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Chormusik aus Finnland
Sinnliches Mittelalter

Von der mittelalterlichen Musik aus der Region des heutigen Finnlands ist nur sehr wenig erhalten. Die wichtigste Quelle ist die Liedersammlung „Piae Cantiones“. Der „Utopia“-Kammerchor aus Helsinki hat bringt die Melodien abwechslungsreich und auf spielerische Weise wieder zum Klingen.

Am Mikrofon: Rainer Baumgärtner |
    Der "Utopia"-Kammerchor steht festlich gekleidet in einem Park.
    Der 2001 gegründete "Utopia"-Kammerchor ist eines der führenden Vokalensembles Finnlands (Johannes Wilenius)
    Der Engländer Andrew Lawrence-King ist einer der führenden Experten für das Spiel auf historischen Harfen. Das zeigt er immer wieder als Solist und als Begleiter in der Musik vom Mittelalter bis in den Barock. Ganz besonders ist er in seinem Element, wenn er als Leiter eines Ensembles einstimmige Werke des Mittelalters fantasievoll realisieren kann. So wie auf der neuen CD zusammen mit dem "Kamarikuoro Utopia", dem "Utopia"-Kammerchor, die beim Label AliaVox erschienen ist. Die "Piae Cantiones", aus denen sie Ausschnitte aufgenommen haben, sind die älteste gedruckte Sammlung mit Musik, die aus Finnland überliefert ist.
    Musik: Anonymus (Piae Cantiones No.32), Iucundare iugiter à 3
    Das gläubige Volk soll feiern und den Verdiensten Jesu Christi ein süßes Lied widmen – so fordert es dieser Gesang aus den "Piae Cantiones". Die "Piae Cantiones", das sind 74 meist einstimmige lateinische Lieder, die ein finnischer Student an der Rostocker Universität im Jahr 1582 veröffentlicht hat. Es ist eine faszinierende, aber auch etwas rätselhafte Sammlung. Jedenfalls mutet so der weitere Titel an: "Piae Cantiones ecclestiasticae et scholasticae veterum episcoporum—Fromme Kirchen- und Schullieder der alten Bischöfe".
    Musikalischer Blick in uralte Zeiten
    Zusammengestellt hat die Kompilation wohl Jaakko Finno, Rektor der Kathedralschule von Turku, damals das politische und geistige Zentrum Finnlands. Sein Ziel scheint eindeutig: Er wollte alte Gesänge, die in Turku in Gebrauch gewesen waren und zum Teil nur mündlich überliefert wurden, vor dem Verschwinden bewahren. Dies lässt sich daraus schließen, dass sich keine modernen Kompositionen des 16.Jahrhunderts in der Sammlung finden. Ganz im Gegenteil: teilweise reichen die Ursprünge der Lieder bis an die erste Jahrtausendwende nach Christus zurück. Es ist ein wenig, als würde der Schleier des Vergessens heruntergerissen werden und musikalisch einen Blick in uralte Zeiten erlauben, als der Glauben das Leben der Menschen beherrschte und Kloster- und Kathedralschulen die wichtigsten Bildungsträger waren.
    Manche der Stücke haben den nüchternen Charakter von Gesängen des Gregorianischen Chorals. So auch das erste Lied der Sammlung, "Angelus emittitur—Der Engel wurde herabgesandt". Andrew Lawrence-King hat hier in der neuen Aufnahme die Strenge des einstimmigen Chorals dadurch konterkariert, dass er mit einer Drehleier einen Halteton spielen und Mitglieder des "Utopia Kammerchors" teilweise eine zweite und dritte Stimme hinzu improvisieren ließ. Herbe altertümliche Harmonien, gekoppelt mit eingängigen Melodien, geben dieser CD einen ganz besonderen Klang.
    Musik: Anonymus (Piae Cantiones No.1), Angelus emittitur
    Die "Piae Cantiones" sind eine sehr heterogene Sammlung geistlicher Lieder. Etwa die Hälfte der Stücke soll aus Finnland stammen, der Rest aus ganz unterschiedlichen Teilen Europas. Viele scheinen im 14. Jahrhundert im deutsch-böhmischen Raum entstanden zu sein.
    Inhaltlich sind die Gesänge im Erstdruck in elf Gruppen unterteilt. Viele besingen Teile des Kirchenjahres oder der christlichen Lehre. Aber es gibt auch Gesänge über "die Vergänglichkeit und das Elend des menschlichen Zustands" und über "das Leben der Schüler". Mit etwa einem Drittel des Ganzen bilden Weihnachtslieder den Schwerpunkt der Sammlung. Für unsere Ohren sind die meisten davon ohne weitere Informationen allerdings gar nicht als solche erkennbar.
