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Christen in Indien
Missio-Präsident: "Die Repressionen nehmen zu"

Religiöse Minderheiten geraten in Indien immer stärker unter Druck, so Dirk Bingener, Präsident des katholischen Hilfswerks "missio Aachen". Die nationalreligiöse Regierung und die Behörden würden Religion als Vorwand missbrauchen, um Minderheiten zu diskriminieren, sagte Bingener im Dlf.

Dirk Bingener im Gespräch mit Christian Röther |
Eine katholische Nonne (Mitte) mit einem Protestplakat fordert die Freilassung des Menschenrechtsaktivisten Stan Swamy bei einer Demonstration in Bengaluru, Indien, am 12. November 2020. Auf dem Plakat ist ein Bild Swamys abgedruckt mit dem Schriftzug "Wir fordern Gerechtigkeit".
Protestierende fordern Gerechtigkeit für Stan Swamy. Der Jesuit und Menschenrechtler wurde wegen Terrorismusverdachts inhaftiert und ist nun im Alter von 84 Jahren gestorben. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Aijaz Rahi)
Womit sich religiöse Minderheiten in Indien derzeit konfrontiert sehen, das zeigt exemplarisch der Fall Stan Swamy. Swamy gehörte zu den berühmtesten Katholiken des Landes. Bekannt geworden ist der Jesuit als Bürgerrechtler und Menschenrechtler, der sich unter anderem für indigene Minderheiten eingesetzt hat. Am 5. Juli 2021 ist Stan Swamy im Alter von 84 Jahren gestorben, nachdem er sich seit Oktober 2020 in Untersuchungshaft befunden hatte. Die Behörden warfen ihm Terrorismus vor. Die Kirche, Menschenrechtler und die Vereinten Nationen haben Swamys Freilassung gefordert.

"Um Menschenrechtler mundtot zu machen"

Der Vorwurf des Terrorismus werde in Indien derzeit vermehrt gebraucht, "um Menschenrechtsaktivisten zu brandmarken und mundtot zu machen", so der römisch-katholische Priester und Theologe Dirk Bingener. Stan Swamy sei jedoch kein Terrorist gewesen, so der missio-Präsident weiter, sondern "ein Menschenfreund, der sich für vulnerable Gruppen eingesetzt hat."
Im Mai 2021 kam Stan Swamy aus dem Gefängnis ins Krankenhaus. Er litt schon zuvor an Parkinson und hatte sich außerdem mit dem Corona-Virus infiziert - offenbar im Gefängnis. Die indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy sprach daher in indischen Medien von einem "Mord in Zeitlupe" durch den indischen Staat. Die indische Regierung habe an Swamy "ein Exempel statuieren" wollen, sagte Dirk Bingener.
Dirk Bingener, designierter Präsident des Kindermissionswerks "Die Sternsinger" und des Internationalen Katholischen Missionswerks missio Aachen, vor dem Aachener Dom am 30. August 2019 in Aachen.
Dirk Bingener ist Präsident des Kindermissionswerks "Die Sternsinger" und von missio Aachen (KNA / missio / Julia Steinbrecht)

Das Interview im Wortlaut:

Christian Röther: Herr Bingener, wer war Stan Swamy?
Dirk Bingener: Er war ein indischer Jesuit, und er war ein Menschenrechtsaktivist, und er hat sich besonders eingesetzt für die sogenannten Dalits, also die sogenannten Unberührbaren, und die Adivasi, die indigene Bevölkerungsgruppe, und er hat sich immer wieder gegen Willkür, gegen Land Grabbing beispielsweise, eingesetzt und ist dann eben unter fadenscheinigen Gründen im Oktober 2020 verhaftet worden.
Röther: Ja, die indischen Behörden haben Swamy vorgeworfen, er sei Maoist gewesen und habe bei Terroristen unterstützt. Stimmt das?
Bingener: Nein, das stimmt nicht. Stan Swamy war weder Maoist noch Ideologe, sondern ich würde sagen: Er war ein Menschenfreund, der sich für vulnerable Gruppen eingesetzt hat. Der Vorwurf des Terrorismus und des Maoismus ist ein Vorwurf, der uns öfters begegnet. Das ist eine Geschichte, die erzählt wird von Hindu-Nationalisten, die dadurch Menschenrechtsaktivisten brandmarken wollen. Es sitzen ja noch weitere 16 Menschenrechtsaktivisten seit 2017 in Haft, denen dieselben Vorwürfe gemacht werden wie Stan Swamy. Es war und ist ein Vorwand, um sie und Stan Swamy mundtot zu machen.

"Es wurde klar: Hier soll ein Exempel statuiert werden"

Röther: Was sagen die Haftbedingungen aus über die Regierung, wie sie mit Stan Swamy umgegangen ist? War es tatsächlich ein "Mord in Zeitlupe", wie es Arundhati Roy genannt hat?
Bingener: Man kann sagen, dass in jedem Fall die Regierung ein Exempel statuieren wollte und dass die Strafverfolgungsbehörden bei einem Mann, der 84 Jahre alt ist und an Parkinson erkrankt war, keinerlei Rücksicht genommen haben. Es ist vollkommen unverständlich, dass man den Pater nicht aus der Haft entlassen hat. Religion und religiöse Gründe werden vorgeschoben, um Minderheiten zu diskriminieren. Für uns war es über viele Monate vollkommen unverständlich, dass man den Pater nicht aus dem Gefängnis entlassen hat.
Röther: Sie haben ja auch eine entsprechende Petition gestartet, damit Stan Swamy freikommt. Wie ist die in Indien angekommen, was für Resonanz gab es?
Bingener: Diese Petition wurde vom Europäischen Parlament, von der Menschenrechtsbeauftragten aufgegriffen. Aber es gab ein Stück weit natürlich auch eine Hilflosigkeit. Denn es wurde deutlich: Nein, hier soll jetzt ein Exempel statuiert werden. Bis zuletzt haben unsere Bemühungen nicht gefruchtet, bis dahin, dass der Pater dann ins Krankenhaus eingeliefert worden ist und dann dort verstorben ist.

