Jörg Münchenberg: Geht es nur noch darum, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, auch um den Preis, dass wieder mehr Menschen im Mittelmeer bei ihrer Flucht ertrinken? Oder setzt die Politik letztlich nur das um, was die Bürger von ihr einfordern, nämlich mehr Abschottung, mehr Schutz? – Am Telefon ist nun der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg. Zur Erklärung: Das Zentralkomitee ist das Koordinierungsgremium deutscher katholischer Laien auf Bundesebene. Herr Sternberg, einen schönen guten Morgen!
Thomas Sternberg: Einen schönen guten Morgen auch!
Münchenberg: Herr Sternberg, halten Sie die geplanten Transitzentren, auf die sich jetzt CDU und CSU geeinigt haben, für eine gute Idee?
Sternberg: Ich glaube, die Transitzentren, da weiß noch niemand so richtig, was das eigentlich sein soll, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das überhaupt Einrichtungen sein können, in denen Menschen länger als ein paar Tage leben werden, denn sonst müssen ja auch Kinder zur Schule und Ähnliches. Ich glaube, da ist so vieles noch unklar, auch die Zahlen, für die die überhaupt in Frage kommen sollen. Wir sind ja nun auch in den Zahlen da weit, weit entfernt von den Zahlen, die wir 2015 hatten. Von Obergrenzen ist da ja längst keine Rede mehr.
Ich glaube, wichtig ist für mich, dass überhaupt über diese Frage geredet wird. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um multilaterale europäische Lösungen zu finden. Denn nach 2010 hatte man sich ja über Dublin II auch in gewisser Weise einen schlanken Fuß gemacht und das Problem den Ländern überlassen, die ans Mittelmeer angrenzen. 2015 hatten wir dieses große Problem und Thema, und ich bin nach wie vor der Meinung, es war richtig, dass wir damals diese großen Hilfsaktionen gemacht haben. Nicht zuletzt vor genau fünf Jahren, genau vor fünf Jahren ist der Papst bei einer seiner ersten Reisen nach Lampedusa gefahren und hat die europäische und die Weltöffentlichkeit darauf hingewiesen, dass in unserem europäischen Mittelmeer täglich Menschen ertrinken auf der Flucht.
"Es geht aber um ganz konkrete Menschen"
Münchenberg: Herr Sternberg, es gibt ja nun viele Elemente in der Asylpolitik. Eines ist Stärkung der Außengrenzen. Dann gibt es jetzt auch eine Debatte um die mögliche sogenannte Ausschiffung von Flüchtlingen. Das heißt, man wird sie dann in afrikanischen Staaten unterbringen wollen. Jetzt die geplanten Transitzentren an der deutschen Grenze. Wie stark, würden Sie sagen, hat sich die Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren verändert, ja verschoben?
Sternberg: Ja, die Flüchtlingspolitik hat einen sehr, sehr hohen Grad bekommen, und was mich sehr betroffen dabei macht ist: Man spricht von Flüchtlingsflut und von ähnlichen Begriffen, die so klingen, als müsse man da etwas abwehren. Es geht aber um ganz konkrete Menschen. Es geht um ganz konkrete Schicksale. Und die vielen, vielen tausend nicht zuletzt in unseren Kirchengemeinden und Verbänden, die in den letzten Jahren Flüchtlingsarbeit gemacht haben, die wissen, dass jedes einzelne Schicksal ein einzelnes Schicksal ist und dass selbstverständlich jetzt auch die christliche Sozialethik sagt, dass darunter gute und schlechte Menschen sind, so wie es in jedem Menschen Gutes und Schlechtes gibt. Ich glaube, da hat es eine auch Übersteigerung der Thematik gegeben in einigen europäischen Ländern, die dazu geführt haben, dass populistische Gruppen da eine toxische Mischung aufbauen konnten. Schon dass die Begriffe Flüchtling und Sicherheit und Terrorismus zusammengenommen werden und Asyl, das ist wirklich eine gefährliche Verbindung.
Münchenberg: Nun sagt die Politik oder argumentiert so, dass sie letztlich nur das vollzieht, was die Bürger auch einfordern: mehr Sicherheit, mehr Schutz, weniger Flüchtlinge. Wenn man sich zum Beispiel den Ausgang der Wahlen in Italien anschaut, wo Populisten und eine Rechtspartei die Wahl gewonnen hat.
Sternberg: Nun ist es natürlich so, dass auch es zu den normalen menschlichen Gegebenheiten gehört, dass man eine gewisse Angst hat vor Fremdem, dass Fremdes und Fremde erst in einer Kulturleistung überwunden und die Angst davor überwunden werden muss und dass man irgendwie sich davor fürchtet. Ich glaube, das sind Gefühle, die werden ausgenutzt, aber die werden auch noch mal stark verstärkt durch eine ganz spezielle mediale Öffentlichkeit, bei der etwa durch die Internet-Algorithmen und die Internet-Verbindungen eine Selbstbestätigung von Menschen passiert, die nachher glauben, dass geradezu alles, was sie an Schwierigkeiten und Problemen erleben, auf Flüchtlinge zurückzuführen sei.
Münchenberg: Aber Sie sagen jetzt nicht, dass die Medien schuld sind an der Verschärfung der europäischen Flüchtlingspolitik?
Sternberg: Nein. Ich bin der Meinung, dass es ganz wesentlich, um es konkret zu machen, die sogenannten sozialen Medien sind, die über die Algorithmen des Internets zu einer Fehlinformation und Selbstbestärkung von Gruppen und Meinungen führen, die eine gefährliche Situation darstellt.
