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Christian Kracht: "Eurotrash"
Mamaland in Nazihand

Der neue Roman von Christian Kracht mag als harmlose Schweiz-Rundfahrt zwischen Zürich und Gstaad daherkommen. Zugleich aber ist er ein Höllenritt in die Abgründe deutscher und eidgenössischer Nazivergangenheit. Eine fulminante Erinnerungsarbeit und literarische Selbstanzeige.

Von Christian Metz |
Der Autor Christian Kracht und sein Buch „Eurotrash“
Der Autor Christian Kracht und sein Buch „Eurotrash“ (Foto: © Noa Ben-Shalom, Buchcover: Kiepenheuer und Witsch Verlag)
Da ist es wieder, das krachtsche "Also":
"Also, ich mußte wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Meine Mutter wollte mich dringend sprechen. Sie hatte angerufen, ich solle doch bitte mal rasch kommen, es war ganz unheimlich gewesen am Telefon. Und aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, daß ich unter starker Verstopfung litt."

Jever aus der Flasche

Clever, die angekündigte Fortsetzung mit der Formel zu beginnen, wie das Debüt "Faserland" vor 25 Jahren: "Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke", so hieß es damals. Die Mutter des neuen Romans lebt dort, wo der erste Roman endete: in Zürich. Mit der Reise dorthin, nimmt der Erzähler den Faden von "Faserland" wieder auf.
"Dazu muss ich außerdem sagen, daß ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun leider nicht mehr einfällt, Faserland genannt hatte. Es endet in Zürich, sozusagen mitten auf dem Zürichsee, relativ traumatisch."
Sofort ist man wieder mittendrin in dieser Kracht-Welt. Wie auch in jener Sprache, die präzise daran arbeitet, Unbestimmtheit zu erzeugen. Nicht "sie", die Geschichte endet in Zürich. Sondern "es endet", und zwar "relativ traumatisch". Lässig behauptet der erzählende Autor, den Grund für die einstige Titelwahl vergessen zu haben.

Zur Mama, zur Freiheit?

Das ist der entscheidende Kontrast: Einerseits fällt dem Erzähler etwas Bedeutsames nicht mehr ein. Andererseits erinnert er sich aber doch: War "Faserland" konsequent im Präsens geschrieben, so als ereigne sich alles "gerade, eben, jetzt", erzählt "Eurotrash" vom ersten Satz an im Präteritum. Die Leitfragen dieses Romans sind: Was lässt sich erinnern? Was sollte erinnert werden? Was vergessen und verdrängt? Was bleibt unscharf, was erhält Kontur? Die Begegnung mit der Mutter und dem Mutterland bedeutet, sich der Erinnerungsarbeit zu stellen.
An was erinnert sich der Protagonist und Erzähler Christian Kracht noch: Wie er nach dem Anruf seiner Mutter nach Zürich gereist ist. Dass er dort eine gedankenschwere Nacht in einem Hotel verbracht hat – in einem Hotel, das mitten in Krachts florierender Markenästhetik namenlos bleibt, wenn der Erzähler beschreibt, wie er "vor der Tür des Hotels in den Taschen nach dem Hotelschlüssel suchte".

Deutsche Waffensysteme

Der Erzähler erinnert, wie er am nächsten Tag seine über achtzigjährige, nach einer schweren Operation mit einem Stoma lebende, nach mehreren Aufenthalten in der psychiatrischen Klinik, tendenziell verrückte, zudem alkohol- und tablettensüchtige Mutter besucht hat. Und wie er sich im aufkeimenden Streit spontan entschloss, mit ihr auf eine Reise aufzubrechen. Sie will nach Afrika. Er ruft das Taxi. In Erinnerung bleibt ein ergiebiger Zwischenstopp bei Mamas Hausbank. Denn wie erklärt sie ihrem Sohn so bündig:
"Sie habe während der letzten Finanzkrise antizyklisch und sehr erfolgreich in Fußbodenreinigungsmaschinen investiert und besäße nun vielleicht dreizehn oder vierzehn Millionen Franken, die hauptsächlich in deutsche Waffensysteme und schweizerische Molkereien angelegt waren."
Mit einer Plastiktüte voller Geld steigen Mutter und Sohn erneut ins Taxi. Wie stets in Krachts Romanen schlagen sich alle Geld- und Informationsflüsse direkt auf die Körper und Körperflüsse nieder. Der Anruf der Mutter, gleich zu Beginn, mit dem sie das Heft in die Hand nimmt, erzeugt beim Erzähler Nervosität und Verstopfungen. Das Stoma, das einen wiederholten Wechsel der Beutel notwendig macht, damit diese nicht überfließen.

