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Christlich-jüdische Leitkultur
Falsch verbunden

In diesem Jahr beginnen das jüdische Chanukka-Fest und das christliche Weihnachten am gleichen Tag. Ein Anlass, um über den oft verwendeten Begriff der christlich-jüdischen Leitkultur nachzudenken, der zunächst in Abgrenzung gegenüber dem Islam erfunden wurde. Wieviel Kultur haben Christen und Juden wirklich gemeinsam?

Von Gerald Beyrodt |
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    Ein Weihnachtsbaum und ein Chanukkaleuchter - vor dem Brandenburger Tor in Berlin. (Deutschlandradio / Melanie Croyé)
    Als der deutsch-syrische Politologe Bassam Tibi den Begriff der Leitkultur prägte, war sein Ziel: Zuwanderer sollten die Möglichkeit bekommen, in Europa heimisch zu werden. Auch wer keine deutschen, französischen oder polnischen Eltern hat, sollte Teil des Gemeinwesens sein können. Tibi sagte im Deutschlandfunk:
    "Eine Integration muss in etwas hinein, ja. Integrieren heißt nicht einen Pass bekommen und nur hier leben. Integrieren heißt self belonging. Ich habe alle Integrationsleistungen erbracht. Und ich habe nach 40 Jahren das Gefühl, man akzeptiert mich nicht als einen Deutschen.
    Und deutsch, wir sollen uns einigen, deutsch ist nicht ethnisch, sondern deutsch ist Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen. So eine Frau, die Aisha heißt, ein Mann der Mohammed heißt, kann auch ein Deutscher sein, wenn er die Wertegemeinsamkeit vertritt."
    Begriff war als Angebot gemeint
    Doch dann kamen die Politiker. Friedrich Merz, damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, benutzte die Leitkultur als Kampfbegriff gegen Zuwanderer. Sie sollten sich stärker anpassen, stärker assimilieren, so die neue Stoßrichtung.
    Im selben Atemzug wandte sich Friedrich Merz gegen Multikulturalismus. Während Leitkultur bei Tibi ein Angebot war, war sie für Friedrich Merz und zahlreiche Unionspolitiker eine Forderung. In diesem Sinn geistert sie bis heute durch die politischen Diskussionen. Karsten Fischer, Professor für Politikwissenschaft in München, kann dem Begriff nicht viel abgewinnen.
    "Der Begriff ist vollkommen unklar, er ist missverständlich und dadurch problematisch. Insofern sagt es überhaupt nichts, wenn man den Begriff einfach verwendet, sondern man muss sagen, wie man ihn meint. Und das passiert üblicherweise in der Politik natürlich nicht. Hier ist der Begriff zum Behälter geworden für eine sehr eindeutige politische Richtung."
    Zu den Inhalten der Leitkultur gehören für Bassam Tibi Bürger- und Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit. Diese Werte meinten und meinen auch Unionspolitiker, wenn sie von Leitkultur sprechen. Die Leitkultur allgemein reicht jedoch nicht mehr, zur Abgrenzung gegenüber dem Islam wurde die christlich-jüdische Leitkultur erfunden. Karsten Fischer:
    "Wir haben es eigentlich mit einer paradoxen Situation zu tun bei diesem Begriff, denn er setzt eigentlich die europäische Säkularisierung voraus. Diese Säkularisierung, die ja im weltweiten Vergleich allemal ein Sonderweg ist, wird dann wiederum als Erwartung an Migrantinnen und Migranten formuliert, aber um die Erwartung an Einwanderinnen und Einwanderer zu formulieren, wird wiederum Bezug genommen auf jene Religion, die ja im europäischen Säkularisierungsprozess gerade relativiert worden ist und die ja durchaus auch sich sehr schwer getan hat mit diesem Säkularisierungsprozess über Jahrhunderte."
    Bürgerrechte fußen auf dem Christentum und Judentum
    Trotzdem stellt sich die Frage: Wie viel Christentum steckt in Werten wie Toleranz, Meinungsfreiheit und Menschenwürde?
    "Um es möglichst kurz zu machen, muss man schon feststellen, dass das Christentum über einen sehr sehr langen Zeitraum natürlich Probleme mit Aufklärung und Humanismus hatte. Das zeigt sich in der Haltung der evangelischen Kirche, die es noch 1934 fertig gebracht hat, Adolf Hitler den Summepiskopat anzubieten, also die gleichzeitige Oberhoheit über Kirche und Staat. Also insofern kann man nicht umstandslos das Christentum mit aufklärerischen Werten identifizieren, wie es in der Leitkulturdebatte mitunter völlig unhistorisch gemacht wird. Aber es gibt eben durchaus auch eine aufklärungsfreundliche Seite des Christentums, die insbesondere durch die protestantische Lehre des leidenden Gottes gekommen ist und einen Anschluss an die Menschenrechtsidee ermöglicht hat. "
    Die Idee des leidenden Jesus könne Menschen dazu motivieren, sich zum Beispiel für politisch Verfolgte einzusetzen. Auch für die jüdische Publizistin Edna Brocke steht fest: Zahlreiche heutige Bürgerrechte gehen auf die Religion zurück – etwa auf die Zehn Gebote, und stammten mithin aus dem Judentum.
