Ende Juli wird Papst Franziskus das Vernichtungslager Auschwitz besuchen - so wie auch seine Vorgänger Benedikt XVI. oder Johannes Paul II. Auch große evangelische Theologen wie Eberhard Jüngel oder Jürgen Moltmann stellen die Frage: Wie können wir Theologie betreiben nach Auschwitz? Wie verändert diese singuläre Menschheitskatastrophe theologisches Denken? Darum geht es auch im neuen Buch von Jan-Heiner Tück. Er ist Dogmatikprofessor in Wien, eine der größten und renommiertesten katholisch-theologischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum. Das Buch hat den Titel: "Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz". Tück stellt sein Buch auf den Prüfstand - im Gespräch mit dem Kölner Publizisten Günther Bernd Ginzel, der sich seit Jahrzehnten im christlich-jüdischen Dialog engagiert.
Andreas Main: Was gar nicht mehr geht im Verhältnis von Juden und Christen im Angesicht einer Konfliktgeschichte, die unendlich viel Leid hervorgebracht hat - wir haben uns auf der eher politischen Ebene bewegt im ersten Teil des Gesprächs mit Jan-Heiner Tück und Günther Bernd Ginzel. Der eine Dogmatiker und Professor in Wien, der andere Publizist und engagiert im christlich-jüdischen Dialog. Anlass ist unter anderem die bevorstehende Papstreise von Franziskus nach Auschwitz, aber auch das Buch von Jan-Heiner Tück mit dem Titel "Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz". Nun im zweiten Teil des Gesprächs geht es ans Eingemachte. Jan-Heiner Tück, Sie zitieren den großen evangelischen Theologen Jürgen Moltmann mit dem Satz: "Der Judenmord war versuchter Gottesmord." Und Sie selbst sagen sinngemäß: 'Wer Juden angreift, tastet Gott selbst an.' Starke Sätze, die zunächst einmal ganz viel zu erklären scheinen, aber eigentlich dann doch auch nur Fragen aufwerfen. Welche Fragen aus Ihrer Sicht?
Jan-Heiner Tück: Ja, also vielleicht erst mal noch, warum mir das ganz wichtig zu sein scheint. Man hat sich ja unter Historikern, unter Soziologen die Frage gestellt: Was macht eigentlich die Singularität der Shoa aus? Und man hat die administrative Vorbereitung und quasi industrielle Durchführung des Massenmordes bemüht. Man hat Opferstatistiken verglichen, hat sogar festgestellt, dass die Stalinischen Säuberungen letztlich mehr Opfer usw. - und die Frage, die damit im Raum steht: Haben wir als Theologen eigentlich auch einen Beitrag zu dieser Frage zu leisten? Und mir schien, dieses Augapfelmotiv, ja, 'wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an' – so spricht Gott beim Propheten Sacharja, eine Spur zu weisen.
Und es gibt natürlich viele, die sich darüber Gedanken gemacht haben. Ich möchte nur noch George Steiner nennen, der mal gesagt hat: "Ja, die Juden sind letztlich die Erzeuger der Gottesidee gewesen, und dadurch haben sie Einspruch provoziert. Ein Gott, der uns quasi sieht, obwohl wir nicht gesehen werden wollen, der erzeugt Reserven." Das kann man bei den religionskritischen Stimmen sehen. Auch moralisch, das Judentum hat den Dekalog gebracht, also die Zehn Gebote, und domestiziert unsere Triebe, unsere Instinkte. Das ist auch unbequem. Kurz, dieses ganze Ensemble von Anstößen, die gleichzeitig die Überhangfragen sind, zeigt etwas von der Komplexität der Frage: Was hat eigentlich Auschwitz ermöglicht? Was ist da eigentlich singulär passiert? Und warum ist das auch heute absolut wichtig, die Erinnerung daran präsent zu halten, eben auch, um moralisch sensibel mit problematischen Tendenzen in der heutigen Zeit umzugehen.
Main: "Eine Auschwitz-unsensible Theologie ist nicht mehr möglich", so sinngemäß Johann Baptist Metz. Warum? Die Frage an Sie, Herr Ginzel.