Bald sind wir in der Mitte

Die mit Scheinen prallgefüllte Plastiktüte, und die Erinnerung des Erzählers, dass er stets seine Habe nur provisorisch in Tüten aufbewahrt habe, bilden die markanteste Konstellation des Romans. Nachdem der Roman diese Zirkulationen enggeführt hat, bitten Mutter und Sohn den Taxifahrer, nach Saanen zu fahren: in Richtung Gstaad, dorthin, wo Christian Kracht geboren wurde. Gut drei Stunden von Zürich entfernt.
Mutter und Sohn übernachten dort, machen per Seilbahn einen Abstecher auf einen Gletscher. Fahren an den Genfer See. Besuchen das Chalet des verstorbenen Vaters sowie Borges Grab und sind gut 48 Stunden später wieder zurück. Das war’s. Weitere Fakten sind nicht zu erinnern. Zwölf Kapitel, knapp 200 Seiten umfasst das Erinnerungs-Protokoll: schlank, elegant, finanziell gut gepolstert, mamaesk.
"Mama! Wann sehen wir uns denn wieder?
Bald."
So schließt der Roman. Der Dialog ist ein sanfter Widerhall des faserlandschen: "Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.". Dennoch endet "Eurotrash" relativ untraumatisch.

Identität und Autorschaft

Christian Kracht schlägt die Option aus, "Faserland" und seine Welt von damals fortzuspinnen. Kein Wiedersehen mit Nigel, Alexander, Katja oder Anna! Wenn es also heißt: "Eurotrash" sei die Fortsetzung von Krachts "Faserland", dann stimmt das zwar vom ersten bis zum letzten Wort, ist aber dennoch nur die halbe Wahrheit. Eigentlich schreibt Kracht mit "Eurotrash" seine Dankesrede beim Wilhelm Raabe Preis sowie seine Frankfurter Poetikvorlesung fort.
Er nimmt den Faden der Autorschafts- und Authentizitätsdebatte auf, den er dort entwickelt hat. In dieser Vorlesung hatte Kracht sich, – den Erwartungen dieses Genres entsprechend – als Autorperson in das eigene literarische Szenario eingeschrieben, indem er bekannt machte, während seiner Zeit in einem kanadischen Internat, Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden zu sein. Dieses Ereignis, sagt Kracht, habe seine literarischen Texte nachhaltig geprägt.
Allerdings löste Kracht die Ambivalenz zwischen authentischem Sprechen und Selbstinszenierung während des Vortrags zu keinem Zeitpunkt letztgültig auf. Diese Form der Autorschafts-Inszenierung setzt sein neuer Roman in geradezu routinierter Doppelbödigkeit fort. Und zwar, indem er die Hauptfigur aus "Faserland" als bloße Fiktion darstellt, während der Ich-Erzähler aus dem jetzigen Roman vermeintlich so authentisch echt sei, dass man ihn gleichsam durch die Schriftzeilen hindurch berühren könnte. Der Christian Kracht aus "Eurotrash" stellt im Blick auf "Faserland" also klar:
"Der Ich-Erzähler, also ich, sollte bevorzugt die Eagles hören, das hatte ich mir so bei Bret Easton Ellis abgeschaut. Das hatte mich sehr, sehr beeindruckt damals, weil ich, also das wirkliche Ich, nämlich die Eagles schrecklich fand, [...] und nicht nur die Eagles schrecklich fand, sondern auch Menschen, die die Eagles mochten."