    Auf der neuen CD des "Utopia"-Kammerchors stellen die weihnachtlichen Stücke sogar die Mehrheit. Dies könnte daran liegen, dass der Ensembleleiter Andrew Lawrence-King mit der englischen Tradition der "Piae Cantiones" aufgewachsen ist. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in London Gesänge der Sammlung für Weihnachten und Ostern in englischer Übersetzung herausgebracht, und so sind sie im angelsächsischen Raum bis heute populär geblieben.
    Manchmal sind Lieder dabei auch umgewidmet worden. Ein amüsantes Beispiel dafür: Die Melodie des beliebten Christmas Songs vom "guten König Wenzeslaus" stammt von einem Frühlingslied aus den "Piae Cantiones": "Tempus adest floridum—Die Zeit der Blumen ist gekommen".
    Musik: Anonymus (Piae Cantiones No.74), Tempus adest floridum
    Der "Utopia"-Kammerchor ist im Jahr 2001 vom Sänger und Chordirigenten Mikael Maasalo gegründet worden. Er war das erste finnische Vokalensemble, das sich auf die Alte Musik spezialisiert hat. Und der Chor ist bis heute so ausgerichtet, allerdings führt er hin und wieder auch zeitgenössische Werke auf.
    Der "Kamarikuoro Utopia" besteht derzeit aus 18 Mitgliedern, neben ein paar Profimusikern sind es zumeist erfahrene Amateursänger. Sein Klang passt bestens zum Repertoire der "Piae Cantiones". Denn die mittelalterlichen "frommen Gesänge" aus Turku waren nicht für hochgezüchtete und perfekte Stimmen vorgesehen, sondern für die Schüler der dortigen Kathedralschule.
    Zum nationalen Erbe erkoren
    Die romantische Bewegung Finnlands am Beginn des 20.Jahrhunderts hat die Gesänge der Sammlung als nationales Erbe wiederentdeckt. Seither sind sie fest im Musikleben des Landes verankert und stehen – ins Finnische übersetzt - auf dem Programm vieler Freizeit- und Kirchenchöre.
    Diese Chöre befassen sich aber zumeist nicht mit Fragen der Aufführungspraxis, anders als der Mittelalter-Spezialist Andrew Lawrence-King. In seiner Realisation zusammen mit dem "Utopia"-Kammerchor hat er beispielsweise darauf geachtet, die Lieder nicht zu transponieren. Dies wird häufig gemacht, um sie leichter singen zu können. Er hingegen hat jeden Gesang in der originalen Tonhöhe aufführen lassen. Dies hat zur Folge, dass Lieder gelegentlich nur von den hohen oder von den tiefen Stimmen gesungen werden. Das wiederum sorgt für Abwechslung auf der CD. Kurze solistische Abschnitte, die hin und wieder eingeflochten sind, erweitern ebenfalls das Klangspektrum. So auch in dem nur von den Frauen des Kammerchors gesungenen Lied "O quam mundum—O wie fein und angenehm ist es, in Einheit zusammenzuleben, verkündet David in seinen Psalmen".
    Musik: Anonymus (Piae Cantiones No.68), O quam mundum
    Einige der Lieder der Sammlung "Piae Cantiones" sind in einer einfachen Art von Mehrstimmigkeit für zwei, ganz wenige für drei oder vier Stimmen gesetzt. Doch die meisten sind nur einstimmig überliefert. Da zudem über die Aufführungspraxis der Gesänge im Finnland des 14. oder 15.Jahrhunderts so gut wie nichts bekannt ist, gibt das Interpreten von heute eine große Freiheit beim Realisieren. Andrew Lawrence-King hat sich in seiner Aufnahme mit dem "Utopia"-Kammerchor eine Menge einfallen lassen. Er setzt oft nur Teile des Chores ein, passt Tempi und Rhythmen dem Versmaß der Texte an und lässt Stimmen hinzu improvisieren. Und zudem reichert er die Gesangslinie mit Instrumenten an. Er selbst zeigt sich dabei als Multi-Instrumentalist, denn neben Harfe spielt er verschiedene Tasten- und Schlaginstrumente sowie Hackbrett. Außerdem hat er acht weitere Instrumentalisten eingeladen und auch Chormitglieder dürfen Glöckchen schlagen und Vogelstimmen nachahmen. Dies alles sorgt dafür, dass die archaischen Klänge aus dem späten Mittelalter überaus lebendig und abwechslungsreich wirken. Auf manche Hörer mag der verspielte Gebrauch der perkussiven Elemente, typisch für den Ansatz von Lawrence-King, dabei aber ein wenig kitschig wirken.
    Der in Maßen hallige Sound der CD erscheint angemessen, denn er passt zum historischen Ort der Gesänge, einer Kathedralschule.
    Musik: Anonymus (Piae Cantiones No.6), Congaudeat turba fidelium
    Piae Cantiones
    Utopia Chamber Choir (Kamarikuoro Utopia)
    Leitung: Andrew Lawrence-King
    Label: AliaVox