Wie beten nach Auschwitz? Wie Theologie treiben nach Auschwitz? Diese Fragen beschäftigt die sensibleren unter denen, die Religion berufsmäßig reflektieren, seit 1945. Auch Jan-Heiner Tück. Er ist Dogmatik-Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Wien, der ältesten ununterbrochen bestehenden theologischen Fakultät der Welt. Sein neues Buch hat den Titel: "Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz". Gelesen hat es der Publizist Günther Bernd Ginzel aus Köln, der seit Jahrzehnten im christlich-jüdischen Dialog engagiert ist. Tück und Ginzel versuchen, das Einende und Trennende ihrer Positionen herauszuarbeiten.
Andreas Main: In diesen Sommer noch wird Papst Franziskus nach Auschwitz reisen. Das Verhältnis zum Judentum gehört seit 50 Jahren ins Zentrum katholischer Theologie - auch des päpstlichen Lehramts. Die Erinnerung an den Holocaust oder die Shoa, der massenhaften Ermordung von Juden durch ein deutsches Regime, das vom Gros der Deutschen zumindest geduldet wurde, diese gehört und gehörte für Johannes Paul II. ebenso wie für Benedikt XVI. oder Franziskus ins Zentrum theologischen Denkens, ebenso wie die Zusammenarbeit mit Juden heute.
Und um das Ganze nicht katholisch eng zu führen, auch große evangelische Theologen von Jüngel bis Moltmann haben sich gefragt: Wie können wir nach Auschwitz Theologie treiben? Das ist seit Jahren auch die zentrale Frage von Jan-Heiner Tück. Er ist Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Jan-Heiner Tück hat in diesem Frühjahr ein Buch vorgelegt, ein Buch mit dem Titel "Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz." Herzlich willkommen, Jan-Heiner Tück.
Jan-Heiner Tück: Danke. Ja.
Main: Herr Tück, Sie haben Ihrem Buch diesen poetischen Titel gegeben: "Gottes Augapfel". In diesem Titel klingt viel an. Erklären Sie uns bitte die Intention.
Tück: Ja, es ist für christliche Theologen nicht ganz leicht, die bleibende theologische Würde Israels zum Ausdruck zu bringen. Und die Metapher "Gottes Augapfel" scheint mir das sehr plastisch ins Wort zu bringen. Sie, also der Titel spielt an auf ein Wort des Propheten Sacharja, der mal gesagt hat: "Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an". Also Sacharja nimmt hier gewissermaßen die Position Gottes an. Das heißt, Formen antijüdischen Agierens, Formen des Antisemitismus laufen letztlich darauf hinaus: auf einen Anti-Theismus. Also: "Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an", sagt Sacharja. Und hier scheint mir die Tiefendimension, ja, des Geschehens zu liegen, das Sie vorhin angesprochen haben, also die Shoa von Auschwitz.
Main: Wie sich dieser Titel für Günther Bernd Ginzel anhört, was da bei ihm anklingt, das möchte ich gleich von ihm wissen, sage vorher noch, dass Ginzel seit Jahrzehnten im christlich-jüdischen Dialog engagiert ist. Er ist Publizist. Er fühlt sich vor allem liberalen Strömungen und Gemeinden im Judentum verbunden. Er ist Jahrgang 1946. Und er hat vor einem Vierteljahrhundert ebenfalls ein Buch herausgegeben mit dem Titel "Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen". Er hat das neue Buch von Jan-Heiner Tück auch gelesen. Der Titel "Gottes Augapfel", was löst der bei Ihnen aus?
Günther Bernd Ginzel: Na ja, dass wir merken, dass das im Grunde genommen eine Debatte der Vergangenheit ist, nicht die Theologie, nicht die theologischen Fragen, aber in den Argumenten sind wir, Christen wie Juden, auch noch sozusagen in der Diskussion von vor 20, 30, 40 Jahren. Wir sind, glaube ich, in den Konsequenzen weiter als in der Beantwortung der brennenden Fragen an die Theologie, an den Glauben, an Gott.
Main: Im Untertitel heißt es "Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz". Bruchstücke, das klingt bescheiden. Ein passender Untertitel aus Ihrer Sicht?
