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Christentum und Zivilisationsfortschritt
"In welch verwunderlicher Welt lebst du?!"

Das "Verschwinden von Religion" in der katholischen Kirche macht Arnold Angenendt am meisten Sorge. Religion müsse wieder "plausibel gemacht" werden, sagte der Münsteraner Kirchenhistoriker im DLF. Nur so könnten globale Grundübel wie Korruption und eine "unvorstellbare Kriegsbegeisterung" bekämpft werden. Arnold Angenendt gilt als einer der wichtigsten deutschen Kirchenhistoriker.

Arnold Angenendt im Gespräch mit Andreas Main |
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    Professor Arnold Angenendt - Priester, katholischer Theologe und Kirchenhistoriker (Jürgen Christ)
    Arnold Angenendt ist 1934 am Niederrhein geboren. Er war als katholischer Priester fast 20 Jahre lang Professor für Kirchengeschichte – und zwar an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Er war der erste, der mentalitäts- und sozialgeschichtliche Ansätze in die deutsche Kirchengeschichtsschreibung integriert hat. Sein Lebenswerk umfasst Bücher zum Frühmittelalter, zum Reliquienkult, zur Religiosität im Mittelalter. Aufsehen erregten auch die jüngsten Werke von Arnold Angenendt - vor allem: "Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert" sowie "Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum. Von den Anfängen bis heute". Legendär ist auch sein Vortragsstil: Arnold Angenendt erreichte Zuhörer weit über die Studierenden der Katholischen Theologie hinaus. Er füllte die größten Vorlesungssäle in Münster. Einer seiner Studenten war Andreas Main. Ein Gespräch über sein Lebenswerk.
    Andreas Main: Herr Professor Angenendt, ich erzähle kurz eine Geschichte über Sie, die aus meiner Sicht viel aussagt über Sie und Ihr Werk. Sie schreiben auch im hohen Alter weiter und weiter und Sie arbeiten auch an sperrigen Themen. Ich kann Ihren Verlag gut verstehen, dass er eines Ihrer Bücher über das mittelalterliche Messopfer zunächst nicht in einer Riesenauflage gedruckt hat. Was passiert? Ruckzuck – die erste Auflage ist vergriffen. Für mich ein Beleg dafür, dass es nach wie vor eine Öffentlichkeit gibt, die jenseits der Massenware, jenseits des publizistischen Weißbrots, dass es also Menschen gibt, die Schwarzbrot brauchen. Oder wie deuten Sie Ihre Erfolge?
    Arnold Angenendt: Also ich mache gar nicht solche Überlegungen. Ich mache, was mich interessiert, was mich anspricht. Das arbeite ich aus. Und mit einem gewissen Erstaunen stelle ich fest: Die Angenendt-Bücher haben alle ein oder zwei oder drei oder noch mehr Auflagen. Darüber kann ich mich natürlich als Autor nur freuen. Aber ich bin sachorientiert. Und wenn ich jetzt mit 81 Jahren noch ein Dankbarkeit zum Ausdruck bringen kann, dann ist es die: Angenendt, es interessiert dich immer noch, es rührt sich in dir, du hast immer noch Lust, am Wochenende ein dickes Buch zu konsumieren. Dafür bin ich in höchstem Maße dankbar.
    Main: Dazu passt auch eine andere Geschichte. Ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern können: Sie hatten in den 1980er-Jahren durchaus die Chuzpe, in Ihren überfüllten Vorlesungen den jungen Studierenden, die gerade an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Münster - dem Zeitgeist entsprechend und auch anderen prominenten Theologen folgend - stramm links waren, sowohl politisch als auch kirchenpolitisch und theologisch, denen haben sie damals gesagt: Statt Fernsehen zu gucken und die Tagesschau zu sehen, lest doch lieber 15 Minuten lang die Frankfurter Allgemeine Zeitung! Das hat sich in mein Hirn eingebrannt. Übertragen auf heute – was empfehlen Sie uns und Jüngeren heute? Oder halten Sie sich da eher zurück?
    Angenendt: Also ich habe nach wie vor kein Fernsehen. Ich lese viel Zeitung. Ich habe damals auch andere Zeitungen empfohlen – nicht nur die Frankfurter.
    Main: Und zwar?
