"Die Nestorianische Kirche des Ostens - im 13./14. Jahrhundert stellte sie ein religiöses Netzwerk dar, das in der Ausbreitung die zeitgenössische lateinische Christenheit im Westen, also im heutigen Europa, bei Weitem übertraf: von Syrien bis an die chinesische Küste, von Sibirien bis nach Südindien und ins heutige Sri Lanka", staunt der Münchner Kirchenhistoriker Klaus Koschorke, der dieses Netzwerk erforscht. Die sogenannte Nestorianische Kirche, deren Name auf den syrischen Theologen Nestorius zurückgeht, hatte sich im fünften Jahrhundert aufgrund politischer und theologischer Differenzen von der römischen Reichskirche getrennt.
"Sie hatte ihr Zentrum in der Nähe von Bagdad, im heutigen Irak, und hat von dort aus eine rege Missionstätigkeit entfaltet."
In Bagdad, Antiochien, Edessa und anderen Städten des Zweistromlands entstanden bedeutende nestorianische Klöster und Hochschulen. Zugleich waren diese Orte Handelsmetropolen der Seidenstraße, die den Orient von Alters her mit China verband. Ihre abenteuerlichen Routen lockten die Nestorianer immer weiter nach Osten.
"Das Faszinierende an dieser Bewegung der Nestorianer ist, dass sie sich sehr unterschiedlichen Kulturen und Sprachen anzupassen wussten und auf der anderen Seite zentralisierende Element hatten: Man hatte eine eigene Sprache - das Syrische hat sich entwickelt aus dem Aramäischen, der Sprache, die Jesus gesprochen hat - und dieses kirchliche Zentrum im heutigen Mesopotamien."
Mit Kaufleuten die Seidenstraße entlang
Folgt man heute vom Zweistromland auf den Wegen der antiken Seidenstraße, erreicht man über den Iran zunächst Turkmenistan, dann Usbekistan und schließlich Kirgisien. Da die gesamte Region im 20. Jahrhundert zur Sowjetunion gehörte, war sie westlichen Forschern weitgehend verschlossen. Erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks änderte sich das:
"Wir haben in den letzten 30 Jahren eine Unmenge neuer Materialien dazugewonnen, etwa in Kirgisistan und Usbekistan, wo man auch an den Schnittpunkten bestimmter Handelswege Zeugnisse dieser nestorianischen Kaufleute findet: Kreuze, in die Felswände geritzt, unterschiedlicher Größen, Kreuze auch versehen mit syrischen, alttürkischen oder altpersischen Inschriften. Und solche Inschriften sind erst vor Kurzem entdeckt worden."
Französische und deutsche Philologen haben zahllose alte Manuskripte aus dieser Region entziffert. Sie belegen eine starke christliche und insbesondere nestorianische Präsenz.
Kirchen, wo der Pfeffer wächst
Alte Legenden, denen zufolge der Apostel Thomas schon im ersten Jahrhundert das Christentum auf den Subkontinent brachte, lassen sich nicht beweisen. Fest steht aber, dass nestorianische Christen, die im sechsten Jahrhundert Indien erreichten, dort blühende Gemeinden sogenannter Thomas-Christen vorfanden. Der Kaufmann Kosmas Indikopleustes berichtet 525:
"Auf der Insel Sri Lanka im indischen Meer gibt eine christliche Kirche mit Klerikern und Gläubigen. Ebenso auf Male, das heißt an der südindischen Malabaren-Küste, dort wo der Pfeffer wächst, und in Kerala. Auch im übrigen Indien sieht man unzählige Kirchen, Bischöfe und Christen."
Ob die Nestorianer einst von Indien aus auf dem Meeresweg nach China weiter reisten oder über das zentralasiatische Hochland, ist nicht erforscht. Sicher ist nur, dass im Jahr 635 der erste nestorianische Mönch, Aloben, die chinesische Handelsmetropole Xian erreichte. Seine Ankunft in der damaligen Hauptstadt des Tang-Reichs belegt eine steinerne Stele, die bis heute erhalten ist. Auf ihr ist zu lesen: ein Edikt des Kaisers der Tang-Dynastie:
"Der ehrwürdige Aloben kam von weit her und legte uns seine religiösen Schriften vor. Wir haben Sinn und Ziel seiner Religion ausführlich erforscht und können sagen, dass sie meditativ ist und wunderbar, dass sie den Menschen erzieht und Ordnung schafft. Daher sollte sie überall im Reich verbreitet werden."
