Christian Röther: Stell Dir vor es ist Krieg - und die Kirche mischt mit. So war es oft in der Geschichte von Kirchen und Politik. Ganz massiv zum Beispiel im Ersten Weltkrieg: Es gab eine große kirchliche Kriegsbegeisterung und Kriegspropaganda, nicht nur in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das grundlegend geändert. Die Kirchen in Deutschland tendieren immer stärker hin zum Pazifismus. Was soll man also machen, wenn Krieg ist – hingehen oder zu Hause bleiben?
Darüber habe ich vor der Sendung gesprochen mit dem evangelischen Theologen Hartwig von Schubert. Er ist Militärdekan an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Und er hat ein Buch geschrieben, ein Plädoyer, mit dem er verhindern will, dass seine Kirche, also die Evangelische Kirche in Deutschland, zu pazifistisch wird. Meine erste Frage an Hartwig von Schubert lautete, ob ich sein Anliegen so korrekt zusammengefasst habe.
Hartwig von Schubert: Ja, vielleicht doch nicht ganz. Also, zu pazifistisch kann man gar nicht sein. Es geht um die Ausrichtung eines Pazifismus. Also, eine christliche Kirche, die nicht pazifistisch wäre, hätte irgendetwas grundlegend missverstanden. Wofür ich plädiere, ist das, was man einen legal pacifism, also einen Rechtspazifismus nennen könnte, also eine Befriedung von Konflikten durch das Mittel des Rechtes. Und das ist ja durchaus zwangsbewährt.
Röther: Vielleicht fangen wir erst mal ganz grundlegend damit an: Warum sollte sich denn die Kirche überhaupt zu solchen Fragen von Politik und Militär positionieren?
Von Schubert: Also, es ist ja eine seit Langem auch sehr kontrovers diskutierte Frage: Soll sich die Kirche politisch äußern oder nicht doch besser raushalten und in Fragen der Politik den Mund halten? Und ich denke, sie muss sich auf jeden Fall politisch äußern. Sie kann sich gar nicht nicht politisch äußern. Dazu ist sie auch einfach durch ihre historische Präsenz viel zu mächtig. Deshalb ist die Frage nicht, ob sie sich politisch äußert, sondern wie.
Und ich denke, sie sollte sich qualifiziert äußern. Das heißt, nicht zu jedem Detail eine schnelle Meinung äußern, sondern zunächst einmal sich bemühen um Klarheit und Beständigkeit in der kritischen Solidarität zu den verschiedenen politischen Aufgaben und natürlich damit insbesondere zum Staat, und zwar nicht zu irgendeinem Staat, sondern zu einem politisch kräftigen Staat und zu seinen Organen. Und zu diesen gehören auch seine Streitkräfte.
"Die Kirche ist kein Staat"
Röther: Dann versuche ich es mal mit einem konkreten aktuellen Beispiel: Gerade wird ja darüber gestritten, ob Deutschland sich an einer Militäraktion im Persischen Golf beteiligen sollte, um da Handelsschiffe vor dem Iran zu schützen. Würden Sie also die Marine losschicken?
Von Schubert: Dazu hat natürlich die Kirche keine spezifische Erkenntnis. Die Kirche ist kein Staat. Dankenswerterweise haben wir die Trennung zu beiderseitigem Vorteil, glaube ich wirklich, inzwischen vollzogen hier in Deutschland, in Mitteleuropa. Die Kirche ist auch keine Partei. Sie ist auch kein politisch-wissenschaftlicher Thinktank. Das heißt, sie kann an dieser Stelle aber durchaus den Raum schaffen, um genau Ihre Frage in einer geordneten und sorgfältigen Weise zu beantworten.
Das tun wir zum Beispiel in akademischen Akademien. Da laden wir ein – Experten, Bürgerinnen und Bürger, Menschen, die Erfahrung mitbringen, Diplomaten, natürlich auch Soldaten, Offiziere. Und dann wird so eine Frage von den verschiedenen Seiten her erörtert. Und dann stellt sich zum Beispiel die schlichte Frage: Ist die deutsche Marine überhaupt ausgestattet zu einer solchen Mission? Ja, man kann das ja wollen, aber vielleicht kann man es gar nicht. Generell ist klar, die Sicherung von internationalen Handelsrouten ist eine wichtige politische Aufgabe, ja.
"Die Kirche sollte sich zurückhalten"
Röther: Das sind dann ja aber nur politische Antworten auf diese Frage. Also, als kirchliche Antwort - oder als Militärdekan an der Führungsakademie der Bundeswehr, da geben Sie ja vielleicht auch noch Antworten, die über das rein politische hinausgehen.
