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Unicef zur Lage in Afghanistan
"Eine Million Kinder sind in einer lebensgefährlichen Situation"

Hunger, Kinderarbeit und Mangelernährung: Christian Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland, zeichnet ein verheerendes Bild von der Lage in Afghanistan. Die Krise sei überall greifbar, sagte er im Dlf. Doch Hilfe sei möglich.

Christian Schneider im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
Drei Kinder sitzen in einer Kombination aus Steinbau und Zelt auf dem Boden.
Rund 13 Millionen Mädchen und Jungen haben nach Angaben von Unicef-Chef Christian Schneider im Dlf nicht ausreichend zu essen (Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi)
Der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider, hat im Deutschlandfunk die katastrophale Lage von Millionen Kindern in Afghanistan beschrieben: "In Kabul und überall sind, auch zur Besorgnis unserer Kinderschutz-Kollegen, arbeitende Kinder zu sehen. Die Zahl ist enorm angestiegen“, sagte der Unicef-Chef im Dlf. Die Krise sei überall greifbar. Es gebe sehr viele mangelernährte Kinder, dere Zustand sich immer weiter verschlechtert habe. Etwa eine Milllion Kinder befänden sich gar in einer lebensgefährlichen Situation, so Schneider.
Da die Taliban-Regierung international von keinem Land der Welt anerkannt wird, ist die internationale Hilfe derzeit sehr dürftig. Allerdings warb Schneider im Dlf dafür, überall dort zu helfen, wo Hilfe möglich ist. Die Menschen in Afghanistan hätten keine Zeit mehr zu warten. "Wir haben 13 Millionen Kinder hier im Land, die humanitäre Hilfe brauchen. Wenn wir uns vorstellen, was das bedeuten würde, so viele Kinder in Deutschland mit Trinkwasser, Winterkleidung zu versorgen, dann erklärt sich auch ein solcher Hilfsbedarf", sagte der Unicef-Chef. Insgesamt bezifferte er den Hilfsbedarf auf zwei Milliarden Dollar.
Deutschlands Unicef-Geschäftsführer Christian Schneider
Deutschlands Unicef-Geschäftsführer Christian Schneider (picture alliance/ dpa/ Britta Pedersen)
Das Interview im Wortlaut:
Tobias Armbrüster: Herr Schneider, erklären Sie uns das kurz. Wo genau erreichen wir Sie heute?
Christian Schneider: Ich bin heute im UN-Compound in Kabul, in dem auch unser Unicef-Team seinen Sitz hat, und ich bin in den vergangenen Tagen seit Montag unter anderem hier in Kabul, aber auch in zwei Provinzen, in Loga und Paktia unterwegs gewesen, um mit unserem Unicef-Team mir insbesondere Stationen für Kinder in den Krankenhäusern anzuschauen, auch unsere Winterhilfe hier einmal in Augenschein zu nehmen.

"Wir sehen Kinder, die sehr verzweifelt um Almosen bitten"

Armbrüster: Was genau sehen Sie denn da? Unter welchen Umständen leben die Menschen in diesen Provinzen und auch in Kabul gerade?
Schneider: Die Krise, die Sie gerade schon beschrieben haben, ist für mich hier mit der Ankunft wirklich überall greifbar. Es ist überwältigend. Das beginnt im Grunde, wenn man in Kabul oder auch in den Provinzen auf der Straße unterwegs ist, dass wir überall und auch wirklich zur Besorgnis unserer Kinderschutz-Kollegen hier arbeitende Kinder sehen. Die Zahl ist enorm angestiegen.
Wir sehen bettelnde Kinder, die sehr, sehr hartnäckig und sehr verzweifelt um Almosen bitten. Das ist das Straßenbild. Für uns ganz besonders besorgniserregend die Situation der vielen, vielen schwer mangelernährten Kinder, die seitdem die Not andauert sich in ihrem Zustand immer weiter verschlechtert haben. Wir sprechen über etwa eine Million Kinder, die im Grunde in einer lebensgefährlichen Situation sind.

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Ich habe, beginnend hier in Kabul, aber auch gerade gestern noch mal in Zurmat in einem Krankenhaus, das Unicef aufgrund der Sicherheitslage über 15 Jahre lang nicht erreichen konnte, mir eine Kinderstation anschauen können. Wir sehen zum Beispiel, dass schon die stillenden Mütter und auch die Schwangeren selbst mangelernährt sind. Das heißt, ihre Kinder kommen zu leicht und sehr geschwächt auf die Welt. Sie bekommen zu wenig Muttermilch.
Wir mussten zum Beispiel gestern in Zurmat auf die akut mangelernährten Kinder nicht lange warten. Es kamen viele, viele Mütter, manchmal auch mit Kleinkindern, mit Säuglingen auf die Station, die dann untersucht wurden und alle im für Unicef roten Bereich waren. Das heißt, die im Grunde aus deutscher Sicht auf einer Intensivstation dringend behandelt werden müssen, mit therapeutischer Milch versorgt werden müssen. Ich habe hier in Kabul zum Beispiel erfahren, dass allein in den letzten Wochen auf einer Station für frühgeborene Kinder und mangelernährte Kinder 30 Kinder ihren Kampf, ihren Überlebenskampf verloren haben. Eine Krise, die wirklich überall greifbar ist und überwältigend ist.