"Indien in einen Hindu-Staat verwandeln"

Röther: Stan Swamy war ja ein bekannter Vertreter der christlichen Minderheit in Indien. Das Land ist überwiegend hinduistisch, die größte religiöse Minderheit, das sind die Muslime und rund zwei bis drei Prozent der Bevölkerung, die sind eben christlich. Über die schwierige Situation der muslimischen Minderheit hört man ja immer mal wieder etwas hier in Deutschland unter der religiös-nationalistischen Regierung, die sich eben dem Hinduismus verpflichtet fühlt. Wie geht es denn allgemein der christlichen Minderheit unter dieser Regierung?
Die Wurzeln der indischen Hindutva-Ideologie: Religion und Nation
Religiöser Nationalismus dominiert mehr und mehr die indische Gesellschaft. Die hindunationalistische BJP regiert das Land mit absoluter Mehrheit. Die dahinterstehende Ideologie heißt: Hindutva. Erfunden wurde sie Anfang der 1920er-Jahre. Doch ihre Wurzeln reichen tiefer.
Bingener: Ja, die Repressalien nehmen zu. Ich glaube, man muss für den Hintergrund noch mal erklären, dass im Hindu-Nationalismus der Hinduismus als Vorwand benutzt und missbraucht wird. Religion wird missbraucht. Und im Hindu-Nationalismus lautet das Motto gewissermaßen "eine Religion, eine Rasse, eine Nation". Man versucht sozusagen, den säkularen Staat in einen Hindu-Staat zu verwandeln. Und hier gibt es eben eine Nähe der BJP-Partei und des Ministerpräsidenten hin zu diesen ‚rechten‘ Bewegungen. Und darunter leiden dann eben besonders die Christinnen und Christen und die Minderheiten und eben auch die Muslime.
Es wird Religion missbraucht, um politische Interessen durchzusetzen - und das seit 2014 zunehmend. Das sind populistische und autoritäre Strukturen. Und die Minderheiten leiden darunter.

"Minderheiten immer mehr unter Druck"

Röther: Also sind letztendlich alle religiösen und auch ethnischen Minderheiten in Indien gleichermaßen negativ von der Politik der Regierung betroffen?
Bingener: Nehmen wir zum Beispiel das Anti-Konversions-Gesetz in einigen Bundesstaaten. Da ist es so, dass die Konversion vom Hinduismus zu anderen Religionen unter Strafe gestellt wird. Wenn man allerdings zum Hinduismus konvertieren will, dann steht das nicht unter Strafe.
Wir würden ja hier zum Beispiel sagen: Das ist ein Menschenrecht, dass ein Mensch seine Religion wechseln kann. Insofern leiden Christen wie Muslime, Menschen anderer Religionen unter der Politik. Hier fällt dann im Grunde staatliches und religiöses Handeln zusammen.
Röther: Indien hat ja nach wie vor eine säkulare Verfassung. Der Hinduismus ist also nicht Staatsreligion. Ist denn die freie Religionsausübung aus ihrer Sicht derzeit noch möglich?
Bingener: Unsere Erfahrung ist, dass die Minderheiten immer mehr unter Druck geraten und dass sich die Situation seit 2014 eben sehr verschlimmert hat und dass Menschen, die beispielsweise Christen sind - wie viele Adivasi oder auch sogenannte Dalits - unter Repressalien leiten. Grundsätzlich ist natürlich die Menschenrechtssituation gerade für die Minderheiten und für die Armen besonders schwierig.

"Verlust Swamys ist ein Ansporn und eine Ermutigung"

Röther: Stan Swamy, der Jesuit, der jetzt gestorben ist, war eine öffentliche, wahrnehmbare Stimme in Indien. Welche Rolle spielen Christinnen und Christen oder auch Stimmen aus anderen Minderheiten im öffentlichen Leben Indiens? Wie groß wiegt dieser Verlust, dass diese Stimme jetzt verstummt ist?
Bingener: Ja, der Verlust wiegt schwer. Er ist ein Ansporn und eine Ermutigung für die Kirche und für alle religiösen Minderheiten. Die katholische Kirche ist ja beispielsweise sehr stark im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen, in der Sozialarbeit. Und die Frage ist natürlich: Was ist das Erbe, was ist das, was Pater Stan Swamy hinterlässt? Es ist aus meiner Sicht dies: dass Menschen durch Bildung, durch Gesundheitsversorgung, durch eine Sozialarbeit und durch soziale Gerechtigkeit sich für ihre Rechte einsetzen können. Das ist ein Ansporn für alle Religionen – in besonderer Weise natürlich auch für die katholische Kirche, die ja in Indien viele Bildungseinrichtungen, über 15.000 Schulen mit sechs Millionen Schülerinnen und Schülern unterhält und so Menschen ermutigt, ihr Leben in die Hand zu nehmen und die eigenen Rechte zu verwirklichen. Und das ist, glaube ich, das, was Stan Swamy uns auf vorbildhafte Art und Weise gezeigt hat. Und das ist das, was von ihm bleibt und auch bleiben muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.