    "Zu dieser Leitkultur gehört all das, was nach dem Zweiten Weltkrieg, die Absicht derer war, die die Vereinten Nationen gegründet haben. Das ist, was sie wollten. Sie fußten auf diesen beiden Kultursträngen, dem christlichen und dem jüdischen Kulturverständnis. "
    Bindestrich-Konstruktion streichen
    Skeptisch ist Edna Brocke gegenüber der Bindestrichkonstruktion "christlich-jüdisch", weil er für sie die Differenzen verwischt. Dabei seien deutliche Unterschiede zwischen Christen und Juden gar nichts Schlechtes.
    "Das zweite ist die Frage der theologischen Dimension. Die Juden, die damals Jesus folgten, später Christen, haben ja genau entschieden, dass sie den zentralen jüdischen Weg nicht gehen wollen, nämlich eine Glaubensdimension und eine Seinsdimension. Man ist als Jude beides."
    Seinsdimension bedeutet für Edna Brocke: Wer eine jüdische Mutter hat, gehört dem Judentum an. Juden sind nicht nur eine Glaubensgemeinschaft, sondern auch ein Volk.
    "Das ist der Konflikt, der seither immer da ist. Das sind so grundsätzliche Dinge, dass, auch wenn seither ähnliche Dinge in gesamtkulturellen Dingen entstanden sind, würde ich mich scheuen von einer jüdisch-christlichen Leitkultur oder einer gemeinsamen Kultur zu sprechen."
    Sicher zählten Christen die Texte der jüdischen Bibel zu ihrem Kanon. Doch sie deuteten sie in Hinblick auf Jesus Christus. Ihre Aneignung des Alten Testamentes komme einer Enteignung der Juden gleich. So kann Edna Brocke der Position des evangelischen Theologen Notger Slenczka viel abgewinnen.
    Er fordert, die hebräische Bibel aus dem protestantischen Kanon zu streichen. Eines seiner Argumente: In den Texten würden die Christen gar nicht angesprochen. Slenczkas Thesen entfachtem eine kontroverse Diskussion. Sogar Antisemitismus warfen Kritiker dem evangelischen Theologen vor. Ganz anders Edna Brocke:
    "Der Punkt, der für mich in seinem Beitrag der Wichtigste ist, er sagt, er habe durch seinen Beitrag an einem Dialog angefangen zu verstehen, welchen Stellenwert die jüdische Bibel für die Juden hat, und hat dann eingesehen, wenn er dies als Christ als einen Teil seiner Bibel, jetzt sind das meine Worte, einfach usurpiert, tut er uns unrecht. "
    Ein Blick ins Grundgesetz
    Christlich-jüdische Leitkultur - an das Wort mag mancher denken, gerade wenn Weihnachten und Chanukka zusammenfallen. Doch es verbindet, was bei genauer Betrachtung nicht ganz zusammenpasst. Und es bietet denen keine Zugehörigkeit an, die weder christlich noch jüdisch sind. Karsten Fischer empfiehlt statt der Bindestrich-Konstruktion einen Blick ins Grundgesetz.
    "Das heißt, es gibt auf der Basis des Grundgesetzes, das immer gerne zitiert wird, wenn es um Leitkultur geht, keinen kulturellen Artenschutz. Dieser Befund, dass es nur Individualrechte gibt und keinen kulturellen Artenschutz, wie Jürgen Habermas das einmal sehr schön bezeichnet hat, der richtet sich an beide Seiten der Kontroverse. Kein Einwanderer darf beanspruchen, einer kulturellen Lebensform anhängen zu wollen, die nicht in Einklang mit den Normen des Grundgesetzes vereinbar ist, beispielsweise frauendiskriminierend ist oder ansonsten in individuelle Freiheiten eingreift. Gleichzeitig gibt es keinen Artenschutz für irgend ein deutsches Brauchtum, von dem man sagen könnte, wir wollen unsere Trachtengruppe nicht durch Zuwanderer übervölkert sehen, und deshalb wollen wir keine.
    Das ist auch nicht zu machen. Und deshalb sieht man daran, dass mit dem Begriff der Leitkultur nichts anzufangen ist, wenn man es nur mal von der Substanz unseres Grundgesetzes her denkt. "