Christiane Florin: "Imagine, there’s no heaven", singt John Lennon, und viele singen mit in der Hoffnung, dass eine Welt ohne Religionen, ohne gottgesteuerten Himmel besser wäre. Wäre sie besser, Herr Gronemeyer?
Reimer Gronemeyer: Das, was wir im Moment sehen, ist, dass wir in einer Welt leben, die den Himmel abgeschrieben hat. Da ist die Frage, was ist an die Stelle getreten? Mein Eindruck ist, dass es vor allem der Markt ist, der Ehrgeiz, der Erfolg, die Konkurrenz. Das klingt für meine Ohren nicht so, als würde das Verschwinden des Himmels die Welt sehr viel besser gemacht haben.
Florin: Wie kam der Himmel in die Welt?
Gronemeyer: In allen Kulturen, bei allen Menschen, ist die Frage aufgetaucht: Wie ist es zu der Welt, wie ist es zu mir gekommen? Deswegen gibt es in allen Kulturen, die wir kennen, so etwas wie eine Erzählung über die Schöpfung. In unserer abendländischen, antiken christlichen Kultur gibt es da ganz viele Geschichten. Für mich ist immer sehr einleuchtend diese Theorie, dass der blaue Himmel bei den Menschen die Frage hat aufkommen lassen: Warum ist es da oben blau? Eine der Theorien besagt, das sei alles Wasser da oben. Deswegen die Angst, dass der Himmel brechen könnte und eine neue Sintflut die Welt hinwegschwemmt.
Himmel als Ort des Friedens
Florin: War der Himmel immer schon friedlicher als die Welt?
Gronemeyer: In den meisten Kulturen, ob das die chinesische ist oder die griechische, ist die Vorstellung, dass da die Schönheit, die Harmonie, alles das, was uns auf Erden manchmal fehlt, dort oben angesiedelt ist. Von daher ist im Vordergrund die Idee, dass der Himmel der Ort des Friedens ist. Die vorderorientalische Tradition - die Welt verstanden als Kampf zwischen dem bösen und dem guten Gott - hat die Idee hervorgebracht, dass sich zwei Mächte gegenüberstehen, die sich bekämpfen und bei denen noch nicht klar ist, wer den Sieg davon trägt. Das ist etwas, was den Himmel in den Zwiespalt reißen kann. Ich finde die Schöpfungsgeschichte schön, die aus Zentralafrika stammt. Bei der Frage: Wie kommt es zu Himmel und Erde? Am Anfang soll ein großer Kürbis gewesen sein, in den ein Paar eingebettet war. Das Paar hat Streit bekommen, der Kürbis ist auseinandergeplatzt und daraus sind dann Himmel und Erde entstanden. Auch das ist nicht so ganz harmonische Geschichte.
Florin: Sie haben zwar auch evangelische Theologie studiert, aber sind hauptberuflich Soziologe. Da würde man ja erwarten, dass Sie sich als Soziologe auf die Gesellschaft auf Erden konzentrieren. Wie kamen Sie dazu, ein Buch über den Himmel zu schreiben?
Gronemeyer: Einerseits wollte ich gerne wissen, was da passiert, dass die Menschen heute mit einem ganz anderen Blick in den Himmel schauen, mit einem ganz anderen Blick. Früher, in der griechischen und lateinischen Antike und im Mittelalter, war der Blick in den Himmel der Blick an einen Ort, an dem man Schönheit und Harmonie sehen konnten. Wenn man sich vorstellt, wie der Blick heute in das Firmament ist, dann ist es so, dass man dort Spiralnebel, Unendlichkeiten und gekrümmte Räume sich vorstellt, also eine völlige Verweltlichung dieses Blicks. Dieser Unterschied hat mich interessiert.
Florin: Sie trauern dem Himmel regelrecht nach. Ihr Buch ist voller Wehmut. Der Himmel als verlorener Ort, als entzauberter Ort . Warum diese Trauer?
Gronemeyer: Wenn es so ist, dass wir uns sehnen nach einer friedlichen Welt, dass wir uns sehnen danach, dass etwas über uns hinausweist, dass wir nicht in der schieren, nackten Endlichkeit und Unfriedlichkeit uns einrichten müssen, dann ist der Himmel in vielen Religionen die Idee und die Hoffnung, dass es anders sein könnte. Das ist für mich etwas Unaufgebbares, das in dem Wort Himmel in den unterschiedlichen Zeiten und Kulturen seine Ausprägung gefunden hat. Deshalb ist die Frage nach dem Himmel so wichtig wie je zuvor. Wir können uns nicht mehr in die Bilder der alten Zeiten fügen, also da sitzt nicht oben über den Wolken ein Mann mit weißem Bart auf einem Thron und die Engel sausen um ihn herum und singen für ihn. Dass das vorbei ist, ist natürlich klar, aber trotzdem ist die Frage, wo bleibt das, was die Menschen früher mit dem Himmel verbunden haben? Die Sehnsucht nach Frieden , die Sehnsucht nach Unendlichkeit, die Sehnsucht nach etwas, das größer ist als wir selber.