Ginzel: Ja. Ja. Wir haben alle keine umfassenden Antworten. Von daher finde ich den, A, mutig und B, zutreffend.
Main: Herr Tück, man könnte auch sagen Bruchstücke sind es deshalb, weil die meisten Texte basieren auf Texten, die Sie vorher und hier und dort veröffentlicht haben in den vergangenen 15 Jahren. Die binden Sie jetzt zusammen. Dieses Thema – es ist eines Ihrer großen Forschungsthemen seit 15 Jahren. Wie ist das bei Ihnen biografisch verankert?
Tück: Also ich weiß noch ziemlich genau, als ich Anfang der 90er Jahre in Tübingen in der Universitätsbibliothek saß und, ja, während des Studierens eine Pause machte und die Gedichte von Paul Celan, die ich mir gerade am Mensastand besorgt hatte, aufschlug und, ja, ich war wirklich zutiefst erschüttert – 'Tenebrae', 'Psalm' und andere Gedichte habe ich da gelesen und habe gleich gemerkt, hier wird in Sprache etwas zum Ausdruck gebracht, was eigentlich über die Sprache hinaus geht. Das ist eine von Verzweiflung, von Schweigen angereicherte Sprache, die gleichwohl nicht vergessen, nicht verdrängen, die genau sein will. Und das war für mich biografisch der Anstoß, mich dem Thema näher zuzuwenden. Und ich habe dann auch im Studium sowohl in der Theologie als auch in der Germanistik entsprechende Anstöße bekommen, sodass die Sache eine Kontinuität bis heute gefunden hat, natürlich auch mit Unterbrechungen.
Main: Sie sind Jahrgang 1967, muss ich dazu sagen. Herr Ginzel, Ihre Eltern haben den Völkermord überlebt. Sie sind nach der Befreiung 1945 im deutschsprachigen Raum geblieben – erst Innsbruck, dann Köln. Wo haben Sie als junger Mann die Kraft hergenommen, sich so intensiv in das hineinzubegeben, was so spröde als christlich-jüdischer Dialog bezeichnet wird?
Ginzel: Einfach aus der Erkenntnis heraus, dass man schlecht alleine in dieser Welt überleben kann und vor allen Dingen eben auch aus den Erzählungen der Überlebenden, die angefüllt waren natürlich mit der Verzweiflung und mit dem alles, was sie hinter sich hatten. Aber fast jeder von ihnen konnte wenigstens eine Geschichte erzählen von – wie es immer so schön hieß – den anderen, von denen, die geholfen haben, von denen, die ihren Abscheu über die Verbrechen geäußert haben. Das hatte mich sehr fasziniert. Außerdem war es ja auch eine Umgebung, die sehr stark nazistisch geprägt war. Die Fragen haben sich aufgedrängt in der Zeit, gerade nicht zuletzt auch in der APO-Zeit. Es waren die entscheidenden Fragen. Man lebte ja unter diesen Überlebenden und hat gesehen, wie sie sich bemüht haben, uns Kindern ein schönes Leben, ein möglichst sorgenfreies Leben zu vermitteln, wenn es ihnen auch nicht immer gelungen ist.
Wo war das Christentum in Auschwitz?
Main: So, jetzt haben wir ein wenig auch die biografischen Voraussetzungen geklärt. Sie sind zwei unterschiedliche Generationen. Kommen wir jetzt zum Buch. Wie ist es Ihnen ergangen, Herr Ginzel? Was ist Ihr Leseeindruck betreffend dieser 'Theologie nach Auschwitz'?
Ginzel: Ja, für mich war das natürlich eine Begegnung, eine Wiederbegegnung mit vielen, die ich ja gut kannte. Also mit Johann Baptist Metz war ich eng befreundet. Wir haben sehr, sehr intensiv zu diesem Thema gearbeitet, auch sind gemeinsam aufgetreten, sowohl auch in Münster usw. Und das gilt auch für andere. Ich habe einfach durch den Jahrgang das Glück, dass ich in diese Aufbruchphase eines Teils der christlichen Theologie, sowohl evangelisch wie katholisch gekommen bin - wobei die Reihenfolge schon evangelisch, katholisch zu nennen ist - wo man sich angefangen hat, oftmals am Anfang auch sehr angefeindet, kritische Fragen zu stellen. Wie konnte das passieren? Nicht irgendwo, sondern in einem Land der Hochkultur, in einem Land, das sich selbst als christlich bezeichnet – damals viel mehr noch als heute. Wo war das Christentum?