Der Tang-Kaiser finanzierte den nestorianischen Mönchen in Xian sogar den Bau ihres ersten Klosters, erzählt Roman Malek, der langjährige Leiter des China-Zentrums Sankt Augustin:
"Dort haben sich die Mönche in einem Tempelkomplex niedergelassen, zusammen mit buddhistischen, daoistischen, zoroastrischen Mönchen, also all diesen zentral-asiatischen Religionen gelebt, gewirkt. Das China der Tang-Zeit war sehr kosmopolitisch."
Anpassungsfähige Kirche
In den folgenden Jahrhunderten wurden die Nestorianer in China mehrfach Opfer politischer Umbrüche, doch sie überlebten. Das bezeugte eine päpstliche Delegation unter der Leitung des flämischen Franziskaners, Wilhelm von Rubruk. Sie reiste im 13. Jahrhundert, als die ganze Region unter mongolischer Herrschaft stand, an den Hof des Mongolischen Groß-Khans in Karakorum.
"Was interessant ist: Auf dem mongolischen Hof gab es auch Priester, Mönche der Nestorianischen Kirche. Man sagt auch, dass die Mutter von einem der Kaiser, Kublai Khan, Nestorianerin war. Und heute finden wir nestorianische Kreuze, spezifische Kreuze ohne Corpus überall in der Mongolei: auf Grabsteinen, als Schmuck."
Das riesige Netz der Nestorianischen Kirche hatte fast 1000 Jahre Bestand. Erst im 15. Jahrhundert zerfiel es nach und nach in Regionalkirchen. Im Zweistromland, das heißt in Syrien und dem Irak, existiert die Nestorianische Kirche bis heute unter dem Namen Assyrische beziehungsweise Apostolische Kirche des Ostens. Sie brauche allerdings dringend Unterstützung, erklärt die libanesische Ordensfrau Karol, die regelmäßig vor Ort arbeitet.
"Die humanitäre Lage ist katastrophal. Wir helfen den Menschen, die im Krieg zerstörten Häuser wieder aufzubauen, helfen vielen Armen, Medizin zu besorgen, Operationen, Therapien zu finanzieren. Wir versuchen, Christen und Muslimen gleichermaßen beizustehen."
Doch all dies seien nur Tropfen auf heiße Steine, betont der chaldäische Bischof Mirkis aus dem Irak. Er gehört zu einem Zweig der Nestorianischen Kirche, der seit dem 16. Jahrhundert mit Rom uniert ist. Die meisten seiner Landsleute, so der Chaldäer, kämpften heute ums nackte Überleben und hätten nur noch einen Wunsch: zu emigrieren.
"Unsere Kirchen müssen dieser Wahrheit ins Auge sehen. Freilich ist die Emigration nicht die beste Lösung. Wir Christen sollten vor Ort bleiben, durchhalten und unserer Heimat helfen. Aber wie? Wir möchten an morgen denken, an eine Zukunft nach dem Krieg, falls es die gibt. Aber wir fragen uns, wer uns dann helfen wird, diese traumatisierten Menschen in ein normales Leben zurückzuführen?"
In ihrer Existenz bedroht
Hält die Entwicklung an, ist eine der ältesten und bedeutendsten christlichen Kirchen in ihrer Heimat vom Aussterben bedroht, mahnt Kirchenhistoriker Klaus Koschorke. Europa dürfe demgegenüber nicht gleichgültig bleiben:
"Das Bild ist erschreckend. Umso wichtiger ist es, dass Christen und Kirchen in Europa, in Deutschland Solidarität zeigen und alles in ihren Kräften tun, um Flüchtlingen aus dieser Region hier eine vorübergehende Bleibe zu ermöglichen. Es ist zu hoffen, dass sie wieder zurückkehren können. Aber in der gegenwärtigen Situation sollten Grundsätze einer ökumenischen Gastfreundschaft selbstverständlich sein."