"Die Hilfe ist möglich"

Armbrüster: Was ist denn da Ihrer Ansicht nach nötig, um diese Krise abzuwenden?
Schneider: Ich glaube, das Wichtige und für uns aus deutscher Sicht Interessante ist, dass die Hilfe möglich ist. Wir haben hier in Afghanistan ja ein großes Unicef-Team mit inzwischen 400 Kolleginnen und Kollegen, die für die Kinder im Einsatz sind, und wir konnten in den zurückliegenden Wochen zum Beispiel unsere mobilen Gesundheitsteams ausweiten.
Wir haben Kinder in Gegenden unter anderem gegen Polio und andere Krankheiten impfen können, die wir jahrelang nicht erreichen konnten, weil es jetzt die Sicherheitslage zulässt und auch die de facto Machthaber im Land das dringend wollen, weil die Lage der Bevölkerung so katastrophal ist. Das heißt, Hilfe ist möglich. Wir können diese Räume öffnen, nicht nur in Kabul, sondern auch in den Provinzen, im Grunde im ganzen Land, und brauchen jetzt natürlich dringend verlässlich diese Ressourcen, um die Arbeit auch leisten zu können.
Armbrüster: Das heißt, Sie brauchen Geld. Können Sie uns beschreiben, wieviel? Um welchen Betrag geht es da?
Schneider: Diese Zahl ist enorm. Unicef hat vor einigen Wochen den wirklich größten humanitären Hilfsaufruf seit der Gründung vor 75 Jahren, seit dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht. Da geht es um die enorme Summe von etwa zwei Milliarden Dollar. Ein enormer Betrag, den man aber im Verhältnis zum Beispiel zu einer Zahl setzen muss. Wir haben jetzt 13 Millionen Kinder hier im Land, die humanitäre Hilfe brauchen. Das sind etwa so viele Kinder, wie wir in Deutschland insgesamt haben.
Wenn wir uns vorstellen, was das in unserem Land bedeuten würde, so viele Kinder in einem mangelernährten Zustand zu versorgen, sie mit Trinkwasser zu versorgen, mit Winterkleidung, all diese Dinge für Kinder zu tun, dann erklärt sich, glaube ich, auch ein solch enormer Hilfsbedarf.

"Unicef arbeitet mit den Machthabern zusammen"

Armbrüster: Gut, Herr Schneider. Dann müssen wir natürlich über die Regierung in Afghanistan sprechen, die Taliban. Kann Unicef mit diesen neuen Machthabern zusammenarbeiten?
Schneider: Unicef arbeitet mit den Machthabern zusammen. Den politischen Teil gegenüber dieser de facto Regierung muss die Politik beantworten. Wir sind hier ja unabhängig mit dem klaren humanitären Mandat für Kinder unterwegs und das war für mich in den letzten Tagen sehr, sehr interessant, wie unsere Kollegen und auch die Kolleginnen – ich habe gerade gestern Abend noch mal danach gefragt -, auch die Kolleginnen sowohl hier in Kabul, aber auch sehr stark in den Provinzen und den Gemeinden mit den lokalen Taliban-Führern verhandeln und zusammenarbeiten, um die Arbeit möglich zu machen.
Das heißt, wir haben zum Beispiel darauf hingewirkt, dass mindestens die Mädchen bis zwölf Jahre im ganzen Land im Moment wieder in die Schule gehen können. Ich habe selbst eine ganz einfache Aufholklasse für Mädchen besucht. 23 Mädchen saßen da in einem großen Klassenraum mit einem ganz einfachen Ofen zusammen. Das waren Mädchen, elf, zwölf Jahre alt, auch eine 15jährige interessanterweise.
Das heißt, auf lokaler Ebene ist vieles schon möglich, was zentral so noch nicht sichtbar ist. Aber das Unicef-Team, gerade die Bildungskollegen setzen sich im Moment sehr stark dafür ein, dass hoffentlich ab März dann auch alle Kinder in allen Altersstufen wieder in die Schule gehen können.
Die Taliban Ende August im afghanischen Herat nach der politischen Machtübernahme
Die Taliban Ende August im afghanischen Herat nach der politischen Machtübernahme (picture alliance / AA / Mir Ahmad Firooz Mashoof)

"Wir müssen jetzt massiv Hilfe mobilisieren"

Armbrüster: Jetzt gibt es in vielen westlichen Ländern, auch hier in Deutschland dann immer die Sorge, die ungefähr so lautet: Wenn wir jetzt Hilfe, wenn wir Geld nach Afghanistan schicken, dann werten wir natürlich auch die Taliban-Regierung dort auf. Können Sie so eine Schlussfolgerung verstehen?
Schneider: Ich kann das aus deutscher Sicht verstehen. Ich glaube, es ist aber dringend, dass wir diese Frage aus der Sicht der afghanischen Bevölkerung und der Kinder uns anschauen, und da ist dieses entweder/oder für sie eine lebensgefährliche Frage, und die Zeit, auf diese Frage eine für uns zufriedenstellende Antwort zu finden, die haben die Menschen nicht mehr. Das heißt, wir müssen jetzt massiv da, wo Hilfe möglich ist, Hilfe mobilisieren.
Ich kann vielleicht auch ein Beispiel dafür geben, wie das gelingt. Unicef ist zum Beispiel seit Ende vergangenen Jahres in der Lage, direkt das Gesundheitspersonal in den Krankenhäusern, auch den Krankenhäusern, die ich besucht habe, finanziell zu unterstützen. Die Weltbank hat auch das jetzt mit ersten Mitteln wieder ermöglicht, ganz gezielt über Unicef direkt an die Ärzte, an die Krankenschwestern in den Krankenhäusern.
Ich habe gerade gestern in Zurmat mit Ärzten gesprochen, die bevor diese Hilfe, ganz konkret auch die Zahlungen der Gehälter wieder begann, die vier Monate kein Gehalt bekommen haben und sie sich natürlich fragen mussten, um ihre Familien durchzubringen, ob sie weiter ihren Dienst im Krankenhaus machen können. Was das dann für die mangelernährten Kinder bedeutet, können wir uns leicht vorstellen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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