Niemand hat gesagt, dass Schriftsteller zu ihren Lesern immer freundlich sein müssen. Das gilt auch für Christa Wolf, obwohl sie das Gespräch mit ihrem Publikum gewöhnlich regelrecht suchte. Die im Jahr 2011 im Alter von 82 Jahren verstorbene ostdeutsche Autorin beantwortete nicht nur pflichtbewusst jeden eingegangenen Brief, wie sie ihrem ungläubigen Lektor auf Nachfrage hin bestätigte. Mit einigen ihrer Leser und Leserinnen korrespondierte sie sogar jahrzehntelang.
Aber einmal, im Mai 1996, wurde eben auch Christa Wolf unfreundlich: als so "verletzend" empfand sie die ignoranten, wenn nicht gar inkriminierenden Fragen, die ihr da gestellt wurden. Und zwar von Schülern eines, immerhin, Deutsch-Leistungskurses. Und pikanterweise auch noch aus dem uckermärkischen Angermünde, also aus ihrer ostdeutschen Heimat – nur wenige Jahre nach dem Ende der DDR:
"Liebe Schülerinnen der 12. Klasse,
auf Ihren Brief mit seinen für mich teilweise absurden Fragen wollte ich Ihnen zuerst nicht antworten, und auch jetzt noch frage ich mich und Sie, ob Sie wirklich so wenig über mich und meine Arbeit wissen und ob auch Ihre Lehrerin Ihnen nicht ein bißchen besser Bescheid geben konnte.
Wenn Sie 'Störfall' gelesen haben – wie können Sie dann darauf kommen, daß ich dem sozialistischen Realismus 'gefolgt' sei. (Wissen Sie überhaupt, was das ist?) Oder daß ich mich nicht 'frei' geäußert habe – da mein Buch die einzige kritische und ausführliche Äußerung in der DDR zu der Wirkung und den Folgen der Katastrophe in Tschernobyl war?
Ihre dritte Frage über die 'Ethik' einer Schriftstellerin ist so unverschämt, daß ich sie nicht beantworten werde und daß Sie sich vielleicht später einmal schämen werden, sie gestellt zu haben, wenn Sie meine Arbeiten, die ich seit 1960 geschrieben habe, näher kennen."
Angetrieben von ethischen Motiven
Man kann sich Christa Wolfs Enttäuschung gut vorstellen. Immerhin lag für sie aller Literatur das Bedürfnis zugrunde, gekannt zu werden, gerade "auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern". Zeitlebens war die Verfasserin von Werken wie "Kindheitsmuster" oder "Kassandra" angetrieben von ethischen Motiven wie Wahrhaftigkeit, Selbsterkenntnis und Selbstoffenbarung. Andererseits waren die Fragen der Schüler für die einstige Ikone der DDR-Literatur auch eine bittere Bestätigung. War Christa Wolf doch davon überzeugt, dass die Menschen stets weniger voneinander – und von sich selbst – wussten, als sie zu wissen glaubten: die nach der Wende nur vordergründig wiedervereinigten Ost- und Westdeutschen ebenso wie die von unterschiedlichen Erfahrungen geprägten Generationen. In diesem Sinne fragte sie 2005 den französischen Physiker und Anna-Seghers-Sohn Pierre Radványi, ob man denn jungen Menschen überhaupt noch vermitteln könne, in welchem Maße eine ganze, vom Kommunismus geprägte Autorengeneration in das "Mahlwerk der Geschichte" geworfen und von ihm bis zur völligen Vergessenheit zermahlen worden sei.