Und so war dann auf der einen Seite die Suche nach Leuchten, die sozusagen in der Dunkelheit ein Zeichen gegeben hat, wie Propst Lichtenberg und andere, oder Bonhoeffer, und auf der anderen Seite eben auch diese tiefe Verzweiflung. Man kann, glaube ich, die ganze Diskussion und das Verändern der ganzen Theologie nicht verstehen, wenn man nicht an die Verzweiflung denkt, die damals einen Teil, sowohl der überlebenden, also der älteren Theologiegeneration als auch der jüngeren erfasst hat. Was haben wir für eine Schuld auf uns geladen? Wie können wir damit umgehen?
Blinde Flecken
Main: Wo war das Christentum? Diese Frage an Herrn Tück. Warum ist es wichtig, diese Frage auch in 2016 immer wieder zu stellen?
Tück: Es ist deshalb absolut wichtig, sie zu stellen, weil es heute bereits wieder Tendenzen gibt, die, ja, hinter diese Lernprozesse zurückgehen, gerade im erzkonservativen Spektrum des Katholizismus. Es ist wichtig, zu sehen, was das Konzil, vor allem 'Nostra Aetate' bedeutet hat. Also 'Nostra Aetate' hat ein neues Kapitel aufgeschlagen im Verhältnis zum Judentum. Es hat Abstand genommen vom Antisemitismus. Es hat Anstöße gegeben, die antijudaistischen Spuren in der eigenen Tradition aufzuarbeiten und vor allem angeregt, nicht nur das Judentum als vergangene Größe, sondern eben auch als heutigen Dialogpartner in den Blick zu nehmen. Man könnte sagen, man hat den Weg eingeschlagen, von den Feinden hin zu Freunden, wenn das nicht schon zu viel und zu vereinnahmend gesagt ist. Aber man versucht jedenfalls, freundschaftlich-partnerschaftliche Verhältnisse einzunehmen.
Das heißt dann eben auch, darauf zu hören, was die anderen zu sagen haben. Das heißt eben, Erfahrungen auch aufzunehmen, ja, die Sperriges, Schmerzhaftes spiegeln. Und die katholische Kirche hat allemal Grund, sich die blinden Flecken spiegeln zu lassen und daraus zu lernen. Und das ist eben auch für die nachrückenden Generationen präsent zu halten, auch im Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen. Wir sind ja mit Phänomen konfrontiert, wo antisemitisches Gedankengut wieder salonfähig wird. Und da, denke ich, muss eine Theologie, die die Erinnerung an Auschwitz wachhält, zugleich ein waches, moralisches Sensorium entwickeln, um hier auch direkt zu intervenieren.
Main: Gerade auch mit Blick auf die Zukunft – Sie haben eben Strömungen innerhalb der katholischen Kirche angesprochen, die Sie als erzkonservativ bezeichnet haben, die zurückfallen hinter das, was katholische Kirche sich im Zweiten Vatikanum schon Beispiel schon erarbeitet hatte. Sie meinen ja offensichtlich die Piusbruderschaft, die Antisemiten in ihren Reihen hat. Die Frage an Sie: Welche politischen oder kirchenpolitischen Positionen gehen nach Auschwitz gar nicht mehr?
Tück: Ja, es geht nicht mehr, zu sagen, dass 'die Juden' pauschal, ohne Differenzierung gesagt, Gottesmörder sind. Es geht nicht mehr an, zu sagen, dass 'das Volk Israel die heilsgeschichtliche Funktion preisgegeben hat, dadurch, dass es den Messias nicht anerkannt habe'. Es geht nicht, zu sagen, ja, 'die Leiden der Juden sind die Strafen Gottes für die Nichtanerkennung' usw. Also dieses ganze Ensemble an negativen Stereotypen ist einfach theologisch nicht mehr aufrechtzuerhalten und es ist betrüblich, dass es auch im 21. Jahrhundert Strömungen gibt, die das wieder machen. Ja, also...