    Angenendt: Die "Süddeutsche Zeitung" und "Die Welt", die habe ich immer mitgenannt. Ich lese selber aber die Frankfurter. Und ich habe das immer auch gewürzt mit folgendem, dass ich gesagt habe: Eine Zeitung bringt viel mehr als die Tagesschau. Eine Zeitung informiert zum Beispiel über Architektur in Deutschland, über moderne Architektur. Ich denke, ich kenne alle großen Architekten, ich kenne alle berühmten Gebäude in Deutschland. Die Zeitung bietet mir mehr, weitaus mehr als 15 Minuten Fernsehen.
    Main: Wobei wir jetzt im Radio sitzen - und manchmal gibt es auch Qualitätsradio und Qualitätsfernsehen.
    Angenendt: Ich habe eine Bekannte, die auch kein Fernsehen hat, die sehr interessante Radiosendungen hört und mich immer dazu verlocken will. Aber ich habe es noch nicht geschafft, weil mich die Bücher immer noch mehr interessieren.
    Main: Ein Rezensent hat mal geschrieben: "Hörte die Kirche beim Definieren von Traditionen, bei ihrer Dogmendrescherei auf Priester und Theologen wie Angenendt, würde sie feststellen, ihre eigene Geschichte wäre als Jungbrunnen belebender als ihre Dogmatik." Ehrt Sie so ein Satz?
    Angenendt: Den nehme ich zur Kenntnis. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sozusagen das Dogma auflösen wollen. Es gibt bestimmte Grunddinge, Grundzüge im Christentum, die halte ich für so wesentlich, dass ich nicht davon abweichen möchte. Man tut es in der Praxis natürlich auch. Aber das ist mir zu wesentlich, um da eine Verhandlung zu führen.
    Main: Aber andere Phänomene sind historisch gewachsen. Welche Entwicklungen oder Reformen in der katholischen Kirche sollten vielleicht auch gerade unter Papst Franziskus aus Ihrer Sicht – auch aus der kirchenhistorischen Perspektive heraus – angestoßen werden?
    Angenendt: Also mein Gedanke ist folgender: Das Phänomen Religion muss bei uns neu plausibilisiert werden. Ich meine damit folgendes: Jeder Mensch muss am Ende seines Lebens feststellen, dass er mit seinen Vorstellungen von Glück und Seligkeit irgendwie scheitert. Und wenn dann die Hoffnung fehlt, es kommt noch etwas, es kommt die eigentliche Vollendung erst nach dem Tod, dann verliert das Leben schon seine Kraft vor dem Tod. Ein zweiter Gedanke, den Martin Walser hervorgekehrt hat: Ein Atheist, ein bekennender Atheist, weiß nicht, was ihm fehlt. Ihm fehlt die Hoffnung, dass das, was jeder Mensch in seinem Leben mal verkehrt gemacht hat und was unwiederbringlich nicht mehr gut zu machen ist, das belastet uns. Je empfindlicher unser Gewissen ist, desto empfindlicher bedrückt uns die Schuld, die wir anderen gegenüber begangen haben. Man stelle sich vor ein Leben ohne Gewissen, ohne Gewissenhaftigkeit – nicht denkbar in der heutigen Welt. Der Krieg, die Kriegsbegeisterung – es ist doch unvorstellbar. Ich würde sagen, das Phänomen Religion plausibel machen, wie es nur eben möglich ist. Das ist meine generelle Überlegung.
    Main: Sie sind jetzt keiner der einschlägig bekannten – ich sage mal – linkskatholischen Kirchenkritiker oder Reformer. Dennoch, welche Tendenz in der Kirche, der Sie mehr als 50 Jahren als Priester dienen, macht Ihnen am meisten Sorge?
    Angenendt: Eben das Verschwinden von Religion.
    Main: Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft" im Gespräch mit Professor Angenendt, emeritierter Kirchenhistoriker in Münster. Sie haben auch ein bahnbrechendes Werk zum Thema Gewalt im Christentum geschrieben. Erinnern Sie sich noch, was damals für Sie der Auslöser war, sage und schreibe 800 Seiten zu schreiben mit dem Titel "Toleranz und Gewalt – Das Christentum zwischen Bibel und Schwert"?
    Angenendt: Ja, kann ich persönlich berichten. Ich bin mit Franz Kamphaus befreundet, der frühere Bischof von Limburg. Wir waren zusammen auf einer Schule, wir waren zusammen im Priesterseminar, wir haben mal Tür an Tür gewohnt, wir waren zusammen Assistenten. Er wurde dann Bischof und ich bin dann also Professor geworden.
