Als die Kärntner Dichterin Christine Lavant 1973 starb, drohte ihr Werk in Vergessenheit zu geraten. Ihre wenigen zu Lebzeiten publizierten Erzählungs- und Gedichtbände verschwanden in Antiquariaten. Ihre Briefe waren in alle Winde zerstreut. Der Nachlass schlummerte vor sich hin. 1994 hätte sich das ändern können, als das Land Kärnten Lavants Nachlass erwarb und ihn der Universität Klagenfurt übergab, gedacht als Einstandsgeschenk für das Musil-Institut, das der Literaturwissenschaftler Klaus Amann damals als Kärntner Literatur-Archiv gründete. Und tatsächlich erschien die eine oder andere Neuausgabe. Die geplante Lavant-Werkedition verzögerte sich jedoch durch Rechtsstreitigkeiten und nicht zuletzt auch durch ein Zerwürfnis der am Musil-Institut tätigen Literaturwissenschaftler. Die damals angekündigte Lavant-Biografie und eine Briefausgabe sind bis heute nicht erschienen. Dafür aber ist Klaus Amann seinem Vorhaben treu geblieben, auf das große schöpferische Potenzial der Autodidaktin aus dem Lavanttal mit einer vierbändigen Leseausgabe im Wallstein Verlag aufmerksam zu machen. Ein 800-Seiten-Band mit den zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichten ist bereits erschienen. Ein ebenso voluminöser Band mit bislang unveröffentlichten Gedichten wird folgen, dazu zwei Erzählungsbände, einer in diesem Herbst. Nach Amanns Worten eine geradezu unfassbare Menge für eine Autorin aus bildungsfernsten Verhältnissen:
"Es ist ein Phänomen, dass eben jenseits der Vorstellung, dass bestimmte Bildungsvoraussetzungen, soziale Voraussetzungen, ästhetische Voraussetzungen (...) das sein müssen, (...) irgendwie den Beweis antritt, dass es so etwas wie eine Begabung gibt, die quer liegt zu all diesen Traditionen. (..) Natürlich hat ihr Ansatz was mit Trakl zu tun oder mit Rilke. Aber von heute auf morgen sind bei ihr Gedichte entstanden, die einfach fertig sind und makellos. Das finde ich das Faszinierende."
Kreuzzertretung!- Eine Hündin heult sieben Laute, ohne zu vergeben, abgestiegen in die Hundehölle wird ihr Schatten noch den Wurf verwerfen.
Oben bleibt der Vorhang ohne Riß, nichts zerreißt um einer Hündin willen, und der Herr - er ließ sich stellvertreten - sitzt versponnen bei den ganz Vertrauten.
Auch die Toten durften nicht herauf! Vater, Mutter, - keines war am Hügel, und die Sonne hat sich bloß verfinstert in zwei aufgebrochenen Augensternen.
Von der Erde bebte kaum ein Staub, nur ein wenig sank die Stelle tiefer, wo der Balg, dem man das Kreuz zertreten, sich noch einmal nach dem Himmel bäumte.
Der Kadaver - da ihn niemand barg - kraft der Schande ist er auferstanden, um sich selbst in das Gewölb zu schleppen, wo Gottvater wie ein Werwolf haust.
Oben bleibt der Vorhang ohne Riß, nichts zerreißt um einer Hündin willen, und der Herr - er ließ sich stellvertreten - sitzt versponnen bei den ganz Vertrauten.
Auch die Toten durften nicht herauf! Vater, Mutter, - keines war am Hügel, und die Sonne hat sich bloß verfinstert in zwei aufgebrochenen Augensternen.
Von der Erde bebte kaum ein Staub, nur ein wenig sank die Stelle tiefer, wo der Balg, dem man das Kreuz zertreten, sich noch einmal nach dem Himmel bäumte.
Der Kadaver - da ihn niemand barg - kraft der Schande ist er auferstanden, um sich selbst in das Gewölb zu schleppen, wo Gottvater wie ein Werwolf haust.
"Kreuzzertretung" - Zorn und Anklage sprechen aus diesen Versen, in Lavants Gedichtband "Die Bettlerschale" nachzulesen. Die Erstausgabe erschien 1956 im Salzburger Otto Müller-Verlag.