Von Schubert: Also, die Sicherung von Handelswegen, die Sicherung der zivilen Handelsrouten ist eine wichtige völkerrechtlich zu ordnende staatliche Aufgabe. Und dabei begleiten wir ja zum Beispiel als Militärgeistliche die Schiffe. Gegebenenfalls würde auch ein Militärgeistlicher, eine Militärgeistliche auf einem solchen Schiff mitfahren und die Soldaten und Soldatinnen begleiten dort in die Straße von Hormus.
Aber, wenn Sie jetzt mir die Frage stellen: "Ist das politisch und auch militärisch geboten", ja, dann eröffnen wir natürlich einen riesigen Kreis von Fragen. Was passiert an der Straße von Gibraltar? Da sind Tanker festgesetzt worden. Jetzt in der Straße von Hormus sind Tanker festgehalten worden. Wenn Sie mich jetzt fragen, ja, also, wie stellt sich jetzt die Kirche zu diesem Konflikt, dann sage ich, sie sollte sich tunlichst zurückhalten, hier eine dezidierte Detailmeinung zu äußern, weil sie gar nicht über die nötigen Erkenntnisse verfügt, die man dazu bräuchte.
"Wer nichts tut, tut auch etwas"
Röther: Okay, also sie sollte aber auch nicht sagen – was es vielleicht geben könnte, die Stimmen – man darf da auf keinen Fall eingreifen?
Von Schubert: Nein. Natürlich muss man eingreifen. Man kann nicht nicht eingreifen. Wer nichts tut, tut auch etwas. Wir sind alle tief verstrickt in die internationalen Wirtschaftsströme, Handelsströme, Ressourcenströme. Und mit jedem Liter Benzin, den ich in den Tank fülle, bin ich beteiligt an, ja, auch an Gewaltstrukturen und an Abhängigkeitsstrukturen und an Abhängigkeitsstrukturen und zum Teil auch an Ausbeutungsverhältnissen. Und da kann ich nicht so tun als könnte ich mich raushalten.
Röther: Sie haben kürzlich ein Buch veröffentlicht, ich habe es eben schon einmal erwähnt. Ein Essay mit dem Titel "Pflugscharen und Schwerter: Plädoyer für eine realistische Friedensethik". Diese realistische Friedensethik ist ja nun gerade auch schon angeklungen bei Ihnen. Sie beziehen sich in dem Buch unter anderem auch auf den Apostel Paulus und auf dessen Brief an die Römer. Den haben Sie extra selber noch mal übersetzt. Und dann heißt es da:
Jedermann unterstelle sich den übergeordneten Ordnungsmächten, denn es gibt keine Ordnungsmacht, sie sei denn von Gott. (Römer 13,1)
Wie kommen Sie denn darauf, dass man in so einem alten Text – er ist bald 2000 Jahre alt – Antworten finden kann auf die heutigen komplexen militärischen Fragen?
Von Schubert: Ja, also der Text Römer 13 ist wirklich ein historisch sehr, sehr geschichtswirksamer Text. Über Jahrhunderte hinweg haben die Könige und Fürsten in europäischen Ländern sich auf diesen Text berufen. Gehen Sie zurück auf den schon von Ihnen zitierten Ersten Weltkrieg. Ein Kaiser Wilhelm sah sich als Kaiser von Gottes Gnaden berufen, das Volk zu den Waffen zu rufen.
"Eine fatale Wirkung dieses Textes"
Also, mit diesem Text ist sehr viel Missbrauch getrieben worden. Wenn Sie den ersten Vers in der Lutherübersetzung auf sich wirken lassen, "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat", dann können Sie eigentlich nur noch die Hacken zusammenschlagen und tun, was der König sagt. Und das ist eine fatale Wirkung dieses Textes gewesen. Diese Wirkung können wir so nicht stehenlassen, und deshalb ist es wichtig, diesen geschichtswirksamen Text gründlich zu lesen und zu verstehen, was denn vor 2000 Jahren der Apostel einer kleinen Minderheit – also, die Christen waren ja auch im Judentum nur eine Minderheit seinerzeit – nun eigentlich sagen wollte.
