Es ist ein respekteinflößendes Projekt. Chris Kraus erzählt die europäische Gewalt- und Geheimdienstgeschichte des 20. Jahrhunderts zwischen Bolschewisten, Faschisten, Kommunisten und falschen Demokraten. Dazu erschafft der Autor ein überwältigend großes Figurenarsenal und spannt ein weites Netz an historischen Bezügen, fiktiven Begebenheiten und geheimdienstlichen Verschwörungen. Über zehn Jahre lang habe er recherchiert und die 1200 Seiten seines Romans dann in nur neun Monaten zu Papier gebracht, so gibt Chris Kraus zu Protokoll.
Worum geht es in "Das kalte Blut"? Die Brüder Hubert und Konstantin Solm werden auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert als Abkömmlinge einer alten aristokratischen deutsch-baltischen Familie in Lettland geboren. Mit dem Überfall der Bolschewiken auf die baltischen Staaten 1917 ist es auf einen Schlag vorbei mit dem privilegierten Leben der Solms: Der Vater, Kunstmaler Theodor Solm, die Mutter – eine Baronesse – die Haushälterin Anna Iwanowna und die Brüder, mit Kosenamen Hubsi und Koja, verlieren Status und Besitz. Koja, der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans erinnert sich.
"Die Todesmühle begann noch am selben Tag zu mahlen. Mama und Papa und Hubsi und ich und Anna Iwanowna und nahezu alle unsere Freunde und Bekannte waren von einer Sekunde auf die andere satanische Schädlinge, vom Erdboden zu tilgende Insekten. Die Tscheka hatte in der nahen Schützenstraße ihr Büro eingerichtet, und in dessen Keller zogen findige Mongolen den verhafteten Aristokraten die Haut von den Handgelenken bis hinunter zum kleinen Fingernagel, um den Verhören eine unverwechselbare Note zu verleihen. Zu dem unmittelbaren Terror gesellte sich der Hunger hinzu, da die Nahrungsmittelversorgung zusammengebrochen war. Jeden Tag sah ich zugeschneite Menschenbündel in den Straßen und Hausfluren liegen, Verhungerte oder frisch Erfrorene, an letzte Träume gekrallt. Der extrem kalte Winter fegte über das Land. Um zu überleben, gab sich Papa als Sanitäter aus, obwohl er überhaupt kein Blut sehen konnte."
Angesichts der Perspektivlosigkeit der Deutschbalten unter sowjetischer Herrschaft treibt es Hub, den Theologie-Studenten, und Koja, den Architekten, schließlich zur örtlichen SS-Division. "Ich war von Anfang an ein guter Nazi, obwohl ich es gar nicht wollte", gibt Koja lapidar zu Protokoll. Das Töten lernt er schnell. Zehntausende Juden haben SS-Angehörige im Wald bei Riga exekutiert und verscharrt. An einem der Massengräber wird Koja von seinem Vorgesetzten Stahlecker zur Erschießung einer bereits sterbenden Frau und ihres Babys gezwungen.
"Hinter mir hörte ich einen Fotoapparat klicken. Mein erster Impuls war, den Fotografen niederzuschießen, aber ich tat es natürlich nicht. Mein zweiter Impuls war, einfach loszurennen – die Waffe wegzuwerfen, mich umzudrehen und loszurennen, was ebenfalls nicht geschah. Mehr Impulse gab es nicht. Der Rest war Leere. Und dann sah ich, dass sich plötzlich auch der Säugling bewegte. Die Frau, immer noch blutgurgelnd, auch ein paar Bläschen werfend durch den Chlorkalk, der ihr die Mundhöhle verätzte, die Frau also blickte hinüber zu dem winzigen Bündel, und bevor ich mich wegen des freiliegenden Hirns übergeben konnte, tat ich etwas, was später für Heiterkeit bei Stahlecker sorgen sollte, ja sogar zu der scherzhaften Überlegung, mich wegen Verschwendung von Rüstungsgütern zu Verantwortung zu ziehen: Ich schoss das ganze verdammte Magazin leer."
"Die Todesmühle begann noch am selben Tag zu mahlen. Mama und Papa und Hubsi und ich und Anna Iwanowna und nahezu alle unsere Freunde und Bekannte waren von einer Sekunde auf die andere satanische Schädlinge, vom Erdboden zu tilgende Insekten. Die Tscheka hatte in der nahen Schützenstraße ihr Büro eingerichtet, und in dessen Keller zogen findige Mongolen den verhafteten Aristokraten die Haut von den Handgelenken bis hinunter zum kleinen Fingernagel, um den Verhören eine unverwechselbare Note zu verleihen. Zu dem unmittelbaren Terror gesellte sich der Hunger hinzu, da die Nahrungsmittelversorgung zusammengebrochen war. Jeden Tag sah ich zugeschneite Menschenbündel in den Straßen und Hausfluren liegen, Verhungerte oder frisch Erfrorene, an letzte Träume gekrallt. Der extrem kalte Winter fegte über das Land. Um zu überleben, gab sich Papa als Sanitäter aus, obwohl er überhaupt kein Blut sehen konnte."
Angesichts der Perspektivlosigkeit der Deutschbalten unter sowjetischer Herrschaft treibt es Hub, den Theologie-Studenten, und Koja, den Architekten, schließlich zur örtlichen SS-Division. "Ich war von Anfang an ein guter Nazi, obwohl ich es gar nicht wollte", gibt Koja lapidar zu Protokoll. Das Töten lernt er schnell. Zehntausende Juden haben SS-Angehörige im Wald bei Riga exekutiert und verscharrt. An einem der Massengräber wird Koja von seinem Vorgesetzten Stahlecker zur Erschießung einer bereits sterbenden Frau und ihres Babys gezwungen.