"Abgrundtief schwarze Gebete"
Zum runden Geburtstag liegen nun neben einer Neuedition der Erzählung "Das Kind" auch ein Band mit Texten und Gedichten zeitgenössischer Autoren zu Christine Lavant vor: "Drehe die Herzspindel weiter für mich. Christine Lavant zum 100." Friederike Mayröcker, Sibylle Lewitscharoff, Teresa Präauer, Ulf Stolterfoth - sie und viele andere mehr erweisen hier der Kärntner Dichterin ihre Reverenz und treten sozusagen in Kommunikation mit ihr, ihrer Poetik, ihren Bildern, dem Nachhall ihres von Mystik, Spiritualität, Gottesfurcht und Gotteshader, Märchen und ländlichem Naturerleben geprägten Werkes. Dieser Band offenbart die erstaunliche Tatsache, dass Lavant immer, obwohl sie mit ihren Büchern jahrzehntelang kaum präsent war, subkutan sozusagen, einen beachtlichen Einfluss auf andere Autoren ausübte. Thomas Bernhard gab 1988 bei Suhrkamp zwei Auswahlbände mit Lyrik der österreichischen Kollegin heraus. Und Thomas Kling begeisterte sich in einem viel zitierten Text für das, wie er schrieb, "kontrollierte Außersichsein" der Lavant'schen Verse. Aber dass die Wirkmächtigkeit ihrer Gedichte wie im Falle von Michael Krüger einen geradezu lebensbestimmenden Einfluss ausüben konnte - wer hätte das gedacht? Ihn, den einst in der Jugend tiefgläubigen Protestanten, so schreibt der Lyriker und ehemalige Hanser-Verleger, hätten die "abgrundtief schwarzen Gebete" , die er in Lavants Gedichtband "Die Bettlerschale" las, schier umgehauen:
"Sie schlägt den Trost aus - das war doch genau diese Geste, die wir bei den sogenannten Existenzialisten gelernt hatten, das war unsere Sisyphos-Begeisterung!
"Gott, sag das nicht nach, sag keins der lauen Worte deiner Frommen! Ich will ja nicht in den Himmel kommen" Nur einmal noch - bevor sie mich begraben - laß mich im Traum ein Fünklein Liebe haben."
Wem bei diesem Gedicht, bei seinem empörten Beat, das Herz nicht schneller geht, der ist vor der Poesie, aber auch vor Gott verloren. (...) Meine ganze theologische Architektur ist von dieser Bettlerschale zum Einsturz gebracht worden. (...) So ist diese seltsame, unerbittliche Heilige zu einer Lebensbegleiterin geworden."
Etwas viel Weihrauch wabert durch diese Zeilen. Aber Krüger zielt mit diesem widersprüchlich gesetzten Begriff der "unerbittlichen Heiligen" ja zurecht auf die Spannungen und Brüche, die Lavants lyrisches Werk kennzeichnen. Denn in der Tat gehören das "nicht restlos Erklärbare, nicht vollends Auslotbare zu Lavants poetischer Rede", wie die Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa schreibt. "Zwar scheinen die Bilder und Klänge gewissen Gesetzen zu folgen, so fährt sie fort, "doch fehlt es nicht an Bruchstellen, Rätseln, Widersprüchen." Gerade am Liebesmotiv lässt sich das sehr gut erkennen. In ihrem lyrischen Hauptwerk, den Bänden "Die Bettlerschale", "Spindel im Mond" und "Der Pfauenschrei", nimmt dieses Motiv eine zentrale Stellung ein. Entstanden sind diese Gedichte hauptsächlich während der Zeit ihrer tiefen und doch aussichtslosen Liebesbeziehung zu dem Kärntner Maler Werner Berg. Das weibliche Ich in diesen Gedichten ist geradezu zerrissen zwischen Zorn und Demut, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Anrufung und Verfluchung - ob damit der Geliebte oder Gott angesprochen werden, das ist nach den Worten von Doris Moser, verantwortlich für die Edition der Lavant'schen Lyrikbände am Musil-Institut, keineswegs klar.
"Das Liebesmotiv ist ganz sicher so etwas, wobei auch da die Beschränkung auf eine Paarbeziehung oder auf die Gottesliebe falsch wäre. Hier geht es tatsächlich auch um ein fast naturreligiöses, existenzielles Spielen mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Liebe. Wir kennen das von Bachmann in ganz anderen Zusammenhängen. (...) Und Lavant bringt natürlich auch ihr gesellschaftliches Umfeld immer wieder mit ein. Aber eher motivisch, weniger thematisch."
Jeglicher Verklärung entgegentreten
Lavants Bilderwelt ist begrenzt - immer wieder der Mond, die Sonne, die Sterne, der Tod, die Vögel, das Rot der Blume. Aber "ihre Abwandlungs- und Verknüpfungsgabe", wie die Autorin und Übersetzerin Dorothea Grünzweig schreibt, "ihre Fähigkeit des Variierens, diese fast digitale Beweglichkeit" ist absolut faszinierend.
Ach schreien, schreien! - Eine Füchsin sein und bellen dürfen, bis die Sterne zittern! Doch lautlos, lautlos würge ich den bittern Trank deines Abschieds, meinen Totenwein.
Und schleiche kriechend, schattenlos schon fast, Gerippe aus Martern in der Stirn metallen durch Schlangenzweige, die vom Walde fallen, darin du gestern mich verwunschen hast.
In deiner Spur verreckt das fromme Wild, die roten Vögel unserer Zärtlichkeiten, der schwarze Jäger will nach Hause reiten, sucht nach dem Krebs im trüben Himmelsbild.
Zurück will alles. Auch der Totenwein in meiner Kehle würgt sich noch nach oben. Ich hör mein Herz die Gnade Gottes loben, das dringt wie Bellen mir durch Mark und Bein.
