Sprechen denn die jungen Autoren weiterhin zur ganzen deutschen Nation, auch wenn sie gegenwärtig "auseinandergerissen" ist, fragt Christa Wolf in ihrem Essay "Probleme junger Autoren" von 1961. Ihrer Überzeugung nach würde es notwendig sein, denn mit dem geteilten Deutschland dürfe man sich nicht abfinden.
Der Aufsatz eröffnet den ersten der insgesamt drei Bände umfassenden Ausgabe mit sämtlichen Essays und Reden der 1929 geborenen Autorin. Als 1971 in der DDR eine erste Ausgabe mit "Aufsätzen und Betrachtungen" der bedeutenden deutschsprachigen Schriftstellerin unter dem Titel "Lesen und Schreiben" erschien, fehlte der Text allerdings. Zehn Jahre nach dem Mauerbau wollten die DDR-Offiziellen nicht mehr mit der Idee eines wiedervereinten Deutschlands konfrontiert werden, für die auch Christa Wolf eingetreten war. Längst war die Bundesrepublik als ideologischer Gegner ausgemacht und die Teilung Deutschlands schien aus DDR offizieller Perspektive dauerhaft besiegelt zu sein.
Auch für Christa Wolf war die Existenz zweier deutscher Staaten seit Ende der sechziger Jahre zu einem unumkehrbaren Faktor geworden, wie aus ihrem 1968 entstandenen Essay "Lesen und Schreiben" zu erfahren ist:
"Der geographische Ort, an dem ein Autor lebt und der zugleich ein geschichtlicher Ort ist, bindet ihn. Das ignorieren oder leugnen zu wollen wäre nicht nur ein vergebliches, sondern auch ein unnützes Unterfangen."
Schreiben in veränderten politischen Verhältnissen
Doch während sie in "Probleme junger Autoren" noch den Eindruck erweckt, als wüsste sie, wie geschrieben werden müsse, um an der Idee der Wiedervereinigung festzuhalten, wurde sie in ihren Formulierungen in den folgenden Jahren vorsichtiger. Ernüchternd hatte das 11. Plenum des ZK der SED von 1965 gewirkt, in dessen Folge kritische Bücher und Filme verboten wurden. Ihr auf dem Plenum gehaltener Diskussionsbeitrag, in dem sie den Vorgaben der SED-Linie widersprach, ist im ersten Band ebenso enthalten wie ihre Mitte der siebziger Jahre im Umfeld der Erzählung "Kein Ort. Nirgends" entstandenen Essays zu Bettine von Arnim, Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist.
Sehnsuchtsraum Romantik
Nach der 1976 erfolgten Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR näherte sie sich dem Sehnsuchtsraum Romantik, um angesichts veränderter politischer Verhältnisse die "Voraussetzungen von Scheitern" zu untersuchen. In ihrer mit "Winterreise" überschriebenen, zum Tod von Wolfgang Heise gehaltenen Trauerrede erinnert sie sich 1985 daran, dass ihr Heise – einer der bedeutendsten kritischen DDR-Gelehrten mit enzyklopädischer Bildung und feinstem ästhetischem Gespür – während eines gemeinsamen Spazierganges zu bedenken gegeben hatte:
"Wir müssen uns klar darüber sein, daß dieser Staat wie jeder Staat sei: ein Herrschaftsinstrument, und seine Ideologie wie alle Ideologie: falsches Bewusstsein. Wir blieben stehen, ich weiß, daß ich fragte: Was sollen wir tun?, daß wir lange schwiegen und daß er schließlich sagte: anständig bleiben."
Dieser moralisch-ethische Imperativ wurde für Christa Wolf bei allem gesellschaftlichen Engagement zu einer Handlungsmaxime. Sie wollte subjektiv authentisch sein. Ihre zunehmend kritische Haltung der DDR gegenüber führte unweigerlich zu der in der Erzählung "Begegnungen Third Street" aufgeworfenen Frage:
"Es gibt kein richtiges Leben im falschen aber wo gibt es ein richtiges in dem man richtig leben könnte."
Eintreten für eine erneuerte DDR
Christa Wolf ist in der DDR geblieben. Als sich nach der Maueröffnung im November 1989 die deutsche Wiedervereinigung abzeichnete – 1961 war sie der Autorin noch ein erstrebenswertes Ziel –, trat sie mit dem Aufruf "Für unser Land" für den Erhalt einer erneuerten, eigenständigen DDR ein. Was sie dazu bewogen hat, dazu hat sie sich häufig in Gesprächen und Interviews geäußert, die in diese Ausgabe leider fehlen, was sich als ein Manko erweist. Entscheidungen hat sich Christa Wolf nie leicht gemacht. In einem Brief vom Dezember 1991 schrieb sie dem Philosophen Jürgen Habermas:
"Von mir muss ich sagen, daß ich mich erst allmählich aus Einseitigkeit, dogmatischen Vorurteilen, Gläubigkeit, Befangenheit herausgearbeitet habe: allmählich und sehr schwer, unter Schmerzen und existentiellen Konflikten. Ich kann mich an jede einzelne dieser Stationen genau erinnern, auch an Rückfälle, Halbheiten, Ängste."
Wiederentdeckung von Christa Wolfs Essays
An der Mauer, von der das Land DDR umgeben war, hat sich Christa Wolf die Stirn wund gerieben. Neben der politisch engagierten Autorin, die sich immer wieder in Debatten eingemischt hat, ist die vielfach Ausgezeichnete als eine leidenschaftliche, für das Künstlerische sich interessierende Autorin zu entdecken, die Ästhetisches stets im Kontext des Gesellschaftspolitischen zu verhandeln wusste. Wie neugierig sie die literarische Entwicklung ihrer Gegenwart verfolgte, wie sehr sie sich für die bildende Kunst interessierte, dokumentieren ihre Essays.
Leider ist die von Sonja Hilzinger zusammengestellte und kommentierte Ausgabe, die eine Wiederentdeckung des essayistischen Schaffens von Christa Wolf ermöglicht, in den Anmerkungen allzu puristisch und zu sparsam bei den Titelangaben, denn man fragt sich, warum in den Inhaltsverzeichnissen der drei Bände häufig auf die Untertitel verzichtet wurde.
Christa Wolf: "Sämtliche Essays und Reden in drei Bänden"
Hrsg. v. Sonja Hilzinger.
Suhrkamp Verlag, Berlin. 1800 Seiten, 36 €.
Hrsg. v. Sonja Hilzinger.
Suhrkamp Verlag, Berlin. 1800 Seiten, 36 €.