Er wollte nicht den Kaisern und Königen einen Freibrief ausstellen, sondern er wollte in den christlichen Gemeinden einen hilfreichen Rat geben, wie man etwa mit den Liktoren, Zöllnern und Steuereintreibern an den Stadttoren im römischen Imperium, wie man sich da eigentlich verhalten solle. Und da sagte er: Lasst euch da nicht auf Streitereien ein. Seht zu, dass ihr da einigermaßen ordentlich durchkommt. Wir haben eine ganz andere Aufgabe als uns jetzt mit dem Imperium herumzuschlagen. Wir wollen Gemeinden der Liebe und der Barmherzigkeit gründen.
Und deshalb ist diese Gewichtung so wichtig, sich deutlich zu machen, dass die Kirche nicht in erster Linie ein politisches Amt, sondern ein geistliches Amt zu vertreten hat. Zu diesem geistlichen Amt gehören dann natürlich auch politische Aspekte. Und die wurden dann natürlich erst besonders virulent, als das Christentum größer und mächtiger wurde.
"Keine illusionäre Fantasterei"
Röther: Das heißt, Sie beziehen sich nur auf Römer 13, weil der so oft herangezogen wurde, dieser Brief, und eben aus Ihrer Sicht falsch argumentativ verwendet wurde. Und da müssen Sie jetzt sozusagen gegenargumentieren?
Von Schubert: Ja, das ist der eine Grund. Und der andere ist: Ich habe gar nicht so viele andere Referenzmöglichkeiten. Wenn wir das Neue Testament als Gründungsurkunde des Christentums betrachten, auch in seiner Loslösung vom Judentum, dann stellen wir fest, dass es neben einigen versprengten Jesusworten und natürlich auch impliziten politischen Aussagen nur eigentlich einen einzigen explizit politischen Text im gesamten Neuen Testament gibt. Und das sind die berühmten sieben Verse zu Anfang des 13. Kapitels dieses einen apostolischen Briefes. Und da der ein solches enormes Gewicht hat im Gesamt des Neuen Testamentes, muss er sehr sorgfältig ausgelegt werden.
Röther: Es gibt ja nun aber auch einige andere Stellen im Neuen Testament, auf die sich Menschen berufen, um daraus politisches Handeln zu legitimieren. Der christliche Pazifismus gerade beruft sich gerne auf die Bergpredigt. Also, der "radikale Pazifismus", wie Sie das auch bezeichnen, der eben sagt, in der Bergpredigt heißt es, wenn dich einer auf die eine Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und Sie sagen jetzt, so kann man eigentlich nicht argumentieren in der realen Welt.
Von Schubert: Doch, natürlich. Also, das würde ich jetzt sagen, das ist jetzt keine illusionäre Fantasterei, die in der Bergpredigt da zum Vorschlag gebracht wird, sondern es ist eine Handlungsanweisung für jeden, der sich davon berühren lassen möchte.
"Jesus tritt nicht als politischer Aktivist auf"
Aber Jesus tritt nicht als politischer Aktivist auf. Er ist auch kein Rechtsberater. Er ist auch kein Politiker, sondern er gibt den Menschen, die am unteren Ende der Gesellschaft leben, eine Perspektive, wie sie selbst dort noch stolz sein können, mit aufrechtem Gang gewissermaßen den Widrigkeiten entgegentreten können. Und deshalb sagt er ihnen: Liebet eure Feinde. Und nichts anderes sagt Paulus. Ein paar Verse vor unserem 13. Kapitel – im Kapitel 12 – lesen Sie ein Zitat aus dem Alten Testament: Wenn dein Feind hungert, so speise ihn. Wenn ihn dürstet, so gib ihm zu trinken. Also ganz nah an dem Gebot der Feindesliebe aus der Bergpredigt.
Also, wir können nicht den Paulus des Römerbriefes gegen den Jesus der Bergpredigt in Stellung bringen, sondern beide haben den Frieden im Blick. Wenn ich das Kapitel 13 nehme, dann habe ich eine Maxime, die lautet: Frieden durch Recht. Frieden durch staatliche Ordnung. Und die andere Richtung wäre: Frieden durch Barmherzigkeit. Frieden durch Verzeihung. Frieden durch Vergebung. Das sind zwei verschiedene Sphären. Da können wir dann auch gerne dazu sagen: eine Zwei-Regimenten- oder Zwei-Reiche-Lehre. Und das ist in der Theologiegeschichte eigentlich immer eine gute Idee gewesen, sich in dieser Spannung zu bewegen und zu orientieren.
Röther: Also, Paulus ist eher der Realpolitiker, mit dem man heute auch noch arbeiten kann?