    Main: Sie sind auch vom Typus her ähnlich.
    Angenendt: Mag wohl sein. Und dann habe ich ihm mal erzählt meine Vorstellung von Gewalt im Christentum. Daran arbeite ich im Übrigen jetzt weiter, und ich komme zu ganz überraschenden neuen Ergebnissen. Und dann hat er mit gesagt: Arnold, jetzt schreib da doch endlich mal ein Buch drüber. Dann kam der Artikel von Schnädelbach in der Zeit im Jahre 2000: Das Christentum ist an allen Verbrechen Schuld, so ungefähr. Da hat der Schnädelbach mir einen handgetippten Brief geschrieben, er möchte nicht als billiger Aufklärer erscheinen, er würde meine Argumentation akzeptieren. Daraufhin habe ich mich hingesetzt und das Buch über "Toleranz und Gewalt" geschrieben.
    Main: Alle, die es gelesen haben, sind sich einig. Jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, kommt um das Buch nicht herum. Sie wollen zeigen, dass Monotheismus und christliche Kirchen eine Reihe von Fortschritten brachten. Letztlich hätten moderne Toleranz, Individualismus und Rechtsstaatlichkeit ihre Wurzeln darin, wären sozusagen christlich vorbereitet. Woran machen Sie das konkret fest?
    Angenendt: Also, ich mache das fest an der Unterscheidung der Kulturen des Herzens und der Kulturen des Verstandes. Zum Beispiel Assmann und solche Leute machen das. Die Kulturen des Herzens sind in Ägypten geboren worden, das geht ins Alte Testament ein. Das Herz ist das Kernwort der Bibel – "Du musst Gott aus ganzem Herzen lieben", sonst ist es minderwertig, dann kann Gott es gar nicht annehmen. Und Augustinus, bei dem wächst die Nennung des Herzens von Null bis ins Unendliche. Insofern ist das Herz der Kern des Christentums. Aber Jesus übernimmt dieses Grundgebot aus dem Alten Testament und macht eine griechische Zutat. Nämlich er sagt: du sollst Gott lieben mit ganzem Herzen und – so kann man auch übersetzen – mit deinem ganzen Verstand. Das ist die Geburt der Theologie. Du musst Gott mit deinem Herzen lieben, aber der Verstand muss auch irgendwie mit beteiligt sein. Das sind die Kulturen des Verstandes. Die Antike Welt ist eine Kultur des Verstandes gewesen. Gott ist Verstehen, ist Logos. Aber wie es mit dem Herzen bestellt ist, das kann man daran sehen, dass die Antike keine Sozialverantwortung herbeigeführt hat. Deswegen leite ich aus unserer Geschichte zwei Grundformulierungen ab. Die Kultur des Herzens hat zum Sozialstaat geführt, und die Kultur des Verstandes hat zum Rechtsstaat geführt. Das römische Recht ist absolut säkular, da kommt überhaupt Religion gar nicht vor. Und diese beiden Ergebnisse – davon zehren wir.
    Ich bewundere den Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit – was das bedeutet, erfahre ich selber persönlich jetzt, in dem ich doch sehr oft die Medizin in Anspruch nehmen muss. Mit viel Akkuratesse, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Zuverlässigkeit wird hier gearbeitet – ich kann nur sagen: großartig. Und dafür bin ich im Grunde tief dankbar. Ich bin kürzlich zu einer Stelle hingefahren, wo ich am 10. Februar 1945 mit meinem jüngeren Bruder fast von einer Granate zerrissen worden wäre. Wenn man das mal erlebt hat, dann denkt man über sein Leben nach 1945 total anders. In welcher verwunderlichen Welt lebst du?
    "Das ist Religionsfreiheit: freier Eintritt und freier Austritt"
    Main: Gleichzeitig gibt es in dieser verwunderlichen Welt auch so etwas wie eine Rückkehr extremer Gewalt. Manch einer interpretiert das so, dass es gerade monotheistische Religionen sind, die eine Neigung dazu haben, Überzeugungen mit Gewalt durchzusetzen – so nach dem Motto: Unser Gott ist der einzige! Der hat uns etwas offenbart, das müssen wir jetzt auch durchsetzen. Also – was halten Sie von dem Vorwurf an die Adresse der Offenbarungsreligionen, sie würden Gewalt befeuern?