Man darf vermuten, dass sie dabei auch an ihr eigenes Autorinnenschicksal dachte. Denn auch wenn Christa Wolf nie in Vergessenheit geriet: In diesem Mahlwerk der Geschichte befand sie sich in ihrem exemplarischen ostdeutschen Intellektuellenleben doch immer wieder. Um von ihm mehr als einmal bis zur Unkenntlichkeit entstellt zu werden. Die Erfahrung, Zerrbildern ihrer selbst zu begegnen, sollte sich daher in Christa Wolfs Leben wiederholen: Nach ihrem Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 zum Beispiel wurde aus der loyalen DDR-Autorin für die paranoide Partei sofort eine potenzielle Konterrevolutionärin. Und ein Vierteljahrhundert später, als nach der "Wende" in ihrer Heimat die Hatz auf alle begann, die unter dem SED-Regime privilegiert waren, wurde aus ihr sogar eine Art "Monster":
"Neulich hat mich ein kleiner Mann zehn Minuten lang beschimpft, nur weil ich mein Auto aus Versehen so geparkt hatte, daß er mit seinem Auto nicht abfahren konnte: seines war allerdings ein Trabant, meins eben ein 'Westwagen'. Er bot mir an, mich zusammenzuschlagen, mir 'in die Fresse zu spucken', ließ sich nicht beruhigen, ich war vollkommen fassungslos. Zum Schluß schrie er: 'Und Kommunistensau bist du doch auch noch, das sieht man dir ja an!'"
Neue Sicht auf die Autorin
Eine Gelegenheit, die wohl bedeutendste deutschsprachige Prosa-Autorin nach 1945 neu kennenzulernen, bietet nun ein Band mit Briefen Christa Wolfs. Dabei wurden aus den circa 15.000 Briefen im Nachlass knapp 500 herausragende Schreiben ausgewählt. Sie stammen aus den Jahren 1952 bis 2011, umfassen also praktisch Christas Wolfs gesamte, sechs Jahrzehnte lange Schriftstellerinnenexistenz. Anders als früher publizierte Wolf-Korrespondenzen, etwa die Briefwechsel mit Brigitte Reimann oder Franz Fühmann, enthält diese Edition nur Schreiben der Autorin. Gerichtet sind sie an Adressaten in Ost und West, an befreundete Autorenkollegen wie Sarah Kirsch oder Günter Grass, an Leser und Familienmitglieder, an Ärzte und Analytiker, an Lektoren, Kritiker, Parteifunktionäre und Politiker. Ein eindrucksvolles Netz an Beziehungen, das sich über die Jahrzehnte immer weiter spannte, über die Systeme und Kontinente hinweg. In seiner Gesamtheit ergibt diese Briefauswahl "die innere und äußere Biografie" dieser Autorin, wie es die Herausgeberin Sabine Wolf treffend formuliert. Die Leiterin des Literaturarchivs der Berliner Akademie der Künste sorgt mit ihrem zuverlässigen Kommentar für die zum Verständnis nötigen Kontexte – und trägt übrigens nur zufällig den Nachnamen der Autorin.
Zeitgeschichte im Briefwechsel
So manche Überraschung hält der 900 Seiten starke Band bereit, selbst für Christa-Wolf-Kenner etwa den Nachweis ihrer frühen Lektüre Uwe Johnsons, dessen Einfluss auf ihr Frühwerk die Autorin zeitlebens bestritten hat. Oder biografische Vignetten wie das Bemühen des angetrunkenen Max Frischs, die glücklich verheiratete Kollegin bei einer Begegnung in New York in sein Hotelzimmer zu locken. Oder einen Brief an Jürgen Habermas aus dem Jahr 1991, in dem Christa Wolf den besorgten Philosophen mit schöner Süffisanz beruhigt: Das Niveau der geistigen Debatten im vereinten Deutschland werde gewiss nicht sinken, nur weil nun auch ostdeutsche Intellektuelle mitsprächen – auch wenn sie die "Weite" von Habermas' "geistigem Horizont" natürlich neidlos anerkenne …
Der zeitgeschichtliche und literaturhistorische Wert dieser Briefauswahl kann kaum überschätzt werden. Und wohl noch nie wurde die enorme geistige und literarische Entwicklung dieser Autorin so fassbar, so nacherlebbar, wie in diesem Band. Sie war eben wirklich eine "Jahrhundertfigur", als die sich die sonst so sehr von Selbstzweifeln Gebeutelte einmal, 1971, chiantibeschwipst während eines Parisaufenthalts, gegenüber Stephan Hermlin bezeichnete – eine Zeugin ihrer Zeit.