Von Schubert: In seinen sieben Versen. Ja, da wird er plötzlich sehr pragmatisch, auch sehr knapp. Sie merken das sogar schon im Ton, den er da anschlägt. Vorher ist er eher väterlich. Und dann in diesen sieben Versen wird er sehr knapp, sehr pointiert.
"Was würde Jesus sagen zum Marineeinsatz?"
Seine Sorge ist nicht das Schicksal von Korinth oder von Ephesus, also, die Städte, die er durchwandert hat. Da hat er sich jetzt nicht besonders Sorgen gemacht, ob da die Kanalisation oder die Stadtmauern funktionieren und die Häfen noch schiffbar sind. Paulus war nicht an den politischen Fragen der hellenistischen Städte orientiert, durch die er gewandert ist. Er wollte dort Gemeinden gründen. Er wollte dort Christen finden und Menschen für Christus gewinnen und damit für einen Auftrag, der weit über das Politische hinausgeht, aber es umfasst, also nicht unpolitisch ist, aber deutlich weit über das Staatspolitische auf jeden Fall hinausgeht.
Röther: Sie sagen in Ihrem Essay auch, dass es absolut nicht ausreicht, in die Bibel zu schauen und da dann Antworten auf heutige Fragen zu finden. Sondern Sie machen einen deutlich breiteren Blick auf die Geistes- und Ideengeschichte, die politische Ideengeschichte auf, um da zu Antworten zu kommen. Sie sagen aber auch, dass es in kirchlichen Kreisen oftmals so ist, dass man ein Bibelwort hernimmt und dann meint, man hätte da jetzt die Antwort auf heutige Fragen gefunden. Müssen also im Prinzip auch Sie mit der Bibel argumentieren, wenn Sie innerkirchlich was erreichen wollen?
Von Schubert: Ja, natürlich hat die Bibel einen grundlegenden Stellenwert in jeder unserer Argumentationen, wenn wir theologisch, kirchlich, geistlich argumentieren. Aber was nicht geht, ist der umstandslose Sprung, jetzt, ich sage mal, nach dem Motto: Was würde Jesus sagen zum Marineeinsatz an der Straße von Hormus?
Röther: Ja, gut, dass ich Sie das nicht gefragt habe.
Von Schubert: Genau. Also, das wäre eine Frage, wo man sagen könnte, Jesus wird sich dazu wahrscheinlich einfach schlicht nicht geäußert haben, weil er davon nichts verstanden hätte. Das heißt, es gibt eine Fülle von Kettengliedern in der Argumentationskette vom Gebot der Bergpredigt bis zu der Frage: Wie reagieren wir auf die Bedrohung internationaler Handelswege?
"Der Glaube bahnt der Vernunft den Weg"
Und irgendwo auf diesem weiten Weg werden wir mit dem Völkerrecht zum Beispiel konfrontiert. Weder Jesus von Nazareth noch Paulus von Tarsus hatten eine Vorstellung von modernem Völkerrecht. Das heißt, wir müssen ideengeschichtlich und sorgfältig mit großer Kenntnis der verschiedenen Stationen, durch die politische Philosophie, durch das Völkerrecht hindurcharbeiten und werden dann zu vernünftigen Lösungen kommen. Der Glaube bahnt der Vernunft den Weg, aber er kann die Vernunft nicht darin entlasten, diesen Weg dann selbst zu gehen.
Röther: Hier ist der Deutschlandfunk, die Sendung "Tag für Tag" im Gespräch mit dem evangelischen Theologen Hartwig von Schubert. Herr von Schubert, vielleicht schauen wir noch mal aus einer anderen Richtung auf das Thema. Sie sind ja Militärdekan an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Da wollte ich noch mal fragen: Was bedeutet das eigentlich genau? Was machen Sie da?
Von Schubert: Ich bin Seelsorger. Also, meine primäre Aufgabe ist, Kirche zu den Soldaten zu bringen. Die klassische Problematik des Soldaten ist, er steht im Feld, er kann nicht in die Kirche gehen. Also sagen wir, dann kommen wir als Kirche zu ihnen. Das heißt, wir begleiten die Männer und Frauen in der Bundeswehr in den Feldlagern, auf den Schiffen, in den Kasernen und bieten dort Gottesdienste an, machen Andachten, stehen für Gespräche zur Verfügung.
"Was haben wir eigentlich am Hindukusch verloren?"
