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Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie. Teil I und II

Was ich einmal an Anna Seghers bewundert habe, bewundere ich auch heute noch. Und ich erinnere mich gerne an ihr junges Gesicht, an ihre Lippen, die sich zu einem Dorfmädchen-Lächeln verzogen, so oft sie eine angenehme Überraschung quittierte oder misstrauisch spöttisch ihre Unsicherheit verhüllte, während sie zögernd eine passende Replik suchte. ... Ihr Verderbnis hat wohl in der Emigration begonnen, sich aber erst vollendet, als Anna Seghers, nach Deutschland zurückgekehrt, Ulbrichts Dichterin wurde. Das taten auch andere, die im Exil für die Freiheit zu kämpfen meinten oder vorgaben. Von ihr aber habe ich hier so viel gesprochen, weil ich sie liebevoll bewundert habe, als wir und alle unsere Gefährten noch jung waren, und weil mir manchmal ist, als wäre sie bald danach, noch in jungen Jahren, aus dem Leben geschieden. "Die Toten bleiben jung?" Denke ich an die Dichterfürstin der DDR, so muss ich daran zweifeln.

Agnes Hüfner |
    Was ich einmal an Anna Seghers bewundert habe, bewundere ich auch heute noch. Und ich erinnere mich gerne an ihr junges Gesicht, an ihre Lippen, die sich zu einem Dorfmädchen-Lächeln verzogen, so oft sie eine angenehme Überraschung quittierte oder misstrauisch spöttisch ihre Unsicherheit verhüllte, während sie zögernd eine passende Replik suchte. ... Ihr Verderbnis hat wohl in der Emigration begonnen, sich aber erst vollendet, als Anna Seghers, nach Deutschland zurückgekehrt, Ulbrichts Dichterin wurde. Das taten auch andere, die im Exil für die Freiheit zu kämpfen meinten oder vorgaben. Von ihr aber habe ich hier so viel gesprochen, weil ich sie liebevoll bewundert habe, als wir und alle unsere Gefährten noch jung waren, und weil mir manchmal ist, als wäre sie bald danach, noch in jungen Jahren, aus dem Leben geschieden. "Die Toten bleiben jung?" Denke ich an die Dichterfürstin der DDR, so muss ich daran zweifeln.

    So urteilte Manès Sperber 1977 im abschließenden Band seiner biographischen Trilogie "Bis man mir Scherben auf die Augen legt" über die einstige Patriarchin der DDR-Literatur, für die er im Pariser Exil der Vorkriegszeit "in leisem Anklang amouröse Sympathie" empfand. Das kategorische Urteil ist sicherlich gespeist vom Ressentiment des Dissidenten, der selber lange im Takt der Moskauer Trommel marschiert ist, aber auch von der Enttäuschung darüber, dass diese sympathische, belesene und gut aussehende Frau nie Zweifel an ihrer prinzipiellen Treue zur Partei aufkommen ließ. Dennoch ist unübersehbar, dass die literarische Potenz der Anna Seghers, die bereits 1928 der KPD beigetreten war, erst abnahm, als sie sich auch dem literaturpolitischen Dogma des sozialistischen Realismus unterwarf. Mit "Das siebte Kreuz" hatte die aus Mainz stammende Jüdin 1942 ihren Weltruhm begründet, und würde man einen Kanon der wichtigsten Werke des vergangenen Jahrhunderts erstellen, so dürfte diese Beschwörung des "kleinen Glücks" und der Solidarität in finsteren Zeiten darin nicht fehlen. Die Novelle "Der Ausflug der toten Mädchen" bestätigte die literarische Kraft der Erzählerin, und über den Roman "Transit" befand Heinrich Böll:



    Ich bezweifle, ob unsere Literatur nach 1933 viele Romane aufzuweisen hat, die, mit solcher somnambuler Sicherheit geschrieben, fast makellos sind.