Zusammenbruch des alten Weltbilds
Florin: Wer hat denn die Vorstellung vom Himmel zerstört: Sind es die Religionen selbst gewesen oder die Naturwissenschaften?
Gronemeyer: Zunächst fallen einem die großen Namen Keppler und Galilei ein, die einen notwendigen Wandel vollzogen haben, der darin bestand, das nicht mehr die Erde das Zentrum der Welt ist, und damit ist eine Welt zusammengebrochen, die eine klare Hierarchie hatte. Oben Gott, dann die Fürsten, dann die Bischöfe und dann das Volk, die Bauern, die Bürger. Das ist alles in dem Augenblick hinfällig geworden, in dem das alte Weltbild im 16. Jahrhundert spätestens zusammengebrochen ist. Das ist ein Akt der Befreiung, aber auch einer, der uns in eine neue, ungewohnte Heimatlosigkeit geführt hat. Dass die alte Kirche sich dagegen gewehrt hat, dass diese neuen naturwissenschaftlichen Ideen sich durchsetzen, kann man subjektiv ganz gut verstehen .Es brach mehr zusammen, als nur die Vorstellung, dass die Erde im Zentrum des Geschehens ist. Es brach eine ganze soziale Welt zusammen.
Florin: Wie stellen Sie sich den Himmel vor?
Gronemeyer: Darauf würde ich gern mit dem großen Kirchenvater Augustin antworten, der über Gott gesagt hat: Wir können nicht sagen, wer Gott ist, wir können nur sagen, wer er nicht ist. So kann ich auch für mich sagen: Ich kann nicht sagen, was der Himmel ist, ich kann nur sagen, was er nicht ist. Ich glaube, der Versucht zu beschreiben, wie der Himmel aussieht, das ist Götzendienerei. Dann macht man ein Bild von etwas, was an der nächsten Ecke zerschlagen werden muss.
"Die Belohnung kommt nach dem Tod"
Florin: Nun war ja der Himmel auch eine Trostkonstruktion, auch ein falscher Trost: Sei zufrieden, versuche nicht, die Ständeordnung zu ändern. Finde dich mit dem ab, was du auf Erden vorfindest. In Heines "Deutschland, ein Wintermärchen", ist genau diese Passage über den Himmel, mit dem man das Volk einlullt. Er fordert, den Himmel auf Erden herzustellen, also gesellschaftlich etwas zu verändern. Ist nicht der Verlust des Himmels doch eine Emanzipation, eine Befreiung des Menschen?
Gronemeyer: Heine hat recht, wenn er sagt, dass es ein Trosttrick war zu sagen: Bescheide dich hier auf Erden, lass den Fürsten Fürsten sein, die Belohnung kommt nach dem Tod. Das ist ein schmutziger Trick, kann man wirklich sagen, aber das ist etwas, womit man heute – jedenfalls in der platten Weise – etwas anfangen kann. Aber ohne zu bestreiten, dass Heine recht hat, bleibt die Frage, wo die Sehnsüchte der Menschen jenseits dessen, was ihren Alltag ausmacht, eigentlich hingehen.
Florin: Gehören Religion und Himmel zusammen?
Gronemeyer: Religion wird immer mehr zu einem Unwort. Wenn ich jüngere Leute vor mir sehe, dann haben die das Gefühl: Das ist ein faulender, musealer Begriff. Damit haben sie bis zu einem gewissen Grade auch Recht. Die Frage, ob das, was die Christen gewollt haben am Anfang, dass sie gesagt haben, dass Gott Fleisch geworden ist, dass mir Gott in jedem Menschen begegnen kann, diese Grunderfahrung der Christen mit dem Begriff Religion gut beschrieben ist. Die Frage ist, ob diese Grunderfahrung, die die Urchristen so gestaltet haben, dass immer eine Matratze, immer ein Stück Brot, immer eine Kerze da sein mussten, um, wenn es an der Tür klopft, gastfreundlich sein zu können, dass diese Grundhaltung, die aus dieser Idee entspringt, dass Gott Mensch geworden ist, heute noch genauso gefordert ist, genauso wärmend ist, aber vielleicht in Vergessenheit gerät. Das alles spielt sich jenseits der verfassten Religion ab. Jenseits der Kirchen und ihrer Machtansprüche. Ich glaube, dass das die jungen Menschen sehr genau ahnen, auch wenn sie oft nicht genau formulieren können, was sie da eigentlich wollen. Aber wir sehen es ja aktuell an der Debatte um Flüchtlinge, dass die Frage nach unserer Gastlichkeit uns bewegt.