Und ein ganz wichtiger Teil natürlich an den Schulen der Bundeswehr – dazu gehört auch die Führungsakademie – ist der Unterricht. Das ist eine etwas altertümliche Bezeichnung – Lebenskundlicher Unterricht, den wir da anbieten. Aber das ermöglicht uns einen großen Spielraum. Wir verhandeln dann mit den Soldatinnen und Soldaten, die zu uns in den Unterricht kommen, vorher schon über das Thema. Und dann versuchen wir vor allem die ethischen Fragen herauszuarbeiten, aber auch persönliche Fragestellungen in bestimmten Zusammenhängen, also etwa Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber natürlich werden auch Fragen aufgeworfen wie die, die Sie gestellt haben. Also: Was haben wir eigentlich am Hindukusch verloren? Wieso engagiert sich die deutsche Marine am Horn von Afrika? Oder was ist mit der Digitalisierung? Welchen Einfluss hat künstliche Intelligenz auf militärische Operationen?
Und dann versuchen wir, einen Raum zu schaffen, in dem wir dann gut informiert, kenntnisreich – die Leute bringen ja alle sehr viel auch mit, das sind ja alles Fachleute – in einem geschützten Raum, auch mal unter Abwesenheit der Vorgesetzten kritisch miteinander solche Fragen zu bearbeiten. Das ist unsere Aufgabe.
Röther: Ich habe mir noch eine weitere Frage ausgedacht, eine vielleicht ein bisschen naive, eine fiktive vermutlich in jedem Fall. Aber mal angenommen es kommt ein christlicher Soldat zu Ihnen und sucht Rat und sagt: Mein Feind hat mich auf die rechte Wange geschlagen, was soll ich jetzt machen? Was raten Sie dann?
Von Schubert: Also, wenn das ein Kamerad ist, dieser Feind, dann würde ich sagen: Dann halte ihm doch mal die linke hin. Also, probiere es doch wirklich mal mit diesem ganz praktischen Rat. Verblüffe ihn mit einer unerwarteten Reaktion. Also, Mobbing in Kasernen gibt es. Natürlich gibt es das. Ja, und dann wäre das zum Beispiel so ein Ratschlag zu sagen: Lege den Konflikt offen. Wir verstehen uns offensichtlich nicht. Die Kameradschaft funktioniert nicht in einer Einheit. So, das würde man dann möglicherweise in dieser persönlichen Auseinandersetzung als Ratschlag geben.
"Jesus befindet sich nicht in einem militärischen Gefecht"
Wenn Sie den Kreis weiterziehen und Sie sagen, wir sind in einer militärischen Operation und wir geraten unter Beschuss, ja, dann würde ich sagen, dann ist dieser Ratschlag fehl am Platze. Ja, wer dann aus der Deckung rausgeht und sich sozusagen dem Feind vielleicht mit dem Versuch, ihn zu verblüffen, unbewaffnet nähert, wird eine geringe Lebenserwartung haben.
Röther: Das heißt, da müssen Sie Jesus widersprechen?
Von Schubert: Nein. Ich werde ihm nicht widersprechen, sondern ich werde - ich muss doch den Kontext beachten. Jesus spricht doch in der Rede auf dem Berg - befindet sich nicht in einem militärischen Gefecht. Also, das wäre eine grobe Verzeichnung, den Kontext der Bergpredigt völlig außer Acht zu lassen und zu sagen, unter allen denkbaren Umständen, unter allen auch waltenden - also, ich sage mal, auch im Geschäftsleben, ja, wenn mich jemand um 100 Euro betrügt, dann gebe ich ihm noch 200 Euro hinterher. Verstehen Sie? Der Kontext muss doch offengelegt werden. Möglicherweise werde ich, wenn ich betrogen worden bin, erst mal sagen: Ich bin betrogen worden. Und vielleicht werde ich einen Rechtsanwalt einschalten. Und vielleicht werde ich um eine Vermittlung bitten. Und vielleicht wird sich herausstellen, dass der andere das vielleicht gar nicht gemerkt hat. Und dann wird er sagen: Oh, das tut mir leid. Das wollte ich gar nicht.
Also, es gibt doch eine Fülle von Bearbeitungsmöglichkeiten eines Konfliktes. Und das, was Jesus sagt, bringt auf die Spitze die Möglichkeit, in der Großzügigkeit des Schöpfers auf diese Schöpfung zuzugehen, also aus Reserven zu leben, die wir uns möglicherweise gar nicht zutrauen. Also, Jesus traut uns ja Reserven zu, die wir uns selber eher nicht zutrauen. Also, wer hat schon das Zeug, mitten in einer Konfliktsituation plötzlich den Kontext zu verlassen und zu sagen: Pass mal auf, wir können das jetzt weiter eskalieren und meinetwegen dann eskaliere Du es jetzt weiter. Ich werde es auf jeden Fall nicht mehr machen. Ich bin nicht mehr bereit, weiter zu eskalieren. Das ist eine ganz, ganz wichtige Fragestellung, die sich dann natürlich auch ins Politische hinein übersetzt.