    Im Frühjahr 1947 kehrte Anna Seghers nach vierzehnjährigem Exil aus Mexiko nach Deutschland zurück und nahm ihren Wohnsitz in Ost-Berlin. Im Westen wurde die überzeugte Kommunistin boykottiert, und als der Luchterhand Verlag 1962 "Das siebte Kreuz" herausbrachte und eine Gesamtausgabe ankündigte, führte dies zu eifernden Protesten, mit denen sich vor allem heute längst vergessene Schriftsteller hervortaten. Im Osten dagegen wurde Anna Seghers hofiert, war erste Präsidentin des ostdeutschen Schriftstellerverbandes und blieb bis 1978 in diesem Amt. Nichts konnte ihre Treue zur Partei- und Staatsführung erschüttern, weder Ungarn Aufstand noch 17. Juni, Mauerbau oder die Niederwalzung des Prager Frühlings. Die SED belohnte solch kritiklose Ergebenheit mit Orden und Auszeichnungen und nutzte die Seghers als Aushängeschild ihrer Kulturpolitik. Der Berliner Aufbau Verlag, der 1946 sein Verlagsdasein mit der Herausgabe des Romans "Das siebte Kreuz" begonnen hat, würdigt die vor zwanzig Jahren verstorbene Autorin mit einer zweibändigen Biographie. Der erste Band ist vor drei Jahren erschienen, nun liegt auch Band 2 vor.

    Mit Anna Seghers Rückkehr aus dem mexikanischen Exil beginnt Band 2 der Biographie von Christiane Zehl Romero. Er endet mit Seghers Tod 1983. Im Vorwort beschreibt die Biographin Sinn und Zweck ihrer Arbeit.

    Ich wollte keinen paradigmatischen, kommunistischen Lebens- oder Irrlauf konstruieren, sondern eine offene Biographie schreiben, in der die Spannung zwischen literarischem Text und Leben im Kontext schwieriger und schwer durchschaubarer zeitgenössischer Entwicklungen entsteht.

    Ehe die Biographin in eine offene Beziehung zu Seghers trat, lagen viel Zeit und Arbeit hinter ihr. Ihre erste Publikation war 1990 in der Reihe der Rowohlt-Monographien erschienen, eine dem Charakter der Reihe entsprechend informative, zitatenreiche Darstellung. Am Schluss hieß es, durch ihre Entscheidung für die kommunistische Partei habe die Autorin ihr Talent kompromittiert. Zehn Jahre später folgte Band 1 einer größer angelegten Untersuchung. Er umfasst die Jahre 1900 bis 1947. Dieser erste Band basiert auf gründlicher Recherche und zahlreichen Gesprächen – allein der Anmerkungsapparat füllt beinahe hundert Seiten. Ihre Interpretation bezeichnete Zehl Romero als Angebot und das Buch als work in progress.

    Ihr Werk und ihr Leben sind offen und sollen es nach diesem ersten Versuch einer längeren Biographie erst recht sein. Sie lassen sich auf verschiedene Weise sehen und interpretieren, je nach Betrachtung und historischem Moment.

    Jetzt liegt der zweite Band der Biographie vor, eine ebenfalls materialreiche Lebens- und Werkgeschichte. Die Intention der Biographin ähnelt der in Band 1 vorgetragenen, in einer Nuance weicht sie davon ab.

    Dabei wollte und konnte ich kein ganzheitliches Bild schaffen, sondern ein widersprüchliches, facettenreiches. Es wird, meine ich, dem Menschen und der Autorin gerechter, kann aber kein endgültiges sein.

    Die Orientierung auf das Gerecht-Werden-Wollen erweist sich als folgenschwere Entscheidung. Sie führt die Germanistin und Vergleichende Literaturwissenschaftlerin Zehl Romero dazu, ihr Fachwissen mehr als einmal hintan zu stellen und ihre Interpretation am Zeitgeschmack auszurichten, ihm entgegenkommend oder ihm widersprechend. Die mit dem Ende der DDR einsetzende – ebenso vehemente wie fast schon vergessene – Kritik an Seghers’ Taktieren und Lavieren im Umgang mit der SED-Führung macht der Biographin zu schaffen. Auch das gegenwärtige Desinteresse an Seghers irritiert sie. Um das Objekt ihrer Forschung und Neigung heil über die Bühne zu kriegen, beginnt sie zu spekulieren.