"Es wäre fatal, wenn Franziskus die Piusbrüder zurückholen würde"
Main: Sie haben in einem Essay in der Neuen Züricher Zeitung die Annäherung der katholischen Kirche an die Piusbrüder, die offensichtlich hinter den Kulissen, ja, nicht nur hinter den Kulissen, vorbereitet wird, haben Sie schwer kritisiert. Sie gehen davon aus, dass Papst Franziskus einen Fehler macht, wenn er diese 'antijudaistische Piusbruderschaft' – so bezeichnen Sie sie – in die katholische Kirche integriert.
Tück: Ja, ich hielte es für fatal, wenn Franziskus im Jahr der Barmherzigkeit, die Piusbrüder zurückholen würde in den Schoß der katholischen Kirche, ohne ihnen eine ganz klare theologische Selbstkorrektur abzuverlangen. Das wäre eine Verwechslung der Ebenen. Hier geht es nicht seelsorgliche Fragen der Barmherzigkeit, sondern hier geht es ganz klar um Lehrdifferenzen. Und neben dem Antijudaismus gibt es die Nichtanerkennung der Religionsfreiheit, gibt es Reserve gegenüber der Ökumene, gibt es eine absolut hierarchische Sicht des Papstamtes. Also kurz, die Weichenstellungen des Zweiten Vatikanischen Konzils werden wirklich mit hartnäckiger Widerborstigkeit abgelehnt, und das darf man in Rom nicht ignorieren.
"Die Piusbruderschaft ist Teil einer größeren fundamentalistischen Bewegung"
Main: Wie ist das in der jüdischen Welt angekommen? Oder ist das überhaupt in der jüdischen Welt angekommen, dass es diese Annäherung von Papst Franziskus an die Piusbrüder gibt, gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Annäherung des Papstes Benedikt XVI. an die Piusbrüder seinerzeit für einen riesigen Aufschrei gesorgt hat, als Bischof Williamson als Antisemit entlarvt wurde?
Ginzel: Ich glaube, man geht davon aus, dass die Piusbruderschaft mit ihrer Weltsicht, mit ihrer theologischen Weltsicht, die ja gar nicht sich von 'Nostra Aetate' bzw. vom Zweiten Vatikanum abgewandt hat, sondern die nie da angekommen ist. Das heißt, an ihnen kann man studieren, wie eine Kirche vor 1945 war, eine Kirche, von die der Wiener Historiker Friedrich Heer – auch einer meiner wunderbaren Freunde – der mich eben motiviert hat zu sagen: 'Mensch, das ist ja fantastisch mit solchen katholischen und evangelischen Geistern zu diskutieren und zu arbeiten. Da ist auch noch was anderes als Mord und Totschlag.' Und er hat das ja geprägt und hat gesagt: "Es führt eine direkte Linie von den brennenden Scheiterhaufen des Mittelalters zu den Krematorien von Auschwitz."
Und dies wollte nicht zuletzt – Stichwort 'das Zweite Vatikanum' – durchbrechen. Und das wird von den Fundamentalisten - und die Piusbruderschaft ist ja nur ein Teil dieser fundamentalistischen Bewegung, die es selbstverständlich auch im evangelischen Bereich gibt, die außerhalb von Europa zum Teil noch viel stärker ist, die machen das nicht mit. Die haben ihre Weltsicht von damals, die überhaupt nicht mehr hier und heute rein passt und man geht davon aus, dass in der Kurie viel Sympathie dafür ist, viel Sympathie wie zur Zeit des Dritten Reiches, als man Hitler in Kauf genommen hat, weil man sagte: 'Viel wichtiger ist der Kampf gegen die Bolschewisten und Kommunisten'.
Main: Um das Thema Piusbrüder, Antisemitismus in dieser katholischen Strömung abzuschließen: Was wäre sozusagen die Forderung, wie damit umzugehen ist?
Tück: Papst Franziskus müsste den Piusbrüdern abverlangen, dass die bleibende theologische Dignität Israels von ihnen akzeptiert wird, also Israel keine heilsgeschichtlich obsolete Größe. Dann müsste klar sein, dass - also Fellay, der führende Bischof der Piusbruderschaft hat neulich gesagt, 'die katholische Kirche hat mit der Shoa nichts zu tun. Also diese Geschichtsblindheit müsste überwunden werden und selbstkritisch an den eigenen Hypotheken des Antijudaismus gearbeitet werden, sodass dann eben auch eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe möglich wäre'. Aber das ist natürlich äußerst schwierig, wenn man die verhärtete Position der Piusbrüder im Blick hat.
