"Der Mensch steht im Mittelpunkt meiner Kunst" erklärt Choreograf und Intendant des Hamburg Ballett John Neumeier im Interview. Am 11. März wird er in Stuttgart mit dem Erich-Fromm-Preis ausgezeichnet. Der Preis würdigt Neumeiers soziales und gesellschaftliches Engagement, mit der, so die Jury, wie kein andere die "Kunst zum Botschafter des Humanen gemacht" habe.
Menschlichkeit bedeutet für John Neumeier vor allem, die Werte des Mitmenschen ernst zu nehmen, ihn wahrzunehmen und niemanden zu verletzen:
"Ich versuche wirklich, rechts und links zu schauen und zu ermessen, was ich machen kann, denn desto mehr Kraft man hat, desto mehr kann man erreichen. Ich versuche, mir bewusst zu werden über das Leiden und das Elend in der Welt und mich zu fragen, wo stehe ich in dieser Beziehung?"
"Im Zirkus kann man mit Tricks überzeugen - nicht im Ballett."
Über seine künstlerische Arbeit sagt Neumeier:
"In jeder Figur, die ich porträtiert habe, habe ich ein Teil von mir gesehen. Ich muss die Vielseitigkeit eines Menschen begreifen. Ich versuche, Emotion – meine Emotion, die Emotion der Tänzer - zu übersetzen. Ich mache keinen Plan dafür. Ich bin davon überzeugt, dass es die Ehrlichkeit einer Choreografie ist, die die Menschen überzeugt, nicht der Affekt. In Zirkus kann man mit Tricks überzeugen, nicht im Ballett. Wenn man ehrlich inszeniert, sieht der Zuschauer auch einen Teil von sich auf der Bühne. Ich mache, was mein Herz bewegt."
"Ich schaue auf Amerika mit großer Traurigkeit"
Neumeier, der die deutsche und amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, äußerte sich auch zu den Entwicklungen in den USA:
"Ich kann es nicht glauben. Ich schaue auf Amerika mit großer Traurigkeit. Im Moment ist alles völlig durcheinander, weil wir einen Präsidenten haben, der nicht weiß, wie man Präsident sein soll, der mit ganz starkem Egoismus regiert und der Entscheidungen trifft, die in der Theorie vielleicht richtig sind, aber in der Realität völlig daneben und unmoralisch sind in gewissen Sinne, das heißt, ohne Blick auf die Wirklichkeit. Man hofft einfach, dass nichts Höchstgefährliches passiert in den nächsten vier Jahren und dass es dann zu einer Änderung kommt."
"Da werden Menschen wirklich von der Kunst angefasst"
Vor vier Jahren gründete Neumeier das Bundesjugendballett, dessen Tänzerinnen und Tänzer auch an ungewöhnlichen Orten auftreten, im Gefängnis, im Hospiz oder an Kindergärten. "Das Wesentliche am Tänzerberuf ist ehrlich zu sein und zu kommunizieren. Nicht das eitle In-den-Spiegel-schauen zählt, sondern: Wie kann ich das, was ich kann, die Freude an der Bewegung, jemandem geben, der das – zum Beispiel in einem Gefängnis, in einem Altersheim – nicht erleben wird? Wenn die jungen Tänzer mit Behinderten arbeiten, dann geht es nicht darum, eine schöne Schein-Welt zu vermitteln, sondern da werden Menschen wirklich von der Kunst angefasst."
Neumeier spricht auch über den eigenen Glauben - "Für mich bedeutet Religion vor allem Toleranz. Wenn Religion das Wort Kampf überhaupt benutzt, stimmt etwas nicht" oder sein Engagement für die gemeinnützige Organisation "Hamburg Leuchtfeuer", eine Einrichtung, die sich früh um die psychosoziale Betreuung von Aidskranken gekümmert hat und auch ein Hospiz für schwerkranke oder sterbende Menschen betreibt.
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