Maja Ellmenreich: Mit Schriftstellerinnen und Soziologen, mit Filmregisseuren, Musikerinnen und Theatermachern haben wir in den vergangenen Wochen darüber gesprochen, was jede und jeder einzelne von ihnen mit dem Wort "Heimat" verbindet. Die Antworten? Verständlicherweise so unterschiedlich wie jeder unserer Gesprächspartner selbst.
Unser Gast heute – Martin Schläpfer, seit sieben Jahren künstlerischer Direktor und Chefchoreograf des "Ballett am Rhein" in Düsseldorf und Duisburg. Die internationale Kritikerriege des Fachmagazins "tanz" zeichnete das Ballett am Rhein wiederholt mit dem Titel "Kompanie des Jahres" aus; und auch jenseits dieser Expertenerhebung schwärmen die Kritiker und das Publikum in Superlativen von Martin Schläpfer und seinem "Ballett am Rhein".
Als wir den Schweizer Choreografen, der zuvor in Mainz und davor in Bern mit seinen Kompanien große Erfolge feierte, als wir also Martin Schläpfer zum Heimat-Gespräch eingeladen haben – da haben wir mit einem Interview über eine Bilderbuch-Heimat gerechnet. "Aus einer Appenzeller Bauernfamilie stammend" heißt es nämlich über ihn in vielen Porträts.
Meine Frage an Martin Schläpfer: Ihnen haftet vielleicht kein Heimat- aber zumindest ein Herkunftsmythos an, oder? Denn ein "Appenzeller Bauernbub" waren Sie gar nicht…
Martin Schläpfer: Nicht wirklich, nein. Mein Großvater war noch Bauer und natürlich: Der Urkern der Familie ist schon dieses Bauernhaus in Rehetobel im Appenzeller Ausserrhoden, weil wir da dann hingingen, geholfen haben zu heuen. Der Großvater war früh Witwer. Später hat es dann mein Bruder gekauft und hat dort gewohnt und inzwischen ist er auch ausgezogen, weil es ihm zu einsam war, und jetzt hat es mein anderer Bruder gekauft. Ich hatte leider das Geld dazu nicht. Insofern ist das so ein Urkern für die Familie. Ob es die Heimat ist, müsste man genauer analysieren.
Ellmenreich: Aber andere haben Ihnen das zugeschrieben, weil es einfach so schön klingt und sich so gut macht?
Schläpfer: Genau und irgendwann etabliert sich etwas und man kann es dann halt nicht mehr wegradieren. Es ist ein My was dran, aber aufgewachsen bin ich in Sankt Gallen und mein Vater war Stahlhändler und meine Mutter Hausfrau.
Ellmenreich: Stahlhändler.
"Heimat hat etwas mit Ruhe zu tun, mit in sich selber sein"
Schläpfer: Ja.
Ellmenreich: Kommen wir wirklich mal zur Frage: Was ist denn die Heimat? Ist das die Stahlhandlung des Vaters? Ist es eher die Umgebung der Großeltern? Ist es die Schweiz an sich, Düsseldorf, Duisburg? Ist es der Tanzsaal, der Ballettsaal? Ist es das Rampenlicht? Wo springt bei Ihnen dieses Gefühl von Heimat an?
Schläpfer: Gute Frage. - Ich glaube, es ist ein Unterschied, ob man sagt, Heimat oder man hat ein Zuhause oder man fühlt sich irgendwo zuhause. Ich fühle mich in Düsseldorf inzwischen mehr oder weniger zuhause, vor allem in meiner direkten Umgebung, meinem Haus und meinem Garten. Die Heimat ist auch nicht die gesamte Schweiz. Es ist etwas, glaube ich, dass man auch nicht im Intellektuellen unbedingt punktieren kann, sondern ist etwas vielleicht, wo man weiß, da kenne ich mich aus, aber emotional im Bauch, ich kenne das Wetter und es passt zu mir, es hat mich auch irgendwie gemacht. Ich glaube auch, dass man geprägt wird durch Wetter, durch Gerüche, durch eine Bratwurst, die Sankt Galler Bratwurst. Aber inzwischen bin ich ja von dieser Heimat weg und wenn ich zurückgehe, ist es zwar ein Anklingen, aber ich bin dort nicht mehr heimisch. Und ich glaube, es ist auch wahnsinnig schwierig, eine Heimat zu haben in einer globalen Welt, und damit möchte ich nicht auf ein Klischee. Heimat hat ja auch was mit Ruhe zu tun, mit in sich selber sein, mit einer Zufriedenheit. Es gibt ja so Leute, die irgendwie mit 60, 70 dann zurückkehren in ihre Heimat und zufrieden sind. Das bedingt aber eigentlich eine Aufhören, nach vorne zu drängen und in Neues.