    Was wäre geschehen, hätte sie öffentlich gegen die Maßnahme Ulbrichts und seiner/ihrer Partei protestiert oder, wie Janka wünschte, ihn und Lukacs durch lauten Einspruch bei seinem Prozess verteidigt, ein Schritt, der von vielen, die die Situation kannten, als unmöglich und undenkbar beschrieben wurde.

    Welche Probleme sie auch anpackt – Seghers Verhalten bei den Strafverfahren der SED-Führung gegen die sogenannten Westemigranten, ihr Verhältnis zu Stalin, zur Absetzung von Theaterstücken, zu Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband, dem sie von 1952 bis 1978 vorstand, ihr Schweigen beim Prozess gegen den Leiter des Aufbau Verlages, Walter Janka – er wurde als Staatsfeind zu mehrjähriger Haftstrafe verurteilt und erst in letzter DDR-Minute rehabilitiert -, Zehl Romero flüchtet sich in Kompromisse, entschuldet.

    Gerade in diesen Jahren hätte sie jedoch, so scheint es aus heutiger Sicht, durch eine entschiedene öffentliche Stellungnahme etwas erreichen können. Zumindest hätte sie mehr Möglichkeiten gehabt, es zu versuchen, als je vorher, zumal sie zu der Zeit noch selbst gesundheitlich dazu in der Lage gewesen wäre. Freilich machte sie sich gegen Ende 1965 und Anfang 1966 große Sorgen um ihren Mann, der zuerst an einer Lungen- und dann an einer Nervenentzündung erkrankte.

    Sobald die Biographin sich auf sicheres Terrain begibt, bei Inhaltsangabe und literarischer Wertung, ist sie präzise. Das ganze Gegenteil in ihren endlos monotonen Rechtfertigungs- und Rettungsbemühungen des Menschen Seghers vor dem KPD- respektive SED-Mitglied Seghers. Für das sie nicht minder monoton und redundant halbherzig um Verständnis wirbt. Da schrumpft der Sozialismus auf eine Ersatzreligion, etwas – so wörtlich – "Verbindliches, wie es einst Judentum und dann das Christentum gewesen sind". Und Anna Seghers regrediert zu einer treuen Seele, die dem Traum von sozialer Gerechtigkeit anhing, als käme sie geraden Wegs vom Kirchentag.

    Seghers war kein theoretischer, in grundsätzlichen politischen Kategorien denkender Mensch, sondern ein sensibler, intuitiver und in vielem ängstlicher – mit gutem Grund. Sie ahnte die Widersprüche und Schrecken der Welt früh und lernte sie später auch kennen. Gerade deshalb sehnte sie sich so sehr nach Einfachheit, Klarheit und Sicherheit.

    In gleicher Weise wie Anna Seghers unter der Feder ihrer Biographin verkindscht, verwandelt sich die DDR, ihr Weg vom ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden bis zum Zusammenbruch, in eine virtuelle Realität. Die radikalste Lösung für den Umgang mit Anna Seghers schlug Hans Mayer vor.

    Wer über Anna Seghers urteilen möchte, muss sie als Ganzheit nehmen oder als Ganzheit verwerfen. Sie hat sich niemals verändert.

    Agnes Hüfner über Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine Biographie. 1947-1983. Aufbau Verlag, Berlin. 479 Seiten, Euro 30,--. Band 1 der zweibändigen Lebensbeschreibung umfasst die Jahre 1900 - 1947. Er ist bereits vor drei Jahren ebenfalls im Aufbau Verlag erschienen, 560 Seiten für Euro 30,63.