Günther Bernd Ginzel: Weil man die Opfer noch einmal töten würde, ganz einfach, weil die Theologie mit Schuld hat, unabhängig von Personen. Ohne diese Theologie hätte es den nationalsozialistischen Antisemitismus in diesem Vernichtungswillen nicht gegeben. Die Nazis haben sich in ihrer Propaganda auf praktisch sämtliche Kirchenväter und Luther berufen können. Ihr Argument war – die Kirche sagt das seit anderthalb Jahrtausenden - "Die Juden sind das Unglück. Die Juden haben Gott gemordet." Gut, das letztere interessiert uns nicht so sehr, aber sie sind eine Gefahr. Und wir setzen nur in die Tat um, was seit langem kirchlicherseits gefordert wird. Das ist hier die ganz große Problematik, dass der Antisemitismus sich von einer "normalen, wenn auch schrecklichen Fremdenfeindlichkeit dadurch unterscheidet, dass er ein heilsgeschichtliches, christliches Gerüst hat". Das heißt, am Anfang stand nicht Judenhass.
Am Anfang stand die Konkurrenz zum Judentum und der Versuch, zu begründen, warum man Christ ist und nicht Jude ist, obwohl man letztendlich das Gleiche glaubt, aber einen neuen Weg zu Gott konzipiert hat, nämlich über Christus, den Gekreuzigten. Aber die Juden sind nicht verschwunden, wie man erwartet hat. Die sind geblieben und man kam in enorme Nöte der Selbstvergewisserung: Wenn die bleiben, wenn Gott sie nicht verschwinden lässt, ja, was ist dann mit uns? Wieso sind wir eigentlich der Neue Bund, wenn es den Alten Bund noch gibt? Wieso haben wir das Neue Testament, wenn das Alte Testament weiter in alter Lebendigkeit studiert wird? Diese existenziellen Fragen – und die sind in der Tat mit Auschwitz nicht zu Ende, aber nach Auschwitz hat man einen neuen Versuch gemacht.
"Theologisch mörderischer Judenhass"
Ich will das noch mal an einem Beispiel, das ich im Grunde genommen hasse, aber ein ausgesprochener Nazigegner war der Erzbischof von München, Kardinal Faulhaber - hoch geachtet, noch einer der klassischen Fürsten aus der alten Zeit. Der hat Widerstandspredigten gehalten, die bis heute in der katholischen Kirche zu Recht bewundert werden. Adventspredigten 1933 – da steht er auf und wettert gegen das Neuheidentum und wettert gegen diese Weltanschauung des Nihilismus und wettert gegen die Versuche, das Alte Testament zu diskriminieren oder gar aus der Kirche herauszunehmen.
Und in diesen Predigten sagt er: "Ich spreche, damit wir uns nicht falsch verstehen, ich spreche über die Juden vor Jesus. Zu den Juden heute habe ich nichts zu sagen. Da ist damals im Tempel der Vorhang zerrissen." Das sagt er nach dem ersten Judenboykotttag, nach den ersten großen Verfolgungswellen - und gibt im Grunde genommen die jüdischen Nachbarn damit preis. Das ist dieser theologisch mörderische Judenhass, eine verinnerlichte Form. Der Mann würde bestimmt sagen, er wäre kein Antisemit, aber er hat den Antisemiten unter den Nazis ein Alibi geschaffen.
Main: Ich habe eben gesagt, wir gehen jetzt ans Eingemachte. Wir müssen auch theologische Fragen besprechen. Wir müssen die Frage besprechen, die auch in Ihrem Buch "Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz" im Mittelpunkt steht. Warum hat Gott das zugelassen? Ja, haben Sie Erklärungsansätze?
Tück: Die Antwort darauf gibt es natürlich so nicht. Aber ich will eine nennen, die ich auch vorstelle und durchdiskutiere, das ist die Antwort von Hans Jonas, der selbst seine Mutter und Angehörige in Auschwitz verloren hat, der 1984 einen sehr eindrücklichen Vortrag an der Universität Tübingen gehalten hat, "Der Gottesbegriff nach Auschwitz". Jonas votiert hier dafür, das Allmachtsattribut fallen zu lassen.
Main: Gott ist demnach ohnmächtig.