Münchenberg: Um es trotzdem noch mal konkret zu machen: Lässt sich jetzt auch die Bundesregierung, lassen sich CDU und CSU jetzt zu sehr auch von den Populisten treiben?
Sternberg: Nein, das tut sie ganz sicher nicht. Denn ich bin doch sehr froh darüber, dass die Bundeskanzlerin sehr deutlich gemacht hat, dass es mit nationalen Lösungen nicht mehr geht, dass man nur multilateral diese Fragen angehen kann und dass das jetzt europäisch diskutiert wird. Es ist jetzt zumindest ein Anfang gemacht. National geht das nicht und auch die bayerisch-österreichische Achse hat ja nur ein paar Tage gehalten.
Nein, es geht nur europäisch. Es geht nur gemeinschaftlich. Und man wird dann fragen müssen, wo kann man die Menschen unterbringen, wie soll das Ganze passieren und wer übernimmt welche Verantwortung und wo. Und das läuft auch sehr viel intensiver und ich bin der Meinung, vielleicht war das das Gute an diesem eigentlich recht überflüssigen Streit, der da jetzt abgelaufen ist, dass es noch mal auf europäischer Ebene intensiv diskutiert wird und dass Bewegung in diese Fragen gekommen ist. Und diese Bewegung, die merken wir ja allenthalben. Da ist sogar der ungarische Präsident, der zu Gesprächen nach Berlin kommt.
"Ich wundere mich manchmal über die merkwürdige Gefühlskälte"
Münchenberg: Der ungarische Ministerpräsident, genau. – Herr Sternberg, im Mittelmeer können trotzdem Rettungsschiffe jetzt nicht mehr auslaufen, werden am Auslaufen gehindert. Auch die Luftaufklärung wird behindert. Allein in den letzten drei Tagen sind über 200 Flüchtlinge ertrunken, ohne dass ein öffentlicher Aufschrei erfolgt ist. Wie ist das zu erklären?
Sternberg: Ja, ich wundere mich auch manchmal über die merkwürdige Gefühlskälte, die gegenüber diesem Thema existiert. Und zwar, weil wahrscheinlich alle untergründig wissen, dass wenn wir in Europa so weiterleben, wie wir leben, dass dann die Armutsflüchtlinge, also nicht nur diejenigen, die aus Kriegsgebieten kommen, sondern die aufgrund von bitterer Armut und von schlimmen Situationen aufbrechen, dass dieser Frage gar nicht Herr zu werden ist. Das weiß man wohl untergründig und wir werden diese Frage nach der Situation in den Herkunftsländern ganz anders und neu und intensiv diskutieren müssen, insbesondere Afrika.
Münchenberg: Jetzt noch mal ganz konkret bezogen auf die wachsende Zahl der Ertrunkenen im Mittelmeer. Warum gibt es hier auch keinen Aufschrei der Kirchen?
Sternberg: Einen Aufschrei der Kirchen gibt es durchaus.
Münchenberg: Aber er ist kaum zu hören.
Sternberg: Ich glaube, ich habe mich bei jeder Gelegenheit, wo ich mich zu Flüchtlingen geäußert habe, über den Skandal der ertrunkenen Menschen im Mittelmeer geäußert. Wir bestehen darauf: es ist eine humanitäre Frage. Es geht um humanitäre Fragen bei Flüchtlingen und es geht nicht um irgendein theoretisches Sachproblem, sondern es ist eine Anfrage an den Grad der Humanität unserer Gesellschaft.
"Anfrage an den Grad der Humanität unserer Gesellschaft"
Münchenberg: Aber es ist noch gar nicht so lange her, da hat zum Beispiel der Kölner Kardinal Woelki die Glocken läuten lassen, um an das Sterben im Mittelmeer zu erinnern, zu mahnen. Jetzt schweigen die Glocken, muss man sagen.
Sternberg: Wissen Sie, vorsichtig. Sie können ein solches Mittel auch nicht beliebig oft einsetzen. Wissen Sie, wenn da jedes Mal die Glocken läuten, wenn da wieder mal ein Schlauchboot abgesoffen ist, um es mal so drastisch zu sagen, dann kann sich so ein Mittel abnutzen. Der Skandal ist riesengroß, ohne Frage, und ich glaube, es ist auch sehr, sehr wichtig, dass wir, dass auch Sie im Rundfunk darüber berichten und zeigen auch, was da eigentlich passiert im Mittelmeer.
Wir trösten uns darüber weg, wenn wir jetzt in die Mittelmeer-Länder fahren, baden vielleicht dort im Meer. Wir trösten uns darüber hinweg, das nicht so gut zu sehen oder nicht so gut zu wissen. Aber wir werden uns mit diesen Fragen beschäftigen müssen, und zwar auch dann, wenn nicht die Flüchtlinge bei uns auf dem Sofa sitzen zuhause, sondern auch dann, wenn das Ganze in Lampedusa oder in Lesbos oder in Libyen passiert.
Münchenberg: Herr Sternberg, noch eine Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort. Sie sehen auch keine Notwendigkeit, dass zum Beispiel jetzt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, dass der sich auch noch mal stärker in der Öffentlichkeit äußert?
Sternberg: Ich sehe nicht, dass die Kirchen da nicht deutlich drauf hingewiesen hätten oder darauf hinweisen würden, und ich bin absolut sicher, dass da auch die Bischöfe genauso wie wir Laien diesen humanitären Kern einer nach außen so häufig als reines Sachthema geführten Diskussion nicht wieder betonen würden.
Münchenberg: Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg war das. Herr Sternberg, besten Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Sternberg: Danke schön! – Auch so! – Guten Tag.
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