Judith Albrecht steht in der Küche in ihrem Haus in Newnan, einer Kleinstadt südlich von Atlanta im Bundesstaat Georgia. Sie schaut aus dem Fenster in ihren Sommergarten, während sie das Abendessen zubereitet. Alle Zutaten kommen aus dem eigenen Garten.
"I've got beans and butternut squash and Swiss chard..."
Bohnen, Kürbis und Mangold zum Beispiel. Außerdem haben sie und ihr Mann zehn Bienenstöcke und süßen fast alles mit dem eigenen Honig.
Für Albrecht, Anfang 50 und Tochter deutscher Einwanderer, ist es wichtig, gesund zu leben. Als Christin trage sie Verantwortung für ihren Körper.
"Our health is actually our responsibility, because we have just one life to live."
Deshalb ist Albrecht, die halbtags als Rezeptionistin arbeitet, auch Mitglied in einer christlichen Gesundheitsgenossenschaft - und nicht Kundin einer Krankenkasse.
Angetrieben von Obamacare
Diese sogenannten Health Care Sharing Ministries - so etwas wie christlich geprägte Gesundheits-Coops - gelten nicht als Versicherungen. Doch als Alternative zur klassischen Versicherung erleben sie in den USA derzeit einen Boom, schalten Werbespots im Fernsehen, im Radio, im Internet.
Die Mitgliederzahlen der Gesundheits-Coops sind in den vergangenen acht Jahren um das Vierfache gestiegen, liegen mittlerweile bei über eine Millon. Viele dieser Vereine gehen zurück auf Zusammenschlüsse freikirchlicher Gemeinden, vor allem Mennoniten und Amische.
Anschubhilfe für den jüngsten Boom gab es - ausgerechnet - von Obamacare. Die Architekten der umstrittenen Gesundheitsreform nahmen Mitlieder der christlichen Coops von der neu eingeführten Versicherungspflicht aus - als Zugeständnis an das konservativ-religiöse Lager.
Zwei Dinge machen die Genossenschaften so attraktiv: Preis und Prinzip.
"Keine Frage: Der Preisunterschied zwischen traditionellen Krankenversicherungen und Gesundheitsgenossenschaften macht viele Leute erst auf uns aufmerksam."
Dale Bellis ist CEO von Liberty Healthshare, der drittgrößten christlichen Gesundheits-Coop in den USA.
Judith Albrecht und ihr Mann, seit einem Jahr Mitglieder bei Liberty, zahlten für ihre frühere Krankenversicherung 1300 Dollar im Monat. Mittlerweile dürften die Prämien um 25 bis 30 Prozent gestiegen sein. Bei Liberty zahlt das Paar jetzt 400 Dollar und hat eine Selbstbeteiligung von 1500 Dollar im Jahr.
Misstrauen gegenüber dem Staat
Rund tausend Dollar im Monat sparen - das ist für die beiden schon ein Argument.
"So that is one of the major reasons why we opted for this. And also, our convictions."
Der andere Grund für ihre Entscheidung seien ihre religiösen Überzeugungen, sagt Albrecht. Obamacare verpflichtet Krankenkassen, für Abtreibungen, sofern sie in den gesetzlichen Rahmen fallen, zu zahlen. Ebenso für Verhütungsmittel wie die Antibaby-Pille. Und das lehnten sie und ihr Mann als Christen ab.
"With Obamacare we know that it would be insurance that would actually be pro-abortion."
Hinzu kommt: Viele Amerikaner, und evangelikale Christen insbesondere, hegen ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat und staatlich regulierten Organisationen - etwa Versicherungen.
Deshalb sei das direkte und persönliche Verhältnis zwischen den Mitgliedern der Gesundheits-Genossenschaft so wichtig, sagt Dale Bellis.
"Die Botschaft von Hilfe, Solidarität und Gebet - das ist der Aspekt, den unsere Mitglieder nach eigenen Angaben ganz besonders wertschätzen. Dass ihr Geld direkt in die Behandlung eines anderen Menschen fließt und nicht von einem anonymen Unternehmen verteilt wird."
Und so funktioniert die christliche Kameradschaft: Jeden Monat verknüpft die Coop die Behandlungskosten eines Mitglieds mit den Beiträgen eines jeweils anderen Mitglieds oder mehrerer Mitglieder. Dabei gibt es einen gewissen Grad an Transparenz: In einem elektronischen Portal können die Geber den Vornamen der Empfänger einsehen, sie können Genesungswünsche oder Gebete über das Portal schicken.
Bellis: "... like, praying for you during this time of surgery, or trust you recover well."
"Das Selbstzahler-Modell vereinfacht das Leben enorm"
Bei einem Arztbesuch gelten die Mitglieder der Coops als Selbstzahler. Sie reichen die Rechnungen später bei der Genossenschaft ein. Die rechnet im Fall von teuren Behandlungen auch direkt mit Ärzten oder Kliniken ab.
James Panter ist Notfallmediziner in einem Krankenhaus in Nord-Georgia und betreibt nebenbei eine kleine Hausarztpraxis - ausschließlich für bar zahlende Patienten.
"Aus Sicht eines Arztes reduziert das Selbstzahler-Modell den bürokratischen Wasserkopf. Ich muss nicht mit den Versicherungen verhandeln und abrechnen, ich muss nicht jede Behandlung vorab genehmigen lassen. Es vereinfacht das Leben enorm."
Versicherungen, sagt Panter, treiben die Preise nach oben. Das sei schlecht für die Patienten und schlecht für den Arzt.