"Wir sind nicht bereit, weiter zu eskalieren"
Wir hatten neulich eine Tagung in Loccum zur Frage der nuklearen Wiederaufrüstung, die wir jetzt ja allenthalben erleben. Auch da ist völlig klar, wir geraten in der Konkurrenz der Nuklearmächte an Punkte, wo völlig klar ist, dass die Sache nur gelöst werden kann, wenn es Mächte gibt, die sagen, wir eskalieren nicht weiter, wir sind nicht bereit, weiter zu eskalieren. Also, was seinerzeit in Reykjavik passiert ist zwischen Reagan und Gorbatschow, war ein solcher Moment. Das heißt, das findet auch in der Politik statt, ja, dass zwei wichtige politische Führer gemeinsam sagen, wir eskalieren nicht, im Gegenteil, wir deeskalieren ab jetzt.
Und wir stehen wieder in der Situation, dass wir den Mut brauchen, im Bereich etwa der nuklearen Wiederaufrüstung, Stopp zu sagen und uns aus dem Teufelskreis der Eskalation wieder rauszubewegen. Und dafür ist Jesus die wirklich welthistorisch große Stimme. Ich wüsste nicht, wer vorher oder andernorts diesen gewaltigen Satz so gesagt haben sollte: Liebet eure Feinde.
Röther: Mir fallen aber auch noch weitere Argumente gegen eine Übertragung der Bergpredigt ein. Also, Sie haben da gerade gute Argumente, finde ich, dafür gebracht, wie das in der Diplomatie und in der internationalen Politik funktionieren kann. Wenn jetzt aber das Christentum sich immer daran gehalten hätte und immer die andere Wange hingehalten, gerade die junge christliche Gemeinde, die verfolgt war und ums Überleben kämpfen musste, weil sie eben noch keine politische Macht, kein Standing hatte, ja, dann wäre das Christentum wahrscheinlich ziemlich schnell wieder verschwunden, wenn es eben immer die andere Wange hingehalten hätte. Oder?
Von Schubert: Also, dazu ist doch die Unterscheidung zwischen Kirche und Staat wirklich ganz entscheidend. Also, der Staat, in dem die Christen leben, der kann nicht dulden, dass seine Bürger nur darin einen Ausweg finden, dass sie die andere Wange hinhalten. Der Staat, in dem die Christen leben, ist angewiesen, mit auch der Staatsgewalt – ja, ich zitiere Artikel 20 unseres Grundgesetztes, "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" - also, auch mit der Zwangsgewalt der staatlichen Ordnung dafür zu sorgen, dass Menschen nicht geschlagen werden, dass sie nicht übervorteilt werden, dass sie nicht vergewaltigt werden, dass sie nicht ausgebeutet werden.
Die Bergpredigt nicht "zur Grundlage der Staatsordnung" machen
Sie können doch nicht einer Frau, die vergewaltigt wird, sagen: Dann lass dich noch mal vergewaltigen. Ja, dann muss doch eine staatliche Ordnung dafür sorgen, dass Schluss gemacht wird mit dem Vergewaltigen, mit dem Missbrauch, mit der Ausbeutung. Also, der Staat ist nicht gut beraten, wenn er die Bergpredigt zur Grundlage seiner Staatsordnung erhebt. So ist sie auch nicht gemeint. Das ist nicht ihr Kontext.
Röther: Und die Aufgabe der Kirche ist dann – um das noch mal zusammenzufassen aus Ihrer Sicht – solidarisch zum Staat zu stehen und zu dessen Gewaltmonopol und Gewaltanwendung?
Von Schubert: Genau, richtig. Und dann außerdem noch aus ihren eigenen Reserven zu leben, aus denen der Staat so nicht schöpfen kann.
Röther: Der evangelische Theologe Hartwig von Schubert im Deutschlandfunk. Er ist Militärdekan an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und hat ein Buch veröffentlicht in der Evangelischen Verlagsanstalt. Es heißt "Pflugscharen und Schwerter: Plädoyer für eine realistische Friedensethik". Man sollte immer genug Schwerter im Schrank haben, heißt es darin. Herr von Schubert, vielen Dank für das Gespräch.
Von Schubert: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.