    Angenendt: Das hat es gegeben. Aber der erste christliche Ansatz ist ein gänzlich anderer. Ich zitiere zum Beispiel Laktanz, ein Konvertit um 300. Der sagt: Gott will nur vom Herzen her verehrt werden. Zwangsbekehrung, Zwangsmission – völlig verfehlt. "Und du Mensch sollst gar nicht zürnen über die Leute, die Gott nicht verehren." Das ist Religionsfreiheit: freier Eintritt und freier Austritt. Da wird zwischenmenschliche Gewalt, wie sie heute im Islam praktiziert wird beim Austritt, einfach negiert. Das bezeichne ich als urchristliche Toleranz. Da gibt es nicht den absoluten Anspruch. Da gibt es nicht den absoluten Anspruch auf unbedingte Gefolgsamkeit. Freier Eintritt, freier Austritt. Insofern denke ich, hat das Christentum ein großes Erbe in Richtung Religionsfreiheit.
    Main: Und genau darüber stärker nachzudenken, das wäre aus meiner Sicht der dringende Appell an alle monotheistischen Religionen, die Wurzeln der Freiheit in der eigenen Tradition wieder festzustellen. Khorchide macht das gerade hier in Münster für den Islam. Ist womöglich zu wenig gemacht worden, die Freiheitstradition zu bedenken.
    Angenendt: Ich habe Quellen gefunden, wo gesagt wird, diejenigen, die man als vermeintliches Unkraut vorzeitig ausreißt, die können im himmlischen Vaterland über den Ausreißern stehen. Das muss man sich mal vorstellen. Das kippt um im 13. Jahrhundert. Da verliert sich diese Toleranz. Thomas von Aquin stimmt also zu, dass man Ketzer verbrennen dürfe. Und Luther stimmt dem auch zu. Erst die Aufklärung gräbt das wieder aus.
    Main: Von Ihrer jüngsten Arbeit über Ehe, Liebe, Sexualität, die im vergangenen Jahr erschienen ist, über das Opus Magnum zu Gewalt und Toleranz bis hin zurück in die 1980er Jahre, in denen Sie die größten Hörsäle in Münster füllten – Sie haben immer herausgearbeitet, dass das Christentum beigetragen hat zum zivilisatorischen Fortschritt. Kann man das so sagen - oder ist das zu kurz gefasst?
    Angenendt: Also, ich drücke es mal so aus. Darf ich einen längere Geschichte erzählen? Als ich meine Dissertation schrieb vor 40 Jahren, habe ich tagelang Quellenbände gewälzt, wo Genesis 12,1 – Gottes Befehl an Abraham, ziehe fort aus deiner Welt – ausgewiesen ist. Das kann man heute mit einem Knopfdruck in zwei Minuten erledigen. Man hat alle Quellen parat, wo die Stelle Genesis 12,1 vorkommt. Dieser Fortschritt ist durch das Christentum, was das Denken und Buchwesen angeht, erheblich mit vorangetrieben worden. Also ich erzähle eine Geschichte, die habe ich wahrscheinlich früher auch erzählt. Ein Mönch im französischen Meaux weiß: In Reims gibt es eine bestimmte Augustinus-Schrift. Die wollte er haben. Die konnte er natürlich nicht per Knopfdruck kriegen, er musste nach Reims hin, weil die Mönche die ja nicht ausleihen wollten. Dann beschreibt er, wie er über eine Brücke reiten musste und das Pferd scheu wurde, um endlich an diese Handschrift in Reims zu kommen. Die Buchverehrung im Christentum ist eindeutig ein Ergebnis des Nachdenkens über den Glauben. Die Universität Paris fing mit 1200 Codizes an und die hat dann natürlich das Buchwesen enorm vervielfältig. Aber der Islam ist streckenweise, zeitweise in einer viel besseren Position gewesen. Der Islam hat sich von Arabien nach Bagdad verlagert. Und in Bagdad sollen Bibliotheken gewesen sein mit Hundertausenden von Schriftrollen. Die Islamleute haben sich ja von den Nestorianern - den Christen - den Aristoteles und die ganze griechische Philosophie übersetzen lassen, was dann Thomas von Aquin in Neapel wieder ins Lateinische übersetzen lässt – aus arabischen Quellen.
