifonov ist eine Hommage an Frédéric Chopin. Er hat damals den Ausdruckshorizont des Klaviers maßgeblich erweitert. Im Zentrum der Doppel-CD steht eine neue Version der zwei Klavierkonzerte von Chopin.

Am Mikrofon: Christoph Vratz |
    Der Pianist Daniil Trifonov
    Der Pianist Daniil Trifonov, neuerdings mit Bart (Deutsche Grammophon)
    "Bei Chopin vergesse ich ganz die Meisterschaft des Klavierspiels und versinke in die süßen Abgründe seiner Musik, in die schmerzliche Lieblichkeit seiner ebenso tiefen wie zarten Schöpfungen." Gut möglich, dass der russische Pianist Daniil Trifonov diese Aussage Heinrich Heines aus dessen "Lutezia" über Frédéric Chopin kennt.
    Wenn der Solist in Chopins zweitem Klavierkonzert nach rund drei Minuten erstmals einsetzt, klingt das bei Trifonov nach einer Umsetzung im Heineschen Sinne: lieblich und melancholisch, zart und abgründig.
    Musik 1: Chopin, Klavierkonzert Nr. 2 op. 21
    Eine hauchfeine Zeichnung der Melodielinien, ein natürliches Ausklingen von Phrasen, versonnene Triller, behutsam dosierter Pedalgebrauch – so wagt sich Daniil Trifonov in dieses f-Moll-Konzert, das zwar bis heute als Nr. 2 geführt wird, aber von Chopin noch vor dem Schwesterwerk in e-Moll konzipiert wurde.
    Diese beiden Konzerte hat Trifonov nun - neben anderen Stücken, auf die ich gegen Ende eingehen möchte – mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Mikhail Pletnev aufgenommen. Dass es sich hierbei um eine Welt-Premiere handelt, liegt nicht an der erstmals dokumentierten Zusammenarbeit beider Protagonisten, sondern an der Notenfassung.
    Prägnante, farbige und kammermusikalische Instrumentierung
    Chopins Instrumentierung war von jeher ein Punkt, an dem sich Anhänger wie Kritiker entzündet haben: Die einen werten Chopins Orchesterpart als unzureichend und laienhaft, die Befürworter dagegen glauben, Chopin habe sehr genau gewusst, was er wie erreichen wolle.
    Hartnäckig hält sie die These eines polnischen Musikwissenschaftlers, wonach beide Konzerte gar nicht von Chopin selbst, sondern von einem seiner Kommilitonen instrumentiert worden seien. Fest aber steht nur, dass es keine Autographe gibt. Das Original zum ersten Klavierkonzert gilt als verschollen, das zum zweiten Konzert ist lediglich ein Halbautograph: die Klavierstimme liegt in der Handschrift Chopins vor, die des Orchesters stammt von dem besagten Kommilitonen. Nun präsentiert Mikhail Pletnev auf dieser Doppel-CD eine eigene Bearbeitung von Chopins Orchesterpart. Hier der Beginn des Kopfsatzes aus dem zweiten Konzert:
    Musik 2: Chopin, Klavierkonzert Nr. 2 op. 21
    Pletnev hat bei seiner Neu-Orchestrierung den Streicherapparat ausgedünnt: An einigen Stellen ist nicht das komplette Streichquintett aktiv, mal fehlen die ersten Geigen, mal der Kontrabass usw. Gleichzeitig hat er die Holzbläser-Fraktion gestärkt. Das Ergebnis: Das Orchester klingt insgesamt weniger sämig, dafür prägnanter, farbiger und kammermusikalischer.
    Chopin hat diesen Satz schlicht mit "Maestoso" überschrieben, Pletnev und das Mahler Chamber Orchestra wählen ein auffallend moderates Tempo. Das gilt übrigens auch für die Aufnahme des ersten Klavierkonzerts. Neben Krystian Zimermans Einspielung dieser Werke (seiner zweiten aus dem Jahr 1999) ist mir keine Produktion mit insgesamt so langsamen Zeitmaßen bekannt. Doch Pletnev und Trifonov halten nicht sklavisch an ihrem jeweiligen Grundtempo fest. Ganz im Sinne der Romantiker variieren sie. Besonders in den dramatisch zugespitzten Passagen kommt es zu Beschleunigungen.