Er selbst berechnet 100 Dollar für einen Hausbesuch, 85 Dollar für einen Besuch in der Praxis, 25 Dollar für ein großes Blutbild, 25 Dollar für Organ- und Stoffwechselmarker. Das sind Schnäppchen, zumindest in den USA.
"Wenn ein Patient kommt und sagt, Doc, ich habe 100 Dollar, was bekomme ich dafür? Dann setzen wir uns hin und überlegen gemeinsam. Das ist Teamarbeit.
Und wenn jemand eine Operation braucht, dann kontaktiere ich einen Kollegen, den ich kenne und der einen guten Cash-Preis macht. Der liegt meist 50 Prozent oder mehr unter dem, was die Versicherung zahlt."
Panter ist derzeit auf dem freien Markt krankenversichert, aber er überlegt, selbst Mitglied in einer christlichen Coop zu werden.
Christlicher Krankenkassen-Ersatz mit Lücken
Wer einer solchen Gesundheitsgenossenschaft beitreten will, muss sich zu einem, wie es heißt, "gottesfürchtigen Lebensstil" verpflichten: kein Sex außerhalb der Ehe, keine Drogen, moderater Alkoholgenuss, regelmäßiger Kirchgang. Manche Coops verlangen ein Schreiben des Pfarrers, der bestätigt, dass der Bewerber aktives Mitglied einer Kirchengemeinde ist.
Das mag keine Option für jeden sein, erscheint aber durchaus zumutbar.
Doch die frommen Krankenkassen-Alternativen hätten teilweise hochriskante Lücken, warnt JoAnn Volk, Verbraucherschutz-Expertin an der Georgetown-Universität in Washington, DC.
"Jeder, der eine chronische Krankheit hat oder sich Sorgen macht, in der Zukunft krank zu werden, muss sich darauf einstellen, dass die Kosten vielleicht nicht oder nur teilweise erstattet werden. Und niemand kann wissen, was in der Zukunft passiert."
Ausgeschlossen von der Erstattung sind nicht nur Eingriffe und Therapien, die gegen die Prinzipen vor allem konservativer Christen verstoßen: Abtreibungen, Geschlechtsumwandlungen, Verhütungsmittel oder Drogenentzug.
Sondern auch viele Behandlungen, deren Kosten traditionelle Versicherungen laut Gesetz übernehmen müssen, sagt Volk.
"They generally don't cover preexisting condition…"
Vorerkrankungen sind in der Regel von der Erstattung ausgeschlossen. Auch übernehmen die Coops keine Kosten für Medikamente zur Langzeitbehandlung von Krankheiten wie Diabetes, Herzschwäche, Arthritis und Parkinson. Zahnbehandlungen und Sehhilfen werden nicht erstattet. Ausgeschlossen sind häufig auch Mammografie, Darmspiegelung oder Pränatal-Diagnostik bei Schwangeren, ebenso die Behandlung psychischer Krankheiten.
"They generally don't cover mental health. You should go to your pastor for counseling."
Dafür sei nach Meinung der Coops der Pastor zuständig, sagt Volk.
Vertrauen trotz finanzieller Risiken
Der größte Unterschied zwischen christlichen Gesundheitsgenossenschaften und traditionellen Versicherungen ist: Es gibt keine Garantie. Die Verträge sind nicht einklagbar. Die Genossenschaften stehen außerhalb staatlicher Regulierung und Kontrolle.
Und machen daraus auch gar kein Geheimnis. Liberty-CEO Dale Bellis:
"Das Wesen einer Versicherung ist: Erstens werden die Risiken delegiert. Zweitens wird zugesagt, dass gezahlt wird. Beides gibt es bei uns nicht. Bei uns bleiben Risiko und Verantwortung bei jedem einzelnen Mitglied. Wir geben kein Versprechen, alle Behandlungskosten zu erstatten. Wie versuchen nur, auf der Basis religiöser und moralischer Werte die Ausgaben unter den Mitgliedern so gut wie möglich zu verteilen."
JoAnn Volk sieht mit Skepsis, dass die christlichen Gesundheitsgenossenschaften längst über ihre ursprüngliche Bestimmung - gegenseitige Hilfe in kleinen Glaubensgemeinschaften - hinausgewachsen sind.
"Mittlerweile gibt es ausgeklügelte Geschäftsstrukturen, häufig auch Broker, und ein aggressives Marketing. Viele Leute meinen, sie würden eine erschwingliche Versicherung kaufen, aber sie verstehen nicht die Grenzen der Absicherung."
Judith Albrecht versteht genau, was sie gekauft hat. Sie und ihr Mann haben ihre Gesundheits-Coop bislang zwar kaum in Anspruch genommen. Aber ihre Tochter in Texas, die gerade mit dem dritten Kind schwanger ist, habe nur positive Erfahrungen gemacht. Ebenso wie viele Freunde aus ihrer Kirchengemeinde.
Sollte sie doch einmal ernsthaft erkranken, weiß sie nicht, ob die Kosten auch wirklich erstattet werden. Nervös macht sie das nicht.
"That's correct. We don't have a guarantee…"
Es stimme schon, sagt sie, es gebe keine Garantie. Außer ihrem Glauben an Gott. Der habe sie schließlich zu der Gemeinschaft von Gleichgesinnten geführt, der christlichen Gesundheitsgenossenschaft. Dieser Gemeinschaft traue sie mehr als ihrer Regierung, und auch mehr als jeder klassischen Krankenversicherung.
"...more than I trust my government or more than I trust a health insurance."
Anmerkung der Redaktion: Die Recherchen für diesen Beitrag wurden unterstützt durch ein Holbrooke/IJP-Reisestipendium für Journalisten.