    Warum gibt es unter Menschen Hass? Das ist ja nicht zu erklären. Und zwar Hass, der aktiv betrieben wird, dass Leute gequält werden, erschossen werden, dass Leute Freude daran haben. Was das bedeutet, auf ein Programm verpflichtet zu werden. Die Liebe ist das allererste und nicht Hass. Fange an zu lieben und tue alles, was du kannst. Ich könnte Beispiele erzählen – auch von 1945, wo englische Soldaten human mit der zivilen Bevölkerung umgingen. Also Nachbarstochter war irgendwo auf einem Bauernhof. Die Mutter. Und da setzen die Wehen ein – in den Kämpfen. Jeder Hof wurde praktisch mehrere Tage lang umkämpft. Da kommen die Engländer in den Keller. Und was tun die Engländer? Sie funken ihre Rot-Kreuz-Leute herbei. Die Frau, bei der die Geburtswehen eingesetzt hatten, die wurde in einen offenen Panzerwagen gesetzt und zum Verbandsplatz gefahren und entbunden. Ich habe die junge Frau, oder jetzt alte Frau inzwischen, gefragt – "ja, ja es stimmt so, es ist richtig so. So war es bei meiner Mutter." Diese Art von Grundhumanität, die wünsche ich mir dringlich für alle Menschen, wo immer sie sitzen und wo sie sich herumtreiben und wes Geschäft sie betreiben müssen. Die Korruption ist eine der größten Gefährdungen der Menschheit - und wie schrecklich ist es mit der Korruption in der Welt!
    Main: Sie haben noch ein Büro an der Universität, sie forschen weiter, sie sind engagiert, obwohl Sie über 80 Jahre alt sind. Die Lehrverpflichtungen sind jetzt entfallen, okay, aber solche Großprojekte – man muss ja mal nur in die Literaturliste oder in den Anmerkungsapparat ihrer Bücher schauen – das sind Anstrengungen sondergleichen. Wo nehmen Sie die Kraft her?
    Angenendt: Weiß ich gar nicht. Ich habe Lust daran. Mehr nicht. Also wenn ich ein Wochenende habe und habe mir nicht ein paar Bücher besorgt, dann bin ich unglücklich.
    Main: Vielleicht kann unsereins ja von Ihnen lernen auf dem Weg ins Alter. Mal eine lebenspraktische Frage: Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
    Angenendt: Der sieht aus, dass ich jetzt mehr schlafen muss, dass ich morgens nach dem Frühstück erst mal Zeitung lese. Zwischen 9 und 10, meistens um 10 Uhr in die Uni fahre, gucke, was meine Leute machen, da arbeite. Dann mache ich nachmittags eine Mittagspause bis 3 Uhr, dann trinke ich einen Kaffee und fange wieder an zu lesen. Und ich muss sagen, ich bin tief dankbar dafür, dass mir das Lesen, das Eingeführtwerden in neue Gedanken – ach, das hast du bisher ja noch gar nicht richtig so gesehen, wie dumm warst du, dass du das nicht berücksichtigt hast – da bin ich natürlich absolut glücklich drüber, das ist meine Lebensfreude.
    Main: Wenn Sie zuletzt, wie eben im Jahr 2015 über Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum schreiben, dann nehmen Sie sich selbstverständlich auch die theologischen Positionen vor. Aber – und das macht wohl Ihr Werk so besonders – Sie konfrontieren diese Gedankengebäude mit demographischen Entwicklungen oder wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten. Wie kam es ganz am Anfang dazu – zu diesem Ansatz. Gab es da einen konkreten Auslöser?
    Angenendt: Ja – gab 'nen Auslöser. Und zwar meine Kontakte zur französischen und amerikanischen Geschichtsschreibung. Ich bin ein halbes Jahr in Paris gewesen. Ich bin zu Duby ins Seminar gegangen.
    Main: Georges Duby.