Tück: Gott ist ohnmächtig. Er hat diverse Gründe. Also er entwickelt einen philosophischen Mythos. Der Kerngedanke ist der, dass Gott sich selbst im Akt der Schöpfung ganz an die Werdewelt weggegeben hat, sodass er der Welt nicht mehr gegenübersteht, sondern gewissermaßen in den evolutiven Prozess der Welt hinein verschliffen wird.
Main: Und wenn er ohnmächtig ist, dann ist er auch entschuldigt, dass er nicht eingegriffen hat.
Tück: Genau, das ist der Spitzensatz von Jonas: Nicht, weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, hat er nicht interveniert, und damit ist eigentlich eine perfekte Theodizee geleistet.
Main: Was halten Sie, Herr Ginzel, von diesem theologischen Ansatz, oder philosophischen Ansatz?
Ginzel: Ja, gut. Alle diese Dinge sind unglaublich schwierig, weil, wenn wir über Theologie nach Auschwitz diskutieren, diskutieren wir auch jüdisch über einen Bruch mit der Geschichtstheologie. Gott offenbart sich in der Geschichte – von Abraham angefangen, aber als - dann eben auch seit dem Exodus, dem Bundesschluss - dem Gott, der in die Freiheit führt aus der Sklaverei...
Main: Also ein personaler Gott, der in der Geschichte wirkt.
Ginzel: Ja, der in der Geschichte wirkt. Alle Generationen – nur Hiob wäre zu nennen – und andere haben darum gerungen: Wieso leiden die Gerechten? Wieso geht es den Bösen gut? Das war immer eine Frage an Gott. Da hat man gesagt, ja gut, wir haben als Menschen darauf keine Antwort. Wir nehmen es gläubig an. Das heißt: Unsere Liebe zu Gott manifestiert sich darin, dass wir zu Gott oder Gott treu bleiben, obwohl wir im Moment überhaupt nicht begreifen, was hier los ist und das alles als ein Riesenunrecht empfinden.
"Das Judentum lässt Zweifel zu"
Nur die Dimension von Auschwitz ist in einem solchen Ausmaß gegeben, dass es für mich völlig unmöglich ist, die Ermordung von einer Million Kinder als Prüfung zu definieren. Das haben vergangene Generationen eher getan und haben daraus viel Glaubenskraft gezogen. Heute ist diese Frage völlig offen und das Judentum bietet eine unendlich große Chance. Es lässt seit Abraham Fragen zu. Es lässt Zweifel zu. Das heißt, wir können als Juden gläubig bleiben, auch wenn wir Fragen oder sogar Anklagen an Gott haben.
Ich kenne Rabbiner, die sich weigern, das Kaddisch-Gebet, den großen Lobpreis auf Gott zu sprechen und haben gesagt: "Nach Auschwitz kann ich das nicht mehr." Ich kenne Menschen, die haben den Glauben in Auschwitz verloren. Ich weiß von Geschichten, wo Chassiden in Auschwitz begriffen haben, dass sie sterben werden und angefangen haben, sich auszuziehen und fröhlich zu sein, weil sie glaubten, ganz bald bei Gott zu sein, wenn sie jetzt sterben. Das heißt, hier müssen wir auch akzeptieren, dass es unterschiedliche Antworten gibt.
Aber ich sage noch einmal, durch alle Lager hindurch, ist das Wunderbare im Judentum – wie mir einmal der Oberrabbiner von Israel, Lau, Meir Lau erzählt hat, der die gesamte Familie verloren hat, zwei Drittel seines Städtchens sind ermordet worden, der gesagt hat: "Es bleiben Fragen an Gott. Wir preisen und wir loben ihn als Gerechten und den Barmherzigen. Und wir fragen: Warum warst du nicht gerecht? Warum warst du nicht barmherzig? Warum hast du nicht deinen Teil des Bundes erfüllt? Wir sind treu geblieben. Wir haben den Bund erfüllt. Wir sind bis ins Martyrium gegangen und sind als Juden verbrannt worden. Und Gott, wo ist dein Teil? Wo waren die Wunder, die du früher getan hast, jetzt, wo sie dringend notwendig gewesen wären?"
Damit hat man im Grunde genommen auch universale Fragen. Im Judentum ist man gewohnt, so was konkreter auszusprechen. Es sind Fragen, die, glaube ich, auch im Christentum weit verbreitet sein sollten.