Kritische Selbstreflexion
Geradezu erschütternd ist freilich die Begegnung mit der von naiver Ideologie- und Parteigewissheit getragenen jungen Christa Wolf, die als eifrige marxistische Nachwuchskritikerin DDR-Autoren letzte "kleinbürgerliche Vorurteile" nachwies. Bestürzend sollte die Begegnung mit ihrem früheren Ich später auch für die Autorin selbst werden: Schon 1971 bekannte Christa Wolf ihrer Freundin Brigitte Reimann, ihr komme beim Wiederlesen ihres Romanerstlings "Der geteilte Himmel" von 1963 "das große Heulen" über ihre damalige "unschuldsvolle Gläubigkeit". Und 1993, nach ihrem überraschenden Coming-out als wohl unbrauchbarste informelle Mitarbeiterin in der Stasi-Geschichte, schrieb sie über dieses von ihr im klassisch freudianischen Sinn verdrängte Faktum ihrer frühen Lebensgeschichte:
"Ich will es nun wirklich wissen, was mit mir damals losgewesen ist, ich will mich nicht mehr rechtfertigen oder verteidigen, 'nur noch' mir selber auf den Grund kommen. Erst jetzt ist mir mit einem Schlag bewußt geworden, in was für einer fürchterlichen Gefahr ich damals war, mich in dieses Wahndenken hineinziehen zu lassen, ich habe ja diese Wörter benutzt, die mir heute die Schamröte ins Gesicht treiben, ich habe ja angefangen, diese Sprache zu sprechen."
Debatte um moralische Integrität
Eines der bemerkenswertesten Dokumente dieser Auswahl aber ist ein Brief, der gar nicht abgeschickt wurde. So brisant war sein Inhalt, dass er in der Schublade verschwinden musste. Gerichtet war das Schreiben aus dem März 1984 eigentlich an die Ehefrau von Lew Kopelew, der sowjetischen Dissidentin Raissa Orlowa-Kopelew – und diente Christa Wolf am Ende nur zur Selbstverständigung. Es war ihr Versuch, gegenüber der gerade in den Westen emigrierten Freundin ihr standhaftes Bleiben in der längst maroden DDR zu rechtfertigen. Und sich – nüchtern und ohne Schonung – über den Preis klar zu werden, den sie für dieses Bleiben bezahlen musste. Also über die Frage, ob sie in der DDR ihre moralische und künstlerische Integrität bewahren konnte.
Bemerkenswert ist dieser Brief vor allem, sieht man ihn vor dem Hintergrund des sechs Jahre später, nach der Wende, über die Autorin hereinbrechenden sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreits. In seinem Verlauf wurde die eben noch in Ost und West als Nobelpreisanwärterin Gefeierte bekanntlich zur opportunistischen "Staatsdichterin" erklärt. Ein klassischer Denkmalsturz, der von namhaften westlichen Literaturkritikern damit begründet wurde, dass sich Christa Wolf bis zuletzt als eine Art moralisches Aushängeschild der DDR habe missbrauchen lassen – statt konsequenterweise in den Westen zu gehen. Und statt die Untaten des SED-Regimes in ihren Texten beim Namen zu nennen, hätte sie es mit ihren diffus zivilisationskritischen, letztlich harmlosen Werken nur gestützt – und Privilegien wie die Reisefreiheit genossen. Christa Wolf selbst erlebte damals, 1990, die Debatte um ihre moralische Integrität als eine "Hexenjagd", mit der sie mundtot gemacht werden sollte. Der Brief aus dem Jahr 1984 belegt nun aber, wie vertraut ihr all diese unangenehmen Fragen sein mussten:
"Ich gestehe mir ein, daß mein Reiseprivileg zu den Bedingungen gehört, die es mir erträglich machen, hier zu leben und zu arbeiten. Ich erinnere mich genau: Früher, in den 60er-, Anfang der 70er-Jahre, kam ich von jeder Reise gerne nach Hause; heute erlebe ich, wenn ich die Grenze nach "draußen" überschritten habe, eine physische Erleichterung: Ein Druck läßt nach. Ich rede mir also ein, ich könne es mir schon hin und wieder erlauben, diesem Dauer-Druck zu entgehen. 'Reisekader' in den Betrieben sind zuverlässige Menschen, die abrechenbaren Nutzen für den Staat zurückzubringen haben. Worin besteht der Nutzen für den Staat, wenn er mich reisen, aus meinen Büchern lesen, mit Lesern im Ausland diskutieren läßt?"