    Angenendt: Georges Duby. Und ich war ein Jahr in Princeton, im Institut for Advanced Study unter Giles Constable. Und da habe ich gelernt, die traditionelle Kirchengeschichte: Also, auf einmal im 12. Jahrhundert erscheinen da Gelehrte. Dass das eine sozial-ökonomische Grundlage hat, dass Städte da waren, dass eine Wirtschaftskraft da war, die Spinner unterhalten konnte und so weiter, das alles wurde gar nicht mit berücksichtigt. Und das ist mein Ausbruch aus der traditionellen Kirchengeschichte. Deswegen gibt es für mich keine Kirchengeschichte, keine Ideengeschichte, die frei schwebend herumschwirrt, sondern das muss immer rückgebunden werden an soziale, bildungsmäßige Voraussetzungen.
    Main: Also Kirchengeschichte nach Angenendt ist nicht mehr Kirchengeschichte wie vor Angenendt?
    Angenendt: Also so was werde ich natürlich nie sagen. Aber ich kritisiere jedenfalls die Leute, die wieder in das alte Schema zurückfallen und ohne Sozial-, Wirtschafts- und Bildungsgeschichte Theologie- und Kirchengeschichte treiben wollen.
    Main: Was hoffen Sie, was wird bleiben von Ihrem Werk? Oder anders gefragt: was wünschen Sie sich von Ihren Schülern, was sollten die weiterführen?
    Angenendt: Also, das kommt mir fast ein bisschen zu eingebildet vor. Darüber entscheidet die Zukunft. Ich habe eine Reihe von Schülern und Schülerinnen, die den Angenendtschen Ansatz irgendwie fortsetzen – aber auch weiterentwickeln. Ich habe von allen Leuten, die bei mir habilitiert worden sind, verlangt, dass sie einmal im Ausland sein müssen, um andere Forschungsrichtungen und andere Mentalitäten kennenzulernen. Ich habe den allen gesagt: Wenn ihr nicht mehr bringt als der Angenendt, dann habt ihr das Salz in der Suppe nicht verdient.
    Main: An welchen Punkten muss denn Ihr Forschungsansatz weiter entwickelt werden? Etwas, was Sie womöglich eben nicht mehr tun können.
    Angenendt: Nein, das kann ich auch selber gar nicht übersehen. Ich denke, jede Generation sucht Neues und fühlt sich auch von neuem herausgefordert und treibt diesen Ansatz dann auch noch weiter fort.
    Main: Professor Arnold Angenendt, es ist unmöglich Ihr Lebenswerk in 20, 25 Minuten auf den Punkt bringen zu wollen. Deswegen die Frage an Sie: Haben wir etwas vergessen, was Ihnen wichtig war?
    Angenendt: Fällt mir jetzt im Moment nichts ein. Also wenn ich die Schlussbemerkung machen soll: Ich bin ein religiöser Mensch, und ich bin hoffentlich ein Mensch, der den Verstand benutzt. Das sind meine beiden Antriebe.
    Main: Und Sie erhoffen sich auch von der Kirche, von den Kirchen, von den Religionsgemeinschaften, dass sie Religion wieder stärker in den Mittelpunkt stellen – jenseits von Politik etc.
    Angenendt: Würde ich dem zustimmen.
    Main: Das hätte welche Folgen?
    Angenendt: Das hätte Folgen. Das kann ich am besten mit einem Bild von Titus, von Rembrandts Sohn Titus erläutern: Der Titus soll eigentlich Schularbeiten machen. Aber der Titus hat sein Kinn auf den Daumen gestützt; und der Titus schaut irgendwie ins Undefinierbare. Der Titus ist weg. Wenn man von einem Konzert richtig ergriffen wird: Was, zwei Stunden hat es gedauert?!? Man war in der Zeitlosigkeit und in der Glückseligkeit. Und das ist der Antrieb von Religion. Und jetzt sagen Sie mir mal, wo ein Gottesdienst ist, wo wir das sonntags erleben. Und das möchte ich wieder hergestellt sehen.
    Main: Zwei Stunden weg.
    Angenendt: Ja.
    Main: In der Transzendenz.
    Angenendt: Irgendwo. In Glücksseligkeit und Zeitlosigkeit. Das ist der Antrieb von Religion. Du kannst Zeitlosigkeit erreichen, du hast schon einen Vorgeschmack von dem, was Ewigkeit ist. Und das ist Glückseligkeit.
    Main: Arnold Angenendt – Priester, katholischer Theologe und Kirchenhistoriker. Ein Mann, der viele beeinflusst hat mit seinem Denken. Ich danke Ihnen für alles, von der Exkursion über die Examensprüfung, über ihre Bücher und auch für dieses Gespräch. Danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.