Tück: Aber interessant ist ja, dass Jonas eine andere Richtung einschlägt. Er diskutiert ja das Allmachtsattribut im Zusammenhang mit der Verstehbarkeit und der Güte. Man könnte sagen, Gott ist unverständlich, er ist das dunkle Mysterium, das wir anklagen können. "Nein", sagt Jonas, "das kann ich als Jude nicht sagen. Gott hat sich mir bekannt gemacht und auch verstehbar gemacht. Ich habe die Tora. Das will ich ernst nehmen. Er muss also verstehbar sein. Er muss auch gut sein, denn eine dämonische Fratze will ich, bitteschön, nicht anbeten. Also ziehe ich die Konsequenz, lasse ich das Attribut der Allmacht fallen, ein leidender, ein ohnmächtiger Gott. Jetzt kommen natürlich gleich auch jüdische Kritiker, die sagen, 'Gott ist immer Herr der Geschichte gewesen, er muss es auch bleiben. Gerade um der Opfer willen brauchen wir das Allmachtsattribut. Die Lösung ist inakzeptabel.'
Ginzel: Ich würde dem widersprechen. Wir brauchen nicht einen allmächtigen Gott, der uns seit zweieinhalbtausend Jahren beweist, dass er zumindest mit seiner Allmacht nichts anzufangen weiß. Er gestaltet nicht die Welt. Entweder – das ist unser bleibendes Problem – entweder hat Gott den Menschen zu schwach oder die Welt zu schlecht gemacht. Aber ich habe keine Antwort darauf. Ich habe nur die Frage. Das Spannende ist ja, diese Frage stellen – und damit sind wir doch ganz dabei, sonst wäre ja Ihr schönes Buch nicht geschrieben worden – nein, wir gehen diesen Fragen nach. Das sind genau die Fragen. Und wenn man wirklich glaubt, nicht einfach nur sich in eine emotionale Ohnmacht versetzt, dann hat man diese Fragen, die einen bewegen, nachzudenken, ja, Gott zu suchen, wenn Sie so wollen. Und zum Beispiel, ich brauche diesen allmächtigen Gott nicht mehr und habe trotzdem kein Problem gehabt, als meine Mutter im Sterben lag, so wie alle anderen, nicht wahr, die Psalmen herauszuholen und zu bitten und zu beten und zu sagen: "Herr, hilf!"
Main: Wieso brauchen Sie als Dogmatiker den allmächtigen Gott? Das müssen Sie mal auf den Punkt bringen?
Tück: Das muss ich auf den Punkt bringen. Also ich würde sagen, es ist wichtig, an der Macht Gottes festzuhalten, um der Opfer willen. Damit die Täter nicht auf Dauer über die Opfer triumphieren, bedarf es einer Instanz, die Gerechtigkeit schafft. Insofern ist das Attribut der Macht mit Hoffnung versehen. Dennoch – und jetzt trennen sich gewissermaßen die Diskussionswege – habe ich als christlicher Theologe noch eine andere Möglichkeit. Ich kann sagen, dass die Anliegen von Hans Jonas, einen leidenden und ohnmächtigen, also auf der Seite der Opfer stehenden Gott zu denken, dass dieses Motiv über die Passion Jesu aufnehmbar ist. Also im Gekreuzigten hat Gott sich an die Seite der Geschlagenen der Geschichte gestellt.
Ginzel: Aber … also, ich akzeptiere das. Ich meine, ich wusste, dass das darauf hinausläuft. Ich meine, was wollen Sie als Christ anders machen?! Nur ich sehe hier ein großes Problem. Was hilft das den Geschlagenen und Leidenden? Was hilft es ihnen? Ich würde gerne haben, wenn Gott wirklich an der Seite der Leidenden steht. Was ich akzeptiere, da sind wir ja jüdisch wie christlich voll einer Meinung. Es reicht mir nicht. Hier haben wir wirklich, wie ich finde, einen ganz spannenden Unterschied, auch im Reden von Gott und über Gott und im Herangehen an das Thema. Christlicherseits hat man immer präsent das, aus meiner Sicht, Problem der Kreuzigung. Es ist irre schwierig. Warum muss die Erlösung über die Kreuzigung laufen? Warum muss sie über ein Opfer laufen? Warum konnte Gott nicht einfach sagen: 'Hallo, Leute, also jetzt passt mal auf, wir machen das ganz anders! Ich fange mal mit der messianischen Zeit an. Ihr wartet ja jetzt schon lange darauf.' Warum dieser komplizierte Weg? Das ist eine typisch jüdische Frage. Ich bitte um Entschuldigung.