Der persönliche Preis für ihre Loyalität zum "Arbeiter- und Bauernstaat" war jedenfalls hoch. Denn Christa Wolf und die DDR: Das war eine einzige Passionsgeschichte, wie ihre Krankenakte im Spiegel ihrer Briefe zeigt. Jeder neue Zusammenstoß mit der Partei führte prompt zu einer körperlichen oder seelischen Reaktion, zu Depressionen, Bluthochdruck, psychosomatischen Störungen, Herzanfällen. Oder gar zum kompletten Zusammenbruch ihres Immunsystems. So geschehen im Jahr 1988 – womit Christa Wolf sozusagen körperlich stellvertretend den Zusammenbruch der DDR vorwegnahm. Von diesem war die Autorin ein Jahr später jedenfalls nicht überrascht. Im Rückblick schreibt sie:
"Ich habe dieses Land geliebt. Daß es am Ende war, wußte ich, weil es die besten Leute nicht mehr integrieren konnte, weil es Menschenopfer forderte. Ich habe das in 'Kassandra' beschrieben, die Zensur stocherte in den 'Vorlesungen' herum; ich wartete gespannt, ob sie es wagen würden, die Botschaft der Erzählung zu verstehen, nämlich, daß Troja untergehen muß. Sie haben es nicht gewagt und die Erzählung ungekürzt gedruckt. Die Leser in der DDR verstanden sie."
Tatsächlich machte sich Christa Wolf über den diktatorischen Charakter des SED-Regimes schon seit den 70er Jahren keine Illusionen mehr. In dem erwähnten Schubladen-Brief aus dem George-Orwell-Jahr 1984 beschreibt sie, ähnlich wie in ihrer Erzählung "Was bleibt", detailliert all die Maßnahmen, mit denen sie von der Stasi überwacht wurde – und zugleich ihre eigenen verzweifelten Versuche, dabei wenigstens Kollateralschäden zu vermeiden. Schließlich belauschte die Stasi nicht nur jedes ihrer Telefonate, sondern las auch ihre Korrespondenz: für Christa Wolf ein moralisches Dilemma. Denn immer wieder wandten sich Leser aus der DDR vertrauensvoll an die prominente Autorin, die vielen eine Instanz für Trost und Kritik war. Aber auch Wolfs Kommunikation mit westlichen Kollegen wurde zum Problem:
"Was kann ich tun? Ich warne, wen ich kann. Ich kann ja keine Annonce in die Zeitung einrücken, daß man mir nur vorsichtig schreiben solle. Neulich, als ich meine Warnung in einem Kreis linker österreichischer Intellektueller aussprach, war Schweigen die Antwort und dann der (öfter schon gehörte) Ausruf: Aber so kann man doch nicht leben! – Das war einer der Momente, da ich mich als der einzige Erwachsene in einem Kreis von Kindern fühlte."