"Hinter mir hörte ich einen Fotoapparat klicken. Mein erster Impuls war, den Fotografen niederzuschießen, aber ich tat es natürlich nicht. Mein zweiter Impuls war, einfach loszurennen – die Waffe wegzuwerfen, mich umzudrehen und loszurennen, was ebenfalls nicht geschah. Mehr Impulse gab es nicht. Der Rest war Leere. Und dann sah ich, dass sich plötzlich auch der Säugling bewegte. Die Frau, immer noch blutgurgelnd, auch ein paar Bläschen werfend durch den Chlorkalk, der ihr die Mundhöhle verätzte, die Frau also blickte hinüber zu dem winzigen Bündel, und bevor ich mich wegen des freiliegenden Hirns übergeben konnte, tat ich etwas, was später für Heiterkeit bei Stahlecker sorgen sollte, ja sogar zu der scherzhaften Überlegung, mich wegen Verschwendung von Rüstungsgütern zu Verantwortung zu ziehen: Ich schoss das ganze verdammte Magazin leer."
Eine rasante Abfolge der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Das absolut Böse fungiert als eigentlicher Treibstoff in Chris Kraus’ Geschichte. Den Gegenpart dazu verkörpert die junge Ev, die als Waisenkind zur Familie Solm stößt. Sie ist Nackt-Modell für den malenden Vater, liebende Schwester der Brüder, und zugleich deren erotisierende Liebhaberin und später gar Ehefrau. Während Hub Deportationen und Massenerschießungen in den Ostgebieten durchführt und sein Bruder Koja als Nazi-Spion reihenweise Oppositionelle ans Messer liefert, leistet Ev als Krankenschwester in Auschwitz ihren Einsatz für die Menschlichkeit. Chris Kraus präsentiert eine rasante Abfolge überdeutlicher filmischer Szenen aus der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Blinder Gehorsam und tumber Ehrgeiz einerseits und der zutiefst narzistische Wille zu Macht und Geltung andererseits sind dabei die Koordinaten der Gebrüder Solm. Weil Hub zunächst als hochrangiger SS-Offizier und in der frühen Bundesrepublik in der Organisation Gehlen Karriere macht und damit nur auf die antisowjetische Karte setzt, fällt er am Ende umso tiefer. Der Protagonist Koja dagegen ist das Paradebeispiel des Opportunisten, der es bestens versteht, Vertrauen zu schüren, Verantwortung zu delegieren und Erfolge für sich zu verbuchen, ganz gleich ob im Dienste der Nazis, der Sowjets, des BND, der CIA oder des Mossad.
"Alle Wahrheiten des Seins sind beschissene Ansichten. Man wächst in sie hinein in diese beschissenen Ansichten, die immer zu einer bestimmten Zeit gehören! Die immer von einer bestimmten Zeit hervorgebracht sind! Alle beschissenen Ansichten geben sich als gültig und dauerhaft. Und nichts sind sie weniger als gültig und dauerhaft!"
In der Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich ein spannender Bogen schlagen zwischen den Regimen und den perfiden Methoden ihrer Geheimdienste - ein Bogen, den Chris Kraus leider deutlich überspannt. Der Autor schreibt und denkt so schnell, er will die Ergebnisse seiner Recherchen und zum Teil ja durchaus reizvollen Inspirationen so dringend an den Mann bringen, dass für die Entwicklung literarischer Figuren und Welten schlicht kein Platz ist. Auf skurrile Weise schlägt sich das auch in der Rahmenhandlung nieder: Mit einer Kugel im Kopf liegt der Protagonist Koja 1974 in einem Münchner Krankenhaus und berichtet von seinen Abenteuern als Geheimdienstler. Als Zuhörer dient ihm ein langsam dahinscheidender Hippie mit aufgeschraubter Schädeldecke, den Koja schließlich mit Haschisch dafür bezahlen muss, dass er sich seinen Erinnerungserguss weiter anhört.
"Wie unfassbar kindsköpfig der Hippie auch sein mag, wie wenig er auch von der kristallklaren Reinheit des Bösen versteht (und noch viel weniger von dessen Stupidität): Ich würde gerne lernen, dass es etwas Normales sein kann, wenn mir Menschen ehrlich begegnen. In mir bewegen sich tektonische Platten der Rührung. Und auf diesen Platten werden kleine Kerzen der Kindheit angezündet."
Parallelen zu Jonathan Littels "Die Wohlgesinnten"
Dieses Buch will sehr viel und ist am Ende leider sehr wenig. Hier herrscht für eine Dokumentation zu viel und für einen Roman zu wenig literarische Wucht. "Das kalte Blut", so ist dem Autor nach seinem enormen Arbeitseinsatz im Stollen der Geschichte zu wünschen, wird im besten Fall polarisieren. In etwa so, wie vor elf Jahren bereits Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten". Die Parallelen zwischen diesen beiden Backstein-dicken Büchern sind jedenfalls unübersehbar: Hier wie da berichtet ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer mit schwerer Kopfverletzung und intimer Beziehung zur eigenen Schwester über die totale moralische Entgrenzung. Hier wie da stellt der Autor die ganz großen Fragen nach dem Guten und dem Bösen im Menschen und scheitert an der verengten Binnenperspektive seines Protagonisten.