Ein armes Würstchen
Florin: Warum hat Religion einen schlechten Klang für junge Leute?
Gronemeyer: Für viele junge Leute ist Weltlichkeit die Muttermilch, mit der sie groß werden. Sie haben ihre digitalen Zusammenhänge. Da kommt diese alte, für viele muffige Institution nicht mehr vor. Trotzdem weiß ich aus Gesprächen mit Studierenden, dass die Frage "Wer bin ich, was ist meine Bestimmung, wozu bin ich auf der Welt? Was soll aus meinem Leben werden?" eine ganz zentrale Rolle spielt. Sie können vielleicht mit dem Beffchen mit dem Talar und mit den Kirchenräumen nichts mehr anfangen, aber diese Urfragen des Menschen sind glücklicherweise nicht verschwunden.
Florin: Das ist ja eine sehr christliche Vorstellung, die Sie hier verbreiten. Was sagen Sie denn einem Atheisten, der sagt: Ich glaube nicht an Gott, und ich vermisse keinen Himmel?
Gronemeyer: Dem glaube ich. Er hat ein tiefes Recht, das so zu formulieren. Das, was für mich heute zu schwinden scheint und das ist für mich beunruhigend, das ist das, was früher den fremden Begriff Transzendenz hatte. Darüber kann ich mit einem Atheisten sehr gut sprechen. Da ist man sehr schnell bei der Frage: Ist mit meinem Leben eigentlich alles zu Ende? Da meine ich nicht irgendwelche esoterischen Wiedergeburtsfantasien. Begegne ich als Mensch einem Gefühl, einer Wahrnehmung einer Erfahrung, die mein hiesiges kleines Ich sprengt? Ich glaube, da kann man mit vielen Atheisten einstimmen in eine ähnliche Redeweise. Dass es dann – ich karikiere jetzt - den radikalen Betriebswirtschaftler gibt, der sagt: Es gibt nichts, was über die Börsenkurse hinausweist. Das kann ja sein. Aber das ist ein armes Würstchen.
Florin: Der Himmel gehörte jahrhundertelang zum Glauben der Erwachsenen, das beschreiben Sie in Ihrem Buch. Dann wurde das in den Bereich des Kinderglaubens verwiesen. Mittlerweile ist auch religiöse Erziehung nicht mehr selbstverständlich; es verschwindet auch dieser Kinderglaube .Was ändert sich dadurch ganz praktisch in unserer Gesellschaft, in unserem Leben?
Gronemeyer: Wir lassen die Kinder zunächst einmal trostlos zurück. Wenn ich zum Tod der Großmutter nur sagen kann: "Außer einem Häufchen Asche ist da nichts", dann ist das vielleicht für viele eine realistische Formulierung. Aber sie bringt auch gleichzeitig eine Vernageltheit zum Ausdruck, die darin besteht, dass wir wirklich der Meinung sind, dass wir als Menschen als Mann oder Frau die Herren der Welt sind und es jenseits von uns nichts gibt. Das ist eine unglaubliche Arroganz. Die andere Seite Ihrer Frage ist: Ich könnte nicht wie in alten Zeiten die goldene Tür zum Paradies aus der Tasche ziehen und ein Kind damit wie mit dem Weihnachtsmann trösten. Ich, der ich ja nun ziemlich alt bin, kann sagen: Es gibt im Leben, wenn man die Hände öffnet und die Seele öffnet, Erfahrungen, die im Buddhismus Erleuchtung heißen, im Christentum Offenbarung, die Begegnung mit dem, was größer ist als wir. Das kann der Augenblick sein, in dem ich auf einem Berg bin, wo ich die Sonne untergehen sehe, und das kann mich bis ins Tiefste erschüttern. Es kann ein Stück Bachscher Musik sein oder ein Stück Rockmusik, die meine Seele so öffnet, dass ich weiß, es ist etwas da, dass größer ist als ich.