Briefverkehr im SED-Staat als Dilemma
Solche Warnungen finden sich auch an einigen Stellen der Briefauswahl – und muten ein wenig bizarr an, schließlich dürften ja auch sie ungebetene "Mit-Leser" gefunden haben: So machte Christa Wolf 1978 Günter Kunert darauf aufmerksam, wie dilettantisch seine Versuche waren, seine Briefe zu versiegeln. Im Zeitalter von Edward Snowden und NSA-Überwachung wirken diese Beschreibungen verblüffend aktuell. Und es überrascht nicht, dass Christa Wolf unter diesen Umständen in der DDR das Briefeschreiben schon bald "verleidet" war, wie sie 1977 Maxie Wander bekannte. Zugleich aber war der Briefverkehr im SED-Staat für sie unverzichtbar, um die Kommunikation in ihren privaten Netzwerken aufrechtzuerhalten, in die sich Christa Wolf und ihr Mann Gerhard vor der Partei immer mehr zurückzogen. Womit sie freilich erst recht das Misstrauen der Machthaber weckten.
Was der Aspekt "Briefzensur" jedoch auch sichtbar macht: wie stark ein zentrales Motiv Christa Wolfs – die Überwindung der "Grenzen des Sagbaren", ihre Suche nach einer "neuen Sprache" – von dem Konflikt mit der Stasi herrührte. Also mit jener DDR-Behörde, die die Autorin nach der Wende "für die Zerstörung der gesellschaftlichen Kommunikation von der Wurzel her, nämlich von einem Vertrauens-Grund", verantwortlich machte. Dem damaligen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes Hermann Kant schrieb Christa Wolf 1978 in einem weiteren nicht abgeschickten Brief:
"Ich muß Dir sagen, es fällt mir schwer, mich zurechtzufinden zwischen den Offenen Briefen – auf die ich offen nicht antworten kann, weil mir die Öffentlichkeit fehlt –, den nichtoffenen, die nur unterwegs geöffnet und dann wieder geschlossen werden, wie der Deine, und den ganz und gar geschlossenen; zwischen den verschiedenen Sprachen aller dieser Briefe und den verschiedenen Antworten, die sie mir abverlangen. Ich zähle meine Jahre und finde, so viele sind es nicht mehr, als daß ich mich (weiter) an der Sprachverwirrung beteiligen und mit gespaltener Zunge reden dürfte, das heißt aber auch mit einer Zunge, die Spaltung betreibt: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen."
Westdeutschland war für Wolf keine Alternative
Warum also ist Christa Wolf trotz aller Repressionen bis zuletzt in der DDR geblieben? Obwohl sie doch zeitweilig "mit dem Atlas auf den Knien" nach einem möglichen Exilland suchte, wie sie nach der Wende bekannte? Weil es ein solches für sie eben einfach nicht gab. Kein Ort, nirgends, fürwahr. Die Bundesrepublik jedenfalls stand nie ernsthaft als Alternative zur Debatte. Für Christa Wolf war Westdeutschland nur eine kapitalistische "Traum-Leere", ohne auch nur den "Hauch einer utopischen Gesellschaftsentwicklung", wie sie betonte. Ein Land, in dem sich die Menschen mit naivem "Freiheitsgeschwätz" und "Konsumdenken" betäubten. Im Westen würde ihre literarische Produktivität versiegen, dessen war sich Christa Wolf vor der Wende stets sicher gewesen. Weshalb sie sich, als 1977 auch Sarah Kirsch in die Bundesrepublik übersiedelte, prompt sorgte, der Freundin könne dort die produktive "Reibungsfläche" fehlen:
"Ich versuch mir vorzustellen, wie sie da leben will – ich kann’s schwer."
So ganz konnte sie ihre sozialistischen Utopie, in der DDR eines Tages "für alle gleiche, menschliche Verhältnisse" zu schaffen, eben doch nicht aufgeben. Und so lange sie im Osten blieb, so lange sie nicht offen mit der Partei brach, konnte sie zumindest im Kleinen etwas bewirken – wie die Freilassung inhaftierter Autorenkollegen wie Volker Braun. (* Anmerkung der Redaktion s.u.) Für Christa Wolfs beharrliches solidarisches Engagement hinter den Kulissen mittels brieflicher Interventionen direkt an den Obergenossen Honecker finden sich in dem Briefband zahlreiche Beispiele.