Der sexuelle Missbrauch

Kracht forciert diese immer neuen Verschränkungen von verschiedenen, vermeintlich "erfundenen" und angeblich "wirklichen" Ichs. Wie seine Poetikvorlesung so streut auch "Eurotrash" immer neue Authentizitätsmarker aus, um deren Wirkung sofort wieder zu unterlaufen. Dieses Verfahren beherrschen auch andere Autoren bis zur Perfektion: Karl Ove Knausgaard, Didier Eribon, Edouard Louis, Angela Kraus, Otessa Moshfeg oder Rachel Cusk.
Nur dass Christian Kracht nicht wie Cusk behaupten würde: alle Fiktion sei zu vermeiden, weil sie nichts als Lüge sei. Sondern, dass unsere Wirklichkeit bis in die feinste Faser von Fiktion durchwirkt sei. Insofern spielt die Erinnerung an den sexuellen Missbrauch eine wichtige Rolle in dem Roman. Allerdings hebt der Roman dieses Erinnern – erneut wirkt die doppelte Bewegung aus Evidenzbehauptung und -entzug – sofort in eine weitere Konstellation auf. Von der Mutter heißt es nun:
"Ganz still und mit den zögernden, ruhigen Worten eines Kindes hatte sie mir erzählt, was ihr mit elf Jahren in Norddeutschland im Jahre 1949 widerfahren war, eben in Itzehoe, daß sie vergewaltigt worden war, immer wieder, worauf ich weinte, weinte und sie in den Arm nahm und ihr sagte, daß sie nun sicher sei, [...], und sie nun keine Angst mehr haben müßte und daß mir Ähnliches wie ihr, ebenfalls mit elf Jahren, widerfahren sei, nur eben im Jahre 1979, im kanadischen Internat. Das habe sie immer gewußt und es mir geglaubt, sagte sie, auch schon damals, sie habe nur nicht darüber sprechen können, niemals, der Schmerz habe es verhindert, der Schmerz über ihre eigene Mißhandlung und die Scham darüber, es bei ihrem eigenen Kind nicht verhindert haben zu können, exakt drei Jahrzehnte später."

Kampf der Erinnerungen

Diese Aussagen sind ernst zu nehmen. Aber ebenso stark schlägt auch die Gegenbewegung ins Gewicht. In der konkreten Erinnerungsarbeit, erst von der Mutter, dann vom Sohn, wird konstelliert, verdichtet und verschoben. Nur um ein Beispiel hierfür zu nennen: In der Frankfurter Poetikvorlesung ist etwa noch von "dem damals zwölfjährigen Knaben" die Rede. Jetzt ist er exakt wie die Mutter elf. Hier kristallisiert sich das für Kracht so charakteristische Schreibverfahren aus Ernsthaftigkeit, Aufzeichnung, Überzeichnung, bis hin zur Parodie des vermeintlich Ernsthaften.
In allen Gesprächen zwischen Mutter und Sohn geht es nun um einen gemeinsam, aber auch gegeneinander geführten Erinnerungs-Kampf. Mutter und Sohn verhandeln im Sinne einer Ökonomie des Geheimnisses, was vergessen werden darf, was man nur zu vergessen vorgibt, was man besser in Schweigen hüllt, von was man lieber ablenkt, wo man sich verweigert:
"Ich will nicht.
Ach komm, bitte.
Nein, ich will nicht.
Warum denn nicht?
Das will ich Dir auch nicht sagen.
Hat es mit meinem Vater zu tun?"

Deutsche mit Nazihintergrund

In solche Dialoge kristallisiert sich der Erinnerungskampf. Auf der Handlungsebene passiert wenig. Aber das Kopfkino, bei dem das laut Ausgesprochene nur eine Marginalie bildet, läuft von der ersten Seite an auf Hochtouren. Es ist ein großes, tragikkomisches Vergnügen, diesem Erinnerungskampf beizuwohnen. Denn Mutter und Sohn schenken sich nichts mit ihren Erinnerungsfinten und -finessen, ihrem Verschweigen und geschickten Ablenken. Und wenn zwischendrin die Gegenwart ihren Kopf aus der Vergangenheit hervorstreckt, scheuen sie sich nicht, ihr vieles Geld auf den Kopf zu hauen. Man darf sich keineswegs vorstellen, dass die Erinnerungs-Arbeit sich in Tristesse verliert.
Zumal die Verarbeitung des Missbrauchs schnell eine Art "common sense" zwischen Mutter und Sohn bildet: man weiß umeinander. Das wirklich umkämpfte Erinnerungsgebiet ist ein anderes. Die Frage nach dem Missbrauch ist gleichsam in einem weiteren Zusammenhang eingewoben, der bis heute nichts von seiner Brisanz verloren hat. Sie blitzt etwa auf, wenn Ende Februar dieses Jahres die Fotografin Moshati Hilal und der Autor Sinthujan Varatharajah die Erfolgsgeschichten von drei – wie sie es nannten, "Deutschen mit Nazihintergrund" nacherzählen.