Ellmenreich: Klingt jetzt so, als könnten Sie sich das nicht vorstellen.
Schläpfer: Doch, ich sehne mich natürlich danach. Aber es ist furchtbar schwierig. Wissen Sie, Leute, die nicht so informiert sind, können auch in einer Heimat verbleiben und sind auch dort zufrieden. Aber wir, die informiert sind über alles und jenes und überall meinen mitzudenken und mitzuforschen und mitzuarbeiten und mit Empathie zu zeigen für die Schicksale, können gar nicht diese Ruhe haben, noch ein Heimatgefühl zu haben.
Ellmenreich: Oder ist es auch so ein Hunger nach Information und ein Hunger nach etwas Neues erfahren zu können? Kann ich mich deswegen nicht zufrieden geben mit so einem Heimatgefühl, weil ich immer noch weiß, da ist vielleicht was hinter der nächsten Ecke?
"Zuhause sein kann man in vielen Orten"
Schläpfer: Sie haben recht und das ist natürlich immer auch von Person zu Person verschieden. Ich glaube, das Wesen eines Künstlers ist unter anderem natürlich Rebellion und ist eine Unruhe. Trotzdem gibt es das. Wissen Sie, was mir am meisten Heimatgefühle gibt in der Ostschweiz? Das ist das Wetter, ist der Geruch, ist diese Stimmigkeit zwischen Urbanität und Natur, wo Du spürst, da kann man ein Wetter noch nicht planen, weil es einfach noch eine Macht hat. Aber ich glaube, zuhause sein kann man in vielen Orten.
Ellmenreich: Und das waren Sie, wenn ich mal aufzählen darf: London, Basel, Kanada, Bern, Mainz, Düsseldorf. Wenn wir jetzt über Zuhause sprechen und uns diese Stationen Ihrer Karriere anschauen, lernt man im Laufe der Zeit, sich jeweils ein neues Zuhause zu schaffen? Sind Sie geübt darin? Sie haben gerade von einem Haus und einem Garten gesprochen. Wissen Sie mittlerweile was Sie brauchen, um sich zuhause zu fühlen?
Schläpfer: Als ich jünger war, war das einfacher. Heute muss ich viel investieren und ich brauche einen Garten und muss meine Wände anmalen und brauche Tiere und mit 55 disloziert man nicht mehr so einfach und man ist natürlich vielleicht auch ein bisschen eigen. Schweizer sind ja sehr skurril und eigen und verrückt, vor allem im Appenzeller Ausserrhoden mit all diesen Pfuschern und Naturheilärzten und Ärztinnen. Es ist ja voller Künstler, die doch keine sind, und alle haben irgendwie einen Bereich, wo sie was kreieren.
Ellmenreich: Nun ist es ja das eine, sich selbst ein Zuhause zu schaffen, und das andere ist es, auch jemand anderem eines zu geben. Ich habe vorhin schon gesagt: Vor sieben Jahren haben Sie in Düsseldorf-Duisburg an der Deutschen Oper am Rhein Ihr derzeitiges Amt angetreten. Könnte man sagen, dass es in dieser Funktion als künstlerischer Direktor und Chefchoreograf des Balletts am Rhein auch Ihre Aufgabe ist, anderen, nämlich der Kompanie so etwas wie eine künstlerische Heimat oder ein künstlerisches Zuhause zu gestalten und zu bieten?
"Ich möchte wieder mehr Künstler sein"
Schläpfer: Auf jeden Fall ist es in mir angelegt, ihnen einfach die Passion, die Freude, die Wichtigkeit der Kunst an und für sich in der heutigen Zeit irgendwie einzuspritzen. Natürlich ist eine Kompanie, wenn man jung ist, auch ein Zuhause. Das ist eine wunderbare Sache, als Tänzer Teil einer tollen Kompanie zu sein. Da ist man auch ein Stück weit eingebettet.