Weg von der Marmeladenglasrealität
Florin: Das sagen Sie aus der christlichen Perspektive, dass das trostlos ist ohne Himmel. Aber andere würden sagen: Das ist emanzipiert, dass ich mich nicht falsch trösten lasse, dass ich damit klarkommen muss, dass ich die Großmutter nicht wieder sehe.
Gronemeyer: Da kann ich nur demütig sagen: So siehst du es denn. Und ich will nicht der Besserwisser sein. Aber es ist doch interessant, dass viele Leute damit nicht zufrieden sind .Sie suchen Zuflucht in buddhistischen Orientierungen und in esoterischen Bewegungen. Das sind Zeichen dafür, dass über die Grenzen der Religion hinweg man sich zuzwinkert und sagt: "Mit dieser Marmeladenglasrealität, dass nichts hinausreicht über die Gegenständlichkeit des Alltags, wollen wir nicht zufrieden sein." Das heißt nicht, dass ich irgendjemanden als borniert oder kleinkariert oder engstirnig bezeichnen möchte, der diese Meinung nicht teilt. Ich kann nur für mich sagen: Ich wäre damit nicht zufrieden.
Florin: Das Thema Flüchtlingen haben Sie vorhin schon angesprochen. Welche Himmelsvorstellung bringen muslimische Flüchtlinge mit?
Gronemeyer: Da sind sich Christentum und Islam ursprünglich relativ nahe. Sie stehen deswegen beide vor dem Phänomen der naturwissenschaftlichen, aufklärerischen Zerschlagung der traditionellen, klassischen Bilder. Die Frage ist, ob wir in der Begegnung mit dem Islam, der uns in den Schoß fällt oder aufgezwungen wird, wie man es sehen möchte, ob wir das fruchtbar wenden. Mein Verdacht ist, dass die wahre Religion unserer Zeit, die im Konsumismus besteht, uns schneller einigt, als wir das bisher denken, dass wir alle im gleichen Strom einer konsumistischen Religion dahinschwimmen und uns selbst verlieren. Ich fürchte, dass die Fremdheit viel zu schnell im gemeinsamen Wandeln durch die Einkaufsfluchten verloren geht. Und dann ist noch einmal wieder der Himmel uns verlorengegangen. Vielleicht ist der Strom der Flüchtlinge, der uns ängstigen mag, vielleicht eine Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem muslimischen Nachbarn über die Frage: Wie hältst du's mit dem Himmel? Wie verstehst du dich als Mensch? Wofür bist du auf der Welt? Bist du auf der Welt, um zu raffen? Um Reichtum anzuhäufen? Oder gilt nicht für uns beide, für den Christen, den Muslim, den Atheisten, dass wir wissen, dass uns die Goldklumpen in der Tasche in die Abgründe ziehen. Die Frage, die alle Religionen durchzieht, ob Reichtum nicht das größte Hindernis zur Seligkeit ist, wenn man darunter die Fähigkeit versteht, ein sensibler, ein himmels- und weltoffener Mensch zu sein. Da hoffe ich auf eine Koalition der Sensiblen, nicht unbedingt der traditionell Himmelsgläubigen, aber derer, die wissen, was wichtig und was unwichtig ist, was wirkliches Wissen ist und was nicht wirkliches Wissen ist.
"Die Geschichten sind verschwunden"
Florin: Wie viele Ihrer Studierenden können mit dem Wort Himmelfahrt etwas anfangen?
Gronemeyer: Weniger als ein Prozent. Die Geschichten sind verschwunden, ob es Pfingsten, Weihnachten oder Himmelfahrt ist. Das alles ist weg. Jetzt muss man fragen: Müssen wir uns wie Hiob hinsetzen und weinen? Das ist ein Stückweit etwas, was dazugehört, dass wir traurig sind über das, was alles verschwunden ist. Aber schön wäre, wenn es eine Erinnerung gäbe. Ich habe manchmal das Gefühl, dass diese Gesellschaft insgesamt dement ist, weil keiner mehr etwas erinnert. Dass diese demente Gesellschaft einen Ausgang findet und die Frage stellt: Lasst und doch einmal gemeinsam darüber nachdenken, was wir uns unter Himmel vorstellen könnten. Und dann treten wir in das Gespräch ein mit unseren Vätern und Müttern, mit den Texten aus denen wir kommen und da könnte man interessante Sachen entdecken.
Reimer Gronemeyer ist Soziologe, Theologe und Autor zahlreicher Bücher. 2012 erschien von ihm "Der Himmel: Sehnsucht nach einem verlorenen Ort" (Pattloch).
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