"Die Passion Jesu und das Motiv der Compassio erscheinen mir wichtig"
Tück: Es gibt natürlich auf diese jüdische Frage auch eine jüdische Antwort. Es gibt natürlich auch das vierte Gottesknechtslied, wo genau quasi vorgespult ist, dass da einer für die anderen in die Bresche springt. Aber ich habe natürlich auch keine Antworten in dem Sinne, dass hier letztgültige Fragen beantwortet würden. Aber die Passion Jesu hat ein ganzes Ensemble an Motiven, die mir in dem Zusammenhang doch wichtig erscheinen. Einerseits das Motiv, dass man Gott nach Auschwitz - vorher schon nicht - als apathischen Zuschauer begreifen kann. Gott steht tatsächlich an der Seite der Leidenden. Also das Motiv der Compassio erscheint mir wichtig. Aber das ist nicht das Einzige. Es spiegelt zugleich auch die Schattenseiten verfehlter Freiheit.
Also das Kreuz ist zumindest in der christlichen Tradition immer auch als Spiegel von Schuld und Sünde begriffen worden - und man muss quasi durch diesen alles durchbohrenden Blick des Gekreuzigten hindurchgehen, um quasi den Weg der Umkehr durchlaufen zu können. Und, das wäre ein dritter Punkt, es bleibt nicht beim Kreuz, sondern in Golgota liegt zugleich die Verheißung auf Rettung, das österliche Motiv. Jetzt bleibt natürlich trotzdem Ihr Einspruch: "Kommt diese Rettung nicht immer schon zu spät?" Ein Dostojewski Einspruch. Darauf habe ich auch keine Antwort, sondern ich habe nur die Antwort, dass man diese Frage natürlich zu adressieren hat und weiter zu adressieren hat. Und da können wir als Christen auch von den Juden lernen, diese Fragen präsent zu halten, um eine überaffirmative Beantwortungstheologie immer wieder aufzurauen.
Ginzel: Ich akzeptiere das voll und ganz und finde das auch wahnsinnig spannend, dass es eben auch andere Wege zu Gott gibt. Juden missionieren ja nicht. Von daher haben wir damit auch gar kein Problem. Aber wir leben ja in einer Widersprüchlichkeit, die ich eben schon mal angedeutet habe. Wir haben die Fragen an Gott. Wir haben Zweifel an Gott. Trotzdem bleibt ja der Vater, oder wegen mir die Mutter im Himmel. Im Warschauer Ghetto haben sie gedichtet und gebetet: 'Ich glaube, ich glaube, ich glaube... Ich glaube still und fromm, dass der Messias kommt, auch wenn er auf sich warten lässt, glaube ich nicht weniger fest.'
Oder wegen mir im Priesterblock in Dachau oder in Auschwitz unter Lebensgefahr. Die Kraft des Glaubens – die Nazis haben ja erkannt, dass das für sie ein irres Problem sein kann. Es war lebensgefährlich, Eucharistie zu feiern in Auschwitz. Und trotzdem ist es geschehen. Also wir leben in dieser interessanten Weise. Wir sagen, da wo die Tora ist, ist Gott. Gott geht mit den Juden oder mit seinem Volk ins Exil. Das heißt, diese Überzeugung, er ist bei den Schwachen, oder auch der Traum von der Auferstehung von den Toten, er mag irrational sein. Ich bin darin aufgewachsen.
Ich habe erlebt, was es für die Überlebenden bedeutete, der Gedanke, vielleicht werden all die Toten, werden wir den trotzdem noch mal begegnen. Vielleicht wird irgendwie die Stimme – es gibt ein wunderschönes, altes deutsch-jüdisches Gebet beim Verlassen des Friedhofes: "Liebe Toten, jetzt lasse ich euch alleine. Aber irgendwann wird vom Himmel die Stimme ertönen: 'Stehet auf!' Und dann werdet ihr aufstehen und ihr werdet leben und ihr werdet eure Kinder und eure Eltern wiedersehen, und Familie zu Familie werden wir leben." Auch das ist Judentum. Und ich würde sagen, in dem Fall mit Sicherheit auch Christentum.
