Eigentlich sollte es eine Geburtstagsfeier werden: "Happy Birthday, Arvo Pärt!" – das war letztes Jahr das Motto eines Konzertabends, mit dem der Chor des Bayerischen Rundfunks den 85. Geburtstag von Arvo Pärt feiern wollte. Sogar in Anwesenheit des Komponisten! Da hätte man sich gegenseitig gratulieren können; denn auch der BR-Chor darf gerade feiern, und zwar sein 75. Jubiläum.
Sie ahnen: Alles kam anders. Arvo Pärt ist zu Hause geblieben, das Konzertpublikum ebenfalls. Dennoch haben sich die Chorsängerinnen und -sänger getroffen, um Musik zu machen, zusammen mit ihrem künstlerische Leiter Howard Arman. Eine vokale Begegnung in respektvollen Abstand – um sich gegenseitig zu schützen vor dem Coronavirus. In der verglasten Technik-Kanzel dabei: der Tonmeister. So sind große Teile des Albums entstanden, das ich Ihnen an diesem Ostermontag vorstellen möchte: Miserere, Chormusik von Arvo Pärt.
Musik: Ja ma kuulsin hääle … (And I Heard a Voice …) für Chor a cappella
Und ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen… Einen Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes hat Arvo Pärt hier vertont für Chor a capella.
Viele Ensembles trauen sich nicht recht
Ein ausgelassenes Geburtstagsfest wäre das geplante Konzert mit Arvo Pärts Musik natürlich nicht geworden. Sondern eine tiefe, verinnerlichte Erfahrung der Suche nach Gott; voll verhaltener Glut, dabei ganz frei von unterhaltenden Gesten oder musikalischen Showeffekten.
Ein Ensemble, egal, wie gut es technisch sein mag, kann Pärts Kompositionen nicht einfach professionell abliefern. Sonst wirkt die Musik kalt und leer. Um diesen Werken gerecht zu werden, müssen die ausführenden Musikerinnen und Musiker sich wirklich verbinden mit der geistigen Welt Arvo Pärts, mit seinem tastenden Suchen nach dem Urgrund des Lebens.
Darum trauen sich viele Ensembles, und gerade die großen Konzertchöre, nicht recht heran an diese Musik. Auch für den Chor des Bayerischen Rundfunks war die Beziehung zu Pärts Werken lange Zeit eher lose. Dann dirigierte vor 20 Jahren im Münchner Prinzregententheater Tõnu Kaljuste zwei Chorstücke von Arvo Pärt. Ein Konzert damals unter dem unmittelbaren Eindruck der Terroranschläge von Nine-Eleven.
Seitdem ist das Eis gebrochen zwischen dem Komponisten aus Estland und dem Chor aus Bayern. Immer wieder gab es intensive musikalische Begegnungen, Konzerte und CD-Aufnahmen. Zuletzt hat der BR-Chor vor zwei Jahren die deutsche Erstaufführung dieses Stücks gestaltet, Und ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen… Jetzt bildet es das Finale der neuen CD.
Musik: Ja ma kuulsin hääle … (And I Heard a Voice …)
Inspiriert vom leidenschaftlichen Glauben
"Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach." Diese Stelle aus der Offenbarung des Johannes hat Arvo Pärt hier vertont – auf estnisch.
Seine Musik ist inspiriert vom leidenschaftlichen Glauben des Neuen Testaments. Auch für heute schwer nachzuvollziehende Passagen findet Pärt Klänge, die einen Zugang schaffen. Etwa im Eröffnungsstück der CD, auf Englisch: Which Was the Son of … Die Abstammungslinie des Jesus von Nazareth wird hier deklamiert, über Dutzende Generationen hinweg. "Er galt als Sohn Josephs, welcher der Sohn war von Eli, welcher der Sohn war von Mattat, welcher der Sohn war von Levi…"
Manch anderer Komponist würde von dieser langen Namensliste keine stärkere Anregung zum Komponieren erhalten als sprichwörtlich vom Telefonbuch. Kann man aus der Abfolge von Namen ein faszinierendes Chorstück schaffen?
Musik: Which was the son of…
Ja, man kann aus einer Ahnenliste faszinierende Chormusik schaffen! Erstaunlich freudig und beschwingt. Arvo Pärt kann es. Und das letzte Motiv hinter dieser Liste, die Quelle der Freude, wird auch hörbar. Denn Pärt geht dieser Linie nach, bis auf den Grund.