'Slenczka-Debatte'
Main: Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Tag für Tag" aus Religion und Gesellschaft im Gespräch mit Jan-Heiner Tück, Dogmatiker aus Wien, und Günther Bernd Ginzel, Publizist aus Köln. Ähnlich wie die Frage rund um die Piusbrüder, ähnlich wenig binnenkirchlich ist die Frage, ob das Alte Testament zum biblischen Kanon gehören soll. Da gibt es besonders in der evangelischen Kirche, Stichwort 'Slenczka-Debatte', die Position, 'das Alte Testament sei für die evangelische Kirche nicht wichtig, sie sollte auf die hebräische Bibel verzichten'. Jetzt sage ich mal provokant an die Adresse von Ihnen, Herr Ginzel, vielleicht wäre das ehrlicher.
Ginzel: Also für die evangelische Seite im Grunde genommen nein. Das ist eine erstaunliche Sache. Das ist eine Position, die aus dem Umfeld der deutschen Christen, die dann mit wehenden Fahnen zu den Nazis übergelaufen sind, stammt. Ich will jetzt hier gar nichts gleichsetzen, aber die Kraft des Widerstands gegen die Nazis im Umfeld der Bekennenden Kirche, die wurde ja nicht zuletzt geschöpft aus der Verbundenheit mit der Hebräischen Bibel und der Tatsache, dass man sie nicht aufgab, denn damals hat ja schon ein Großteil der protestantischen Menschen und der Kirchen sozusagen das Alte Testament aufgegeben. Hier hielt man daran fest und diese Einheit war ihnen wichtig. Und ich muss ehrlich gesagt gestehen: In mir sträubt sich alles, diese Diskussion heute noch mal zu führen. Das ist eine Geschichte – lassen Sie ein paar Professoren, die finden immer irgendetwas, worüber sie sich streiten können. Das ist ja auch okay, aber ich glaube, das hat keinerlei Relevanz für die Kirche.
Ich glaube, der Protestantismus heute – und wie Sie wissen, bin ich mittlerweile 40 Jahre beim Kirchentag engagiert im Arbeitskreis "Christen und Juden", dem ich lange vorgestanden habe – das ist kein Thema, was die Massen bewegt, höchstens, indem sie Zaungäste sind einer intellektuell theologisch, auf hohem Niveau geführten Streitgeschichte. Aber ich glaube, wir als Juden, auch wenn es da andere Stimmen gibt – das ist nicht unser Thema, da ist die Zeit darüber hinweg – und wir haben ganz andere Fragen, ganz andere Herausforderungen als uns jetzt Gedanken zu machen: Wie steht die Kirche zum Alten Testament, zur Hebräischen Bibel?
"Theologiepolitisch naiv"
Main: Verharmlost Herr Ginzel da ein wenig diese Debatte?
Tück: Ja, wenn man Vorträge, ich sage jetzt mal, in der Erwachsenenbildung hält, begegnet man oft dem zähen Vorurteil: 'Ja, das Alte Testament, das ist der Gesetzesgott, der Gott der Gerechtigkeit und der Rache'. Ja, das hängt aber damit zusammen. Und der Gott des Neuen Testaments, der, der Liebe und Barmherzigkeit und dieses Wiederaufflackern der markionitischen Versuchung, also kanon-theologisch das Alte Testament vom Neuen abzutrennen, hat, denke ich, auch mit dieser falschen Sicht der Bibel zu tun. Deshalb ist es wichtig, hier ebenfalls Klarstellungen vorzunehmen, wobei, wenn man Slenczka gerecht werden will, sagen muss, dass er ja einerseits den veränderten Diskussionsstand der Theologie nach Auschwitz eigens argumentativ bemüht, weil er sagt, 'das Alte Testament ist ein Textkorpus, das gehört dem Judentum, das wollen wir dem Judentum bitteschön nicht wegnehmen'.