Tück: Ja, ich glaube, das hat das Christentum vom Judentum inzwischen auch gelernt, dass quasi mit Christus nicht alle Fragen beantwortet sind, sondern dass es einen Verheißungsüberschuss gibt, der genau in dieser Spannung anzusiedeln ist, dass schon eine gewisse Präsenz da ist, aus der wir leben, mit der wir sterben – hoffentlich auch können – und zugleich dieser Hoffnungsüberschuss, ja, auf Gerechtigkeit, Frieden im universalen Sinne.
Main: Wir müssen langsam zum Schluss kommen. Vielleicht darf ich Sie beide, mit Blick auch auf das Buch, auf diese "Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz" bitten, wechselseitig zu formulieren, was den anderen vom anderen trennt und was ihn verbindet. Wo sind da die Unterschiede?
Ginzel: Ich rede am liebsten, was uns eint. Uns eint natürlich, die aus der Bibel stammende, in den Evangelien sich widerspiegelnde Ethik - die Moral, dass wir sozusagen ein auf den Menschen hin ausgerichtetes Leben haben, einer Mitwirkung an der Erlösung und nicht nur ein passives Warten auf Erlösung.
Tück: Also der besondere Blick für den verwundeten, armen Mitmenschen, das ist sicher, was absolut gemeinsam ist. Und so, wie ein Jude vielleicht in seinem Leben zu einem möglichst authentischen Kommentar der Tora wird - und wenn er das wird, wird er zum Zeugen Gottes in der Welt - so ist es für den Christen wichtig, eine formpraktische Christusnachfolge zu finden, die inhaltlich eigentlich ähnlich unterwegs ist. Und die Hoffnung – ich mache jetzt noch mal einen großen Bogen – die Hoffnung wäre vielleicht die, dass die Messiaserwartung im Judentum, die natürlich auch viele Gesichter kennt, am Ende zusammenläuft mit der christlichen Parusie, also Wiederkunftshoffnung, und der Weg, der jetzt schon Schulter an Schulter gegangen wird, am Ende im Reich des himmlischen Vaters zusammengeht.
Ginzel: Wir haben nur das ganz große Problem, dass diese Welt im Moment völlig anders läuft und irgendwie aus den Fugen zu geraten scheint, und dass Tausende von Menschen im Namen wie auch immer eines zu definierenden Gottes sterben. Wie schaffen wir das, dass wir hier zu einem interreligiösen Aufbruch der Verantwortung kommen? Dass wir nicht einfach nur sagen können: 'Ja, das sind die ganz Bösen', sondern dass das auch etwas mit der jeweiligen Religion zu tun hat. Und von daher, glaube ich, ist es eben auch die große Begeisterung, weit über den katholischen Bereich hinaus, in Bezug auf Franziskus, und von daher auch die durchaus vorhandenen Hassgesänge gegen Franziskus, der hier auf einmal glaubwürdig nicht so das Dogma hochhält, sondern sagt: 'Wir gehen auf den Nächsten zu. Und dann schnappe ich mir einen Juden als Freund und ich schnappe mir einen Moslem als Freund, und mit denen gehe ich zusammen an die Westmauer, an die Klagemauer.' Das ist ein Zeichen, das wird auf allen Seiten gerne und ungern gesehen.
Main: Danke Ihnen beiden, Herr Ginzel, Herr Tück – der Publizist Günther Bernd Ginzel aus Köln und Jan-Heiner Tück, Dogmatikprofessor in Wien. Letzterer hat das Buch vorgelegt "Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz". Rund 400 Seiten kosten 20 Euro, sind im Herder Verlag erschienen. Danke Ihnen, Jan-Heiner Tück, dass Sie die Bereitschaft gezeigt haben, dieses Buch auch einem Disput auszusetzen und es im Dialog mit einer jüdischen Stimme, wie der von Herrn Ginzel, auf den Prüfstand zu stellen. Danke, dass Sie beide mitgemacht haben.
Tück: Gerne.
Ginzel: Danke.
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