Das weist vielleicht auf einen tieferen Grund für ihr Bleiben in der DDR hin: nämlich die Einsicht in die andere Funktion, die geringeren Wirkungsmöglichkeiten von Literatur im Westen. Dort war die hypertrophe Rolle, die Schriftstellern in der DDR unter den Bedingungen einer eingeschränkten Öffentlichkeit zukam, einfach undenkbar. Entsprechend bitter heißt es 2011, in einem der letzten Briefe Christa Wolfs:
"Die Rolle der Literatur ist ja in der Bundesrepublik eine andere, als sie es in der DDR war: Damals waren die Autoren fast die einzigen, die kritisch über die Verhältnisse schrieben, daher wurden sie wichtig genommen, hatten von Seiten der Behörden Schwierigkeiten, von Seiten der Leser oft enorme Unterstützung. Heute spielen gesellschaftliche Probleme in der Literatur fast keine Rolle mehr, was immer man sagen will, sagt man halt, aber es hat keine Wirkung."
So wurde Christa Wolf die Entscheidung zwischen "gehen" oder "bleiben" schließlich abgenommen. Am Ende kam die Bundesrepublik zu ihr und "kolonisierte" ihre DDR, wie sie es empfand. Ihre Produktivität sollte Christa Wolf im wiedervereinigten Deutschland aber durchaus nicht verlieren. Sie blieb einfach bei ihren Themen, der "Konfliktstoff" blieb der alte, wie sie einmal im Gespräch mit ihrer Enkelin Jana Simon erklärte, und wurde nur "neu bearbeitet". So entstanden einige ihrer größten Werke: der Tagebuchband "Ein Tag im Jahr", die Erzählung "Leibhaftig" und vor allem ihr monumentales Alterswerk, ihr Lebensroman "Stadt der Engel".
Leser ihrer Briefe werden rasch merken, wie unverändert aktuell das Werk dieser Autorin auch heute, fünf Jahre nach dem Tod Christa Wolfs, ist. Man denke nur an ihren Roman "Medea" von 1996 über die Ausgrenzung des Fremden und die Konstruktion von Sündenböcken. Ebenso könnten ihre Kommentare zu Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime nach der Wende und dem Orientierungsverlust in Ostdeutschland aus unserer heutigen Zeit stammen. Und schon 2005, also noch vor der Finanz- und Eurokrise, befürchtete die Autorin, das Primat der Ökonomie könnte im Zeitalter der Globalisierung unsere Demokratie unterhöhlen. Von der vom Westen selbst mitverursachten Flüchtlingskrise ganz zu schweigen. Bereits 1990 prophezeite Christa Wolf, dass eines Tages "von Osten und Süden" ein "Sturm auf das reiche Europa angehen" werde. Kassandra lässt grüßen.
(*) Anmerkung der Redaktion: Christa Wolf hat sich für Volker Braun "hinter den DDR-Kulissen" eingesetzt, allerdings in einem anderen Zusammenhang, nämlich am 1.5.1963 bei Siegfried Wagner, Zentralkomitee der SED, Abteilung Kultur, als Volker Braun befürchten musste, exmatrikuliert zu werden und seine Parteimitgliedschaft zu verlieren. Zu den Namen von inhaftierten DDR-Autorenkollegen und Intellektuellen, für deren Freilassung sich Christa Wolf bei Honecker persönlich eingesetzt hat, gehören Jürgen Fuchs (Brief v. 14.8.1977), Lutz Rathenow (23.11.1980) und Bärbel Bohley (18.12.83).
Christa Wolf: "Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten."Briefe 1952–2011.
Herausgegeben von Sabine Wolf. Mit Abbildungen.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2016, 929 Seiten, 38,- Euro
Herausgegeben von Sabine Wolf. Mit Abbildungen.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2016, 929 Seiten, 38,- Euro