She said (etwas nicht)

Bei allen drei würden, so die beiden extra in Braun gekleideten Gesprächspartner – die heutigen, hochgelobten Tätigkeiten im Kulturbetrieb auf jenem Vermögen beruhen, das ihre Familien durch die Kooperationen mit und Partizipation am Naziregime aufgebaut hätten. Über diese Voraussetzung ihrer Kulturarbeit würden die drei – wie die breitere Öffentlichkeit – allerdings den Mantel des Schweigens ausbreiten. Das ist exakt das Thema, das auch Christian Krachts "Eurotrash" umtreibt. Nur zeigt der Christian Kracht dieses Romans auf sich selbst und seine Familie. Er erstattet Selbstanzeige. Am Anfang ist da nur dieses diffuse Gefühl von Unheimlichkeit:
"Mir fehlte also die Erklärung des größeren Zusammenhangs der Umstände meiner Familie. Es war, als lief ich jahrzehntelang am Rande enormer Bosheiten mit und könnte sie nur nicht erkennen, als steckten innerhalb meiner Vermutungen nur weitere Vermutungen, als sei ich von einer Krankheit des morphischen Feldes befallen, einer grausamen Niedertracht, die aus der Vergangenheit hochstrahlte."

Fast ein halbes Jahrhundert

Im Doppel von Evidenzherstellung und -entzug, und im direkten Konflikt mit den mütterlichen Erinnerungsanliegen arbeitet sich der Erzähler Schritt für Schritt in die Familiengeschichte vor. Er führt sich die Nazivergangenheit der Familie mütterlicherseits vor Augen (und den ausgebliebenen Aufschrei der Mutter gegen diese Verstrickung). Und er rekonstruiert die steile Aufstiegsgeschichte seines 1921 geborenen Vaters, Christian Kracht. Die Erinnerungsarbeit macht klar, wie hübsch in der eigenen Familie geschwiegen wurde, um die Oberfläche eines schönen neuen europäischen Daseins zu wahren.
"Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, strahlende, europäische Welt", heißt es an einer Stelle knapp. Dann allerdings schon in der Überzeugung, dass hinter der strahlenden Oberfläche – geradezu ein Popphänomen – die alten Vermögen wabern, um auf ihre Zirkulation zu drängen. Europa entpuppt sich als "Euro-Trash" – kein Abfall, der seinen einstigen Wert verloren hat, sondern "Trash" – von vornherein in minderer Qualität gefertigt. Davor schützt nicht, wenn Mama mit Franken zahlt.

Luxus durch Raub

Diese monetäre Familiengeschichte aus der Vergangenheit heraufzuholen und sie als Basis des eigenen Autorenlebens anzuerkennen. Als Privileg, als Beschämung, als Kälte, die aus der Kultur des Schweigens resultierte, als Verstrickung, in die auch die beiden Missbrauchsfälle eingewoben sind, – das ist das erzählerische Prinzip von "Eurotrash". Wenn der Erzähler schließlich im Rückblick hervorhebt, wie er "mit der ganzen Geschichte dann das erste Mal erneut in Berührung gekommen" ist, dann handelt sich um eine Grundfrage aller bisheriger Kracht-Romane.
Schon der Protagonist von "Faserland" lebte ja in Luxus, der unterschwellig offenbar vom Nazireichtum der Eltern finanziert war. Zumindest fällt auf, wie engmaschig "Faserland" mit Anspielungen auf die Nazizeit durchzogen ist. Nicht zuletzt ging dort etwa die wichtige Freundschaft mit Alexander in die Brüche, weil dessen Freundin den Ich-Erzähler als Nazi und zugleich als vollkommen unpolitisch beschimpft. Dort hießt es:
"Das Ganze ist immer weiter eskaliert, ich konnte nicht anders. Die Frau ist einfach zu dumm. Irgendwann kam es zum richtigen Streit, und Alexander hat sich für Varna entschieden so war das."
Da Ganze ist eskaliert. Und jetzt, bei erneuter Berührung mit "dem Ganzen", reicht es nicht mehr, das familiäre Kontinuum aus der Nazizeit zu erkennen, und sich hinter das vermeintlich Unpolitische in Deckung zu bringen. Analoge Konstellationen spielen in jeweiliger zeitlicher Verschiebung auch die Romane "1979", "Wir werden hier sein im Sonnenschein wie im Schatten" und "Die Toten" jeder auf seine Weise ein. Krachts erzählerische Ökonomie des Geheimnisses kreist stets, um das Nazifinanzierungsphänomen.