Musik: Which was the son of…
Pärt war selbst erschüttert
Der Ursprung der menschlichen Genealogie ist – Gott. Arvo Pärt macht diese Glaubensvorstellung musikalisch erlebbar, indem er die Chorbässe zum Schluss dreistimmig auffächert und die tiefsten von ihnen beim letzten Wort der Aufzählung, beim Wort "Gott" – hinunterschickt zum Fundamentton, dem tiefen E! Die Bässe des BR-Chores lassen diesen Ton souverän und in sich selbst ruhend ausschwingen.
Auf den Internetseiten des Bayerischen Rundfunks gibt es ein kleines Video, das zeigt, wie Arvo Pärt die Proben zu seiner Musik besucht. An mehreren Stellen ist Pärt sichtlich erschüttert über die Klangwirkung – denn er hat, wie er selbst sagt, viele seiner Stücke bisher ausschließlich von klein besetzten Vokalensembles gehört. Noch nie von einem großen Konzertchor.
Musik: Tribut to Caesar
Ein Auszug aus Tribute to Caesar; Jesu Auseinandersetzung mit den Pharisäern wird hier in Szene gesetzt, durchaus mit dramatischer Wirkung.
Viel Gesang ist zu hören auf dieser neuen CD mit Werken von Arvo Pärt; aber es gibt auch zwei Inseln von Instrumentalmusik. Gespielt, auf gleichem Niveau wie die Chorstücke, vom Münchner Rundfunkorchester: Das aus der Stille nach Klängen tastende Sequentia für Violine, Schlagwerk und Streichorchester; und: das raumgreifende Festina lente für Streichorchester und Harfe.
Musik: Festina
Chor trifft auf elektrische Gitarren und Bässe
Ein Ausschnitt aus Festina lente, von Arvo Pärt. Im Studio aufgenommen 2020 unter Corona-Bedingungen, also mit Distanzregeln – was man den Orchester-werken ebenso wenig anhört wie den Werken für Chor a capella, die unter den gleichen Bedingungen eingesungen sind.
Anders das eigentliche Hauptwerk dieser CD, das großformatige Miserere – live mitgeschnitten bei einem Konzert bei den Salzburger Festspielen 2019. Dieses Miserere ist ein gut halbstündiges Werk für Soli, Chor, Ensemble und Orgel; die Musik stellt höchste Ansprüche sowohl an die Musiker wie an die Zuhörenden; besonders in dem Satz zum "Tag des Zorns", dem Dies Irae.
Musik: Miserere - Dies Irae
Das Dies Irae aus dem Miserere von Arvo Pärt. Neben diversen Bläsern kommt hier eine große Gruppe von Schlagwerkern zum Einsatz, dazu elektrische Gitarren und Bässe. Entsprechend selten wird dieses Stück aufgenommen oder im Konzert aufgeführt. Dabei ist es eines der Hauptwerke Pärts, hoch komplex und voller Kontraste.
Den Ensembles unter der Leitung von Howard Arman gelingt eine existentiell ergreifende Deutung; wuchtig, fast physisch erschütternd in den Klangballungen – aber auch mit feinem Gespür für die spirituelle Bedeutung jedes einzelnen Tons, für das Pulsieren des Klangraums, für die Übergänge in die Stille, aus der für Pärts alle hervortritt.
Musik aus allen Schaffensphasen
Es lohnt sich, den Tag des Zorns zu überstehen; denn danach tritt der Mensch in einen lebendigen Dialog mit seinem Schöpfer, wie in diesem Satz:
Musik: Versus XIV, Redde mihi laetitiam salutaris tui
"Tröste mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem freudigen Geist rüste mich aus." Ein Satz aus dem großen Miserere von Arvo Pärt.
Miserere heißt auch die neue CD, die ich Ihnen vorgestellt habe. Musik aus allen Schaffensphasen von Arvo Pärt – für Chor a capella, für Orchester, für Chor und Orchester, dirigiert von Howard Arman.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Chor des Bayerischen Rundfunks, dem Münchner Rundfunkorchester, dem oesterreichischen ensemble fuer neue musik und Gesangssolisten hat hier ein starkes und ungemein vielschichtiges Album möglich gemacht.
Musik: The Deer´s Cry
Miserere
Werke von Arvo Pärt
Chor des Bayerischen Rundfunks
oenm - österreichisches ensemble für neue musik
Münchner Rundfunkorchester
Howard Arman, Leitung
Label: BRKlassik
Werke von Arvo Pärt
Chor des Bayerischen Rundfunks
oenm - österreichisches ensemble für neue musik
Münchner Rundfunkorchester
Howard Arman, Leitung
Label: BRKlassik