Ellmenreich: In den vergangenen Jahren sind Sie ja für einzelne Programme als Tänzer zurückgekehrt auf die Bühne. Hat man, jetzt will ich gar nicht sagen, wenn man die Metamorphose vom Tänzer zum Choreografen durchlaufen hat, weil ich glaube, das ist nur aus der Außenperspektive so wahrzunehmen, aber wenn man hauptsächlich als Choreograf arbeitet, kennen Sie so ein Gefühl wie Heimweh nach der Bühne, auch wirklich selbst im Rampenlicht wieder zu stehen?
Schläpfer: Yes! Aber ich glaube, nicht die Bühne ist es unbedingt, wobei die Bühne für mich als Raum in seiner Abstraktion heilig sein kann. Das Publikum ist da draußen, symbolisiert natürlich ein draußen, aber es geht mir nicht ums Rampenlicht. I’m just simply durch und durch ein Tänzer. Das ist natürlich dort, where I’m completely home as a Dancer, und sicherlich auch als Choreograf. Aber als Choreograf musst Du immer alles teilen und mitteilen und du musst immer eine Mitte finden im Budget, in der Zeit, in den Ideen, die die anderen verwirklichen müssen, in den Limitationen ihrer Körper und Seelen, und da ich nur bedingt gern teile, mich mitteile oder das sehr gerne aussuche, ist Tänzer sein wie ein Labsal gewesen für mich. Ich habe mich leider verletzt körperlich, aber es hat mir gezeigt, dass ich ein sehr radikaler Typ bin und dass ich eigentlich von der Leitungsfunktion eine Weile zurückgehen möchte und wieder mehr Künstler sein.
Ellmenreich: Ist es pathetisch, wenn ich Sie frage, ob sich ein Tänzer eigentlich auch immer im eigenen Körper irgendwie zuhause fühlen muss, um gut zu sein, um gut tanzen zu können?
Schläpfer: Das ist überhaupt nicht pathetisch. Das ist einfach richtig.
Ellmenreich: In der Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich in einem Artikel der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" einen Satz gelesen, den ich jetzt mal gerade vorlese: "Keine andere deutsche Kompanie pflegt so intensiv das Werk der bedeutendsten Choreografen des 20. Jahrhunderts wie die von Martin Schläpfer." Und da habe ich mich gefragt, ob Sie das gelten lassen. Ist das Ballett am Rhein wirklich eine deutsche Kompanie?
"Deutschland hat mich verändert"
Schläpfer: Gut, sie ist halt in Deutschland beheimatet und wird hier finanziert. So in diesem Sinne ja. Aber in einem anderen Sinne ist das natürlich gar nicht nationalistisch und ich fühle mich jetzt auch gar nicht deutsch. Ich weiß ja gar nicht, was das beinhaltet. Es sind 21 Tänzerinnen, 21 Nationalitäten, die im Ballett am Rhein vertreten sind, mal mehr, mal weniger. Sonst ist Kunst nicht national. Aber natürlich hat sich meine Arbeit und mein Wesen und so wie ich bin verändert, seit ich in Deutschland bin, und hat das mit Deutschland zu tun und auch sehr im Positiven.
Ellmenreich: Welche Eigenschaften sind das? Wo ist das Deutsche in Martin Schläpfer heute zu finden?
Schläpfer: …, dass ich überhaupt mal den Mund auftue und Ja sage zu diesem Interview. Ich bewundere das Land ein Stück weit und sehe aber auch mit großer Sorge, wo es hingeht. Es hat mich unglaublich viel gelehrt. Ich habe das Gefühl, hier hat Theater vielleicht noch mehr Wurzeln, mehr Wege, nennen Sie es Heimat, mehr Justification, als das in der Schweiz ist, wo es primär so ist: Man geht ins Theater, weil man ins Theater geht. Das ist nicht gewachsen. Und das ist schön dann, das Streitige, das Brüchige, das Widersprüchliche in Deutschland. Das Schauspiel hat das Wort, die Macht des Tanzes ist eher eine Förderung der Sinne und des Übersinnlichen, des Emotionalen, des Rhythmus. Darum sage ich, Heimat ist, glaube ich, auch gar nicht so stark eine geistige intellektuelle Analyse, sondern it’s more a psychisches subconscious feeling. 90 Prozent der Intelligenz ist im Bauch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.