Pullover statt Barbour

Selbstverständlich kann man seine Protagonisten nicht auf eine solche Erinnerungstortur senden, wenn sie nicht die passende Kleidung tragen. Deshalb erwirbt der Erzähler als erstes – in einer wunderbaren Parallelszene zu "Faserlands" Jever bei Gosch und zu Eckart Nickels Himbeerkauf in "Hysteria" – ein Selbstaufklärer-Outfit:
"Ich war mit der ganzen Geschichte dann das erste Mal erneut in Berührung gekommen, als ich eben, wie gesagt in Zürich, unten auf der Bahnhofsstraße, einen dunkelbraunen, etwas groben Wollpullover gekauft hatte, an einem kleinen, aus Brettern zusammengezimmerten Verkaufsstand, unweit des Paradeplatzes."
Was für eine Initiation. Die nur noch dadurch übertroffen wird. Wenn der Erzähler den wolligen Verstrickungen des Pullovers am nächsten Morgen nicht widerstehen kann und ihn direkt auf die nackte Haut zieht. Wobei das Anlegen einer solchen Schutzhaut, vor Angriffen mütterlicherseits nur begrenzt schützt. Sie begrüßt ihren Sohn, sich nostalgisch an die Barbour-Jacken-Zeit erinnernd, schlicht: "Sag mal, was hast Du da eigentlich für einen furchtbaren Ökopullover an?"

Ausbruch und Kreis

Nein, so ein Pullover hilft nicht, um aus dem Familienschlamassel herauszukommen. Wie er eben auch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass hier jemand von Kindesbeinen an mit allen feinen Unterschieden der Luxusbewussten vertraut ist. Aber gibt es überhaupt einen Ausweg? Nach Kracht drehen wir uns – persönlich wie gesellschaftlich – immer nur im Kreise. Auch wenn Momente der Entscheidung und etwa der Aufbruch zur Reise kurzzeitig eine Ausbruchsmöglichkeit suggerieren:
"In diesem Augenblick wußte ich, daß es alles jetzt exakt entweder so weitergehen würde bis zu ihrem Tod oder daß ich jetzt, nur jetzt, genau jetzt in diesem Moment ausbrechen könnte aus dem Kreis des Mißbrauchs, aus dem großen Feuerrad, aus dem sich drehenden Hakenkreuz."
Da flammt sie auf, die Hoffnung, in der Intensität des Augenblicks – der popästhetischen Feier des Jetzt – doch noch aus den Zirkulationen ausbrechen zu können. Mit dem Mittel der Verschwendung vielleicht? Mit diesem Vorsatz zumindest beginnen Mutter und Sohn ihre Reise. Um 48 Stunden später – Erinnerungen im Gepäck – wieder zurück nach Zürich kommen. Für Krachts Figuren gibt es weder auf persönlicher noch auf historischer Ebene ein Entkommen. Stattdessen ziehen sie Buch für Buch ihre Kreise.

Es ist die Muttersprache

Oder ist es etwa doch die Sprache der Literatur, die einen Ausweg erlaubt? Weil sie eine direkte Verbindung zum Fiktionalen dieser Wirklichkeit unterhält, zum Wahnsinn ebenso wie zu den Träumen? Einmal heißt es pointiert:
"Ich hatte immer gelebt in den Träumen, in den Gespenstern der Sprache."
Bevor der Erzähler fortsetzt:
"Es war immer die Sprache selbst gewesen, die Befreiung und gleichzeitige Beherrschung der spastischen Zunge, es war das einzigartige Geheimnis gewesen, das in der korrekten Abfolge der Silben steckte. Und es war dann doch immer das Deutsch gewesen. Es war immer die deutsche Sprache gewesen. Es war immer die verbrannte Erde gewesen, das Leiden der geschundenen Erde selbst gewesen, der Krieg und die brennende Altstadt und die unfruchtbar gemachten Gemüsefelder davor, es war immer das mit dem Flammenwerfer gesäuberte Ghetto gewesen."

Kein Neuanfang

Nein, die Sprache bietet keinen Ausweg. Nur eine andere, dafür aber weit über den Einzelnen hinausgreifende Form der Zirkulation. Allerdings nur, wenn man sie so beherrscht, dass man sie wie in "Faserland" immer wieder ins Stolpern bringt. Oder wenn man sie wie in "Eurotrash" durch unzählige Wiederholungsfiguren in immer neue Zirkulationen zwingt.
Nein, dieser Roman ist kein Neuanfang. Er ist keine Sensation. Und kein Skandalon. Er bildet die konsequente Fortschreibung von Krachts Poetik. Es ist die brillante literarische Erinnerungszirkulation eines großen und bewundernswert eigenwilligen Autors.
Christian Kracht: "Eurotrash"
Kiepenheuer und Witsch, Köln. 304 Seiten, 22 Euro.