Das zweite Argument berührt die historisch-kritische Methode: 'Können wir das Alte Testament überhaupt noch, wie es die Tradition getan hat, auf Jesus Christus lesen?' Wenn wir ehrlich sind, können wir es als historisch-kritische Theologen nicht mehr tun. Wenn das Alte Testament aber nicht mehr von Christus spricht, ja bitte, warum müssen wir es dann noch im Kanon weitertransportieren? So argumentiert Slenczka. Und da muss man natürlich gegenhalten. Ich würde Herrn Ginzel sofort zustimmen. Das ist schon erstaunlich, theologiepolitisch naiv, weil, also gerade die deutschen Christen Vorstöße in diese Richtung gemacht haben, also dass er diese Belastung, historische Belastung des Themas gar nicht thematisiert hat, war schon erstaunlich. Die Argumente aber, die sind natürlich als solche diskussionswürdig und kann man jetzt nicht einfach, glaube ich, so vom Tisch wischen als nicht so wichtig.
Ginzel: Ich habe nicht gesagt, nicht so wichtig. Ich habe nur gesagt, nicht relevant. Es gibt viele Diskussionen, die geführt werden und die irgendwo vielleicht auch Sinn machen, die aber im Grunde genommen letztendlich keine Relevanz haben, denn das ist letztendlich ein völlig innerchristliches Thema, denn ich meine, es ist ja richtig, das zu erkennen – und das ist natürlich auch schon mal wieder ein Riesenproblem, dass es eine sehr freie Interpretation ist, wenn man sagt, 'hier steht ja in den fünf Büchern Moses und bei den Propheten, da war er ja schon angekündigt, das deutet ja auf Jesus hin'. Wenn man also jetzt sagt, nein, das ist nicht das Unsere, dann vergisst man natürlich das Entscheidende – in welcher Welt lebte denn Jesus selbst. Es ist überhaupt nicht die Frage, dass Jesus im Alten Testament, in der Hebräischen Bibel angekündigt wird. Es ist das Faktum, dass er in dieser Welt lebte, dass das sein Glaube war, und zwar der einzige, den er hatte. Und es war der einzige Bund, in dem er stand, und aus dem hat er heraus gelehrt, die Evangelien würden ohne das nicht existieren. Es ist nicht zuletzt auch eine Sprüchesammlung von Zitaten.
Das heißt, von daher weiß ich gar nicht, wie man sich dermaßen entheimaten kann. Und letztendlich ist es genau das, was eben schon mal vor mehr als einem halben Jahrhundert passiert ist. Heraus kommt dann der deutsche, arische Christus oder weiß der Kuckuck wer auf einmal. Es ist plötzlich die Beliebigkeit in der Interpretation der Figur Jesu da, und das hilft niemandem in der Kirche. Und von daher glaube ich, dass das in der heutigen Zeit auch keinen Erfolg mehr haben wird. Unabhängig davon, Herr Professor Tück, was Sie gesagt haben, dass es nach wie vor, trotz Jahrzehnten des Dialogs, diese abwertenden Urteile gibt, aber das hängt etwas mit der Argumentationsschwäche des Christentums zusammen und der christlichen Identität, dass man ein Negativbild braucht, um sich davon abzuheben und zu sagen: 'Aber wir sind doch der Fortschritt'.
Tück: Ja, vielleicht darf ich ein Zitat von Hans Urs von Balthasar bringen, der schon in den fünfziger Jahren geschrieben hat: "Sobald die Kirche die ungeheure prophetische Dringlichkeit des Alten Bundes einen Augenblick vergisst, sinkt sie sofort von ihrer Höhe ab, ihr Salz wird schal, ihr Christusbild nazarenisch, harnackisch, schließlich nazistisch." Ein, meines Erachtens, sehr starkes Zitat, was das Problem markiert, über das wir hier sprechen.
Main: Soweit Jan-Heiner Tück, Autor des Buchs "Gottes Augapfel: Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz". Rund 400 Seiten kosten 20 Euro und sind im Herder-Verlag erschienen. Morgen dann der zweite Teil dieses Gesprächs mit dem Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück und dem Publizisten Günther Bernd Ginzel. Dann geht es ans Eingemachte: an die Frage, warum jener Gott, an den Christen und Juden glauben, nicht eingegriffen hat in Auschwitz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.