    Musik 3: Chopin, Klavierkonzert Nr. 2 op. 21
    Gerade der Umgang mit Rubato ist bei Chopin ein besonders heikles Thema: Zu starke Dehnungen könnten die Statik der Musik gefährden, könnten gar einen pädagogischen Zeigefinger mitschwingen lassen, nach dem Motto: ‚Achtung, Hörer, jetzt pass auf!‘. In dieser Hinsicht birgt die Neuaufnahme der Chopin-Konzerte sicher Konfliktpotenzial. Pletnev und Trifonov setzen diese Variabilität allerdings nicht als Showeffekte ein. Vielmehr deuten sie diese Musik wie groß angelegte Fantasien oder Improvisationen. Gerade der Mittelsatz des e-Moll-Konzerts wirkt anfangs, mit den sehr leise und gleichzeitig warm tönenden Streichern, wie eine Nocturne für Orchester, bevor schließlich das Klavier einsetzt, versonnen und zart leuchtend:
    Musik 4: Chopin, Klavierkonzert Nr. 1 op. 11
    Passagen wie diese zeigen, warum Trifonov zu den Ausnahmemusikern des frühen 21. Jahrhunderts zählt: Es gibt derzeit kaum einen Pianisten, der ihm in Sachen Klanggestaltung, Farbigkeit und Pianissimo-Kultur das Wasser reichen könnte. Sicherlich kann und darf man über einige der von ihm beschrittenen Interpretations-Pfade durchaus streiten; doch beruhen seine Erkenntnisse stets auf einem genauen Hineinhorchen in die jeweilige Musik. Auch wenn beispielsweise manche Tempo-Rückung als arg romantisch erscheinen mag: Trifonovs Spiel bleibt frei von Manierismen oder Allüren. Gleichzeitig versagt er sich jede akademische Trockenheit.
    Dieses Klavierspiel ist erfühlt und erfüllt
    Wie Daniil Trifonov in diesem langsamen Satz die Töne kondensstreifenartig in die Tasten setzt, wie er sie aufscheinen und verklingen lässt – leuchtend und sphärisch, geheimnisvoll und poetisch – das ist zutiefst berührend, ja: überwältigend. Das macht ihm so schnell niemand nach:
    Musik 5: Chopin, Klavierkonzert Nr. 1 op. 11
    Dieses Doppel-Album ist mit "Chopin Evocations" überschrieben. Neben den beiden Konzerten hat Trifonov auch Chopins Variationen über Mozarts "Lá ci darem la mano" aus "Don Giovanni" sowie das Rondo für zwei Klaviere festgehalten – an der Seite seines Lehrers Sergei Babayan.
    Musik 6: Chopin, Rondo für zwei Klaviere op. posth. 73
    Bis auf das abschließende Fantaisie-Impromptu op. 66 stammen alle hier eingespielten Chopin-Werke aus dessen Warschauer Zeit, also aus den Jahren seiner Anfänge.
    Dass Daniil Trifonov kein x-beliebiges Konzeptalbum zusammengestellt hat, zeigt ein Blick auf das übrige Programm. Der Pianist erklärt im Beiheft, wie sehr Chopin die Klaviermusik seiner Zeitgenossen und darüber hinaus beeinflusst, ja "revolutioniert" habe. Um diese Entwicklung zumindest ansatzweise nachzuzeichnen, hat Trifonov mehrere kleinere Stücke ausgewählt, darunter einen Satz aus Schumanns "Carnaval", Griegs "Hommage à Chopin" und Tschaikowskys "Un poco di Chopin". Mehr als nur Zugabe hingegen sind Frederic Mompous Variationen über das "Andantino" aus Chopins "Préludes". Hier zunächst die Variationen 2 und 3.
    Musik 7: Mompou, Var. 2 und 3
    Im Jahr 1957 hat Mompou diese Variationen komponiert. Sie stecken voller Anspielungen auf verschiedene Werke Chopins und überführen dessen Klangsprache behutsam ins 20. Jahrhundert. An einigen schimmert auch Maurice Ravel durch.
    Musik 8: Mompou, Var. 6
    Jede Variation erscheint wie ein eigenes Miniatur-Bild. Trifonov macht daraus keine Gemälde in Öl, sondern Aquarelle, die er mit der Virtuosität der leisen Töne umsetzt. Er entwirft sie mit größter Leichtigkeit, ohne dass es ihnen dadurch an Tiefgang mangeln würde. Sein stupender Anschlag, die Fähigkeit, Töne nicht nur aus dem Finger oder aus dem Arm, sondern mit dem ganzen Körper zu erzeugen, ermöglichen ihm eine außergewöhnliche Reichhaltigkeit an Farben und Ausdrucksformen.
    Musik 9: Mompou, Var. 8
    Chopin Evocations
    Daniil Trifonov, Mahler Chamber Orchestra, Mikhail Pletnev, Sergei Babayan
    Deutsche Grammophon 2 CDs 028947975182