Und schleiche kriechend, schattenlos schon fast, Gerippe aus Martern in der Stirn metallen durch Schlangenzweige, die vom Walde fallen, darin du gestern mich verwunschen hast.
In deiner Spur verreckt das fromme Wild, die roten Vögel unserer Zärtlichkeiten, der schwarze Jäger will nach Hause reiten, sucht nach dem Krebs im trüben Himmelsbild.
Zurück will alles. Auch der Totenwein in meiner Kehle würgt sich noch nach oben. Ich hör mein Herz die Gnade Gottes loben, das dringt wie Bellen mir durch Mark und Bein.
Das Interessante an diesem Geburtstagsband, besonders an den Texten von Grünzweig, Rakusa, aber auch von Marlene Streeruwitz und Konstantin Ames ist vor allen Dingen, dass sie jeglicher Verklärung Christine Lavants entgegentreten. Ihr Lebensweg hat für Verklärungen jeglicher Art immer beste Voraussetzungen geboten: nur vier Jahre Volksschule, eine Existenz in unvorstellbarer Armut, geschlagen von schweren Krankheiten, eingeengt von einem 30 Jahre älteren, offensichtlich unerträglichen Ehemann, Selbstmordversuche, Aufenthalte in Nervenheilanstalten. In Österreich sah man in ihr lange Zeit so etwas wie ein dichtendes Strickliesel-Wunder mit katholischer Erdung. Aber die Lavant taugt weder zur Leidens-Ikone noch zur Heroine. Es ist eher die manchmal schwer erträgliche Zwiespältigkeit, die sie auszeichnet. So sei in ihrem Werk eben nicht nur das Aufbegehrende zu finden, sondern auch das sich willfährig fügende Opferlamm, so Grünzweig. Eine Sprache der Ausgrenzung sei ihr eigen gewesen, so Marlene Streeruwitz, weniger durch Reflexion geprägt als durch ein "Fühldenken", das von der Vergeblichkeit auf Rettung wisse. Das Werk der Christine Lavant Werk ist eine Provokation. Aber gerade deshalb, so schreibt Konstantin Ames, stemmt es sich gegen "Regierbarkeit und Kanonisierbarkeit".
Vielschichtige Eigensprache
Christine Lavant war im Leben keineswegs ein unreflektierter Mensch. Sie wusste sich selbstbewusst in der Öffentlichkeit zu bewegen, war nicht frei von Selbststilisierung und beherrschte gekonnt das "kokette Löcken wider den katholischen Stachel", wie es Ames ausdrückt. Und doch war sie eben auch verfangen in ihrem engen Dorfmilieu und ihrem subjektiven Elend. Ihre Erzählungen "Das Kind", "Das Wechselbälgchen" und "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" geben darüber deutlich Auskunft, wie Klaus Amann meint:
"In der Prosa ist sie sehr stark autobiografisch. Sie thematisiert sehr das das Außenseitertum. Sie thematisiert sehr stark Kindheitserinnerungen, Krankheitserfahrungen. Und das mit einer erstaunlichen Sicherheit. Sie verwendet für ihre Figuren unterschiedliche dialektale Soziolekte. (..) Man kann ablesen an der Art und Weise wie die Leute reden, wo sie hingehören. Das sind alles Interessen und Ansatzpunkte, die in der Lyrik nicht in dieser Weise vorhanden sind."
In den beiden Prosabänden, für die Klaus Amann als Herausgeber verantwortlich zeichnet, wird man wohl noch so manche ungeahnte Facette der Christine Lavant entdecken können. Vorab liegen bereits die Erzählungen "Das Wechselbälgchen" wie jetzt "Das Kind" in Neuausgaben nach der Originalhandschrift vor. "Das Kind" war 1945/46 das erzählerische Debüt der Kärntner Autorin. Erzählt wird hier von der einsamen und hilflosen Existenz eines kranken Mädchens in einer Heilanstalt. Der Leser bleibt an die Perspektive des Kindes und seines begrenzten Erfahrungshorizonts gebunden und taucht auf diese Weise tief mit ein in seine Ängste, die es durch Träume und Wunschvorstellungen zu bannen versucht. Viele Themen und Motive werden hier angeschlagen, die in Lavants späteren erzählerischen und lyrischen Werk eine Rolle spielen. Vor allem aber tritt Christine Lavant nach Amanns Bearbeitung und Beseitigung früherer Glättungen wieder in ihrer vielschichtigen "Eigensprache" hervor, wie es Dorothea Grünzweig in Bezug auf ihre Lyrik nannte. Ein unschätzbarer Gewinn!
Christine Lavant: Das Kind. Erzählung. Neuausgabe in der Originalhandschrift. Hrsg. Von Klaus Amann. Wallstein Verlag. 88 Seiten, 16,90 Euro.
"Drehe die Herzspindel weiter für mich". Christine Lavant zum 100. Hrsg. von Klaus Amann, Fabjan Hafner und Doris Moser. Wallstein Verlag. 